Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 IA 47



110 Ia 47

7. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
11. April 1984 i.S. Bucher und Mitbet. gegen Grosser Rat des Kantons
Thurgau (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 55 BV und Meinungsäusserungsfreiheit; Verteilen von
Propagandamaterial.

    Es verstösst nicht gegen die Verfassung, das Verteilen von
Propagandamaterial an die Ratsmitglieder unmittelbar vor dem Eingang des
Sitzungsgebäudes der Bewilligungspflicht zu unterstellen.

Sachverhalt

    A.- Der Grosse Rat des Kantons Thurgau stimmte im August 1983 einer
neuen Geschäftsordnung zu, die in § 17 folgende Vorschrift über die
Verteilung von Propagandamaterial enthält:

    "Wer an die Ratsmitglieder vor, während oder nach einer Sitzung im

    Sitzungsgebäude oder unmittelbar vor dessen Eingang Material,
insbesondere

    Schriftstücke, verteilen oder verteilen lassen will, bedarf hiefür
einer
   vorherigen Bewilligung des Präsidenten."

    Peter Bucher und fünf weitere Mitunterzeichner haben diese Bestimmung
mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 und 55
BV sowie der Meinungsäusserungsfreiheit angefochten und verlangt, dass
der Passus "oder unmittelbar vor dessen Eingang" aufgehoben werde. Das
Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Die Beschwerdeführer bestreiten sinngemäss das öffentliche
Interesse an der angefochtenen Bestimmung sowie deren Verhältnismässigkeit
und machen mit Hinweis auf die Rechtsprechung geltend, es sei
verfassungswidrig, für das kostenlose Verteilen von Propagandamaterial mit
ideellem Zweck auf öffentlichem Grund und Boden eine Bewilligungspflicht
einzuführen.

    Zunächst ist festzuhalten, dass es im vorliegenden Fall nicht darum
geht, generell das Verteilen von Propagandamaterial auf öffentlichem
Grund der Bewilligungspflicht zu unterstellen; geregelt werden soll auch
nicht die Propagandatätigkeit vor dem Ratsgebäude allgemein, sondern nur
das Verteilen von Material unmittelbar vor dessen Eingang vor, während
und nach einer Sitzung. Die in BGE 96 I 588 ff. angestellten Erwägungen
können hier daher nicht übernommen werden. - Zudem ist fraglich, ob durch
die angefochtene Bestimmung überhaupt in den Gemeingebrauch eingegriffen
werde, da nach den Darlegungen des Grossen Rates an beiden Sitzungsorten,
Frauenfeld und Weinfelden, der Boden unmittelbar vor dem Rathauseingang
nicht zum öffentlichen Grund gehört. Die Frage kann indessen offenbleiben,
da sich die umstrittene Bewilligungspflicht auch dann als rechtmässig
erweist, wenn sie sich auf einige wenige Quadratmeter öffentlichen Grundes
erstrecken sollte.

    Es liegt im allgemeinen Interesse, dass der parlamentarische Betrieb
nicht gestört wird und die Ratsmitglieder ihrer Tätigkeit ungehindert
nachgehen können. Insbesondere sollen sich die Parlamentarier nicht
jederzeit, sei es im Sitzungsgebäude selbst, sei es unter dessen Tür, mit
Personen auseinandersetzen müssen, die Propagandamaterial verteilen. Dass
solche Verteilaktionen unmittelbar vor dem Eingang des Sitzungsgebäudes
zu Aufläufen und Behinderungen führen, muss zwar nicht die Regel sein,
ist aber nicht auszuschliessen. Die Einführung einer Bewilligungspflicht,
durch welche solche Aktionen und die damit verbundenen Störungen in
Grenzen gehalten werden können, entspricht daher entgegen der Meinung
der Beschwerdeführer einem sachlichen Bedürfnis. Das Bundesgericht hat
denn auch in einem nicht veröffentlichten Urteil das Verbot der Gemeinde
Yverdon, im Umkreis von 50 m von den Stimmlokalen Unterschriften zu
sammeln, geschützt in der Erwägung, die Stimmbürger hätten ein Recht
darauf, unbehelligt zum Stimmlokal zu gelangen und dieses zu verlassen
(Entscheid vom 18. Oktober 1983 i.S. Dolivo/Suri). Ebenso verstosse
es nicht gegen die Verfassung, Veranstaltungen auf öffentlichem Grund
während der Nachtstunden zu untersagen, da das Bedürfnis der Bürger nach
Ruhe höher einzustufen sei als das Interesse der politischen Gruppen
an nächtlichen Aktionen (BGE 107 Ia 301). Dass der hier zu beurteilende
Eingriff in die Freiheitsrechte wesentlich geringer ist, bedarf keiner
langen Erläuterungen. Das Verteilen von Propagandamaterial unmittelbar
vor dem Rathaus ist nicht verboten, sondern wird lediglich von einer
Bewilligung abhängig gemacht, die vom Grossratspräsidenten nicht nach
Belieben verweigert werden darf. Wer nicht um eine Bewilligung ersuchen
will, hat nichts anderes zu tun, als sich ein paar Meter weiter entfernt
vom Rathauseingang aufzustellen. Auch auf diese Weise kann der Bürger
an die Ratsmitglieder gelangen und sich ihnen gegenüber frei äussern,
wie das die Beschwerdeführer postulieren. Von einem unverhältnismässigen
Eingriff in die Grundrechte kann daher keine Rede sein.

    Schliesslich darf auch die Befürchtung, das Bewilligungsverfahren
lasse Vorprüfungen im Sinne einer Vorzensur erwarten, als unbegründet
betrachtet werden. Abgesehen davon, dass nicht nur das Verteilen von
Presseerzeugnissen, sondern auch von anderem Propagandamaterial unter
die angefochtene Vorschrift fällt, bieten sich andere Kriterien als der
Inhalt der zu verteilenden Schriftstücke für den Entscheid darüber an,
ob eine Verteilaktion im und unmittelbar vor dem Sitzungsgebäude für
den parlamentarischen Betrieb zu unzumutbaren Störungen führe. Die
Beschwerdeführer behaupten übrigens selbst nicht, dass die bisherige
Bewilligungspraxis (schon das alte Reglement des Grossen Rates enthielt
eine dem heutigen § 17 ähnliche Bestimmung) Anlass zu Beanstandungen der
genannten Art geboten habe.