Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 110 IA 156



110 Ia 156

33. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 14.
November 1984 i.S. D. gegen a.o. Generalprokurator und Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 202 Abs. 1 StrV-BE; Anspruch auf Entschädigung bei
Aufhebung eines Strafverfahrens.

    1. Die Anwaltskosten sind nach dem bernischen Strafverfahren dann zu
ersetzen, wenn der Angeschuldigte nach der Schwere des Tatvorwurfs und
nach seinen persönlichen Verhältnissen sowie nach der Komplexität des
Sachverhaltes objektiv begründeten Anlass hatte, einen Anwalt beizuziehen
(E. 1).

    2. Terminologische Klarstellung: notwendige und gebotene Verteidigung
(E. 1b).

Sachverhalt

    A.- Am 19. Juni 1983 ereignete sich in der Gemeinde Zollikofen ein
Verkehrsunfall; der auf der Kirchlindachstrasse in Richtung Oberlindach
mit seinem Personenwagen fahrende D. stiess mit einem von rechts aus dem
Starenweg einbiegenden Motorfahrrad zusammen. Dabei wurden der Führer
des Motorfahrrades und sein Mitfahrer so schwer verletzt, dass sie in
Spitalpflege gebracht werden mussten. Nach dem etwas später eingeholten
ärztlichen Bericht erlitten die beiden Verunfallten im medizinischen
Sinne schwere Verletzungen; für den Mitfahrer, bei dem u.a. eine
Schädelverletzung festgestellt wurde, liess sich etwa vier Wochen nach
dem Unfall die Gefahr eines bleibenden Nachteils nicht ausschliessen.

    D. wurde von der Kantonspolizei Bern beim Untersuchungsrichteramt
Bern verzeigt. Der Untersuchungsrichter überwies die Akten am 24. August
1983 im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland ohne
Voruntersuchung an den Einzelrichter von Bern zur Eröffnung eines
Strafverfahrens wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung im Sinne
von Art. 125 Abs. 2 StGB. Hiervon wurde D. am 26. August 1983 Kenntnis
gegeben. Dieser hatte am 23. August 1983 oder wenige Tage vorher einen
Fürsprecher in Bern mit der Wahrung seiner Interessen beauftragt. Der
Gerichtspräsident VIII von Bern zog von der Kantonspolizei einen
fotogrammetrischen Situationsplan über den Unfallhergang sowie zwei am
Unfallort erstellte fotografische Aufnahmen bei; ferner nahm er einen
vorläufigen Augenschein (ohne Beizug der Beteiligten) vor. Auf den 13.
Oktober 1983 wurden D. und sein Verteidiger zur Verhandlung vorgeladen. Am
gleichen Tage reichte der Fürsprecher dem Gericht eine detaillierte
Kostennote ein, wobei er ein Honorar von Fr. 600.-- und Fr. 34.50
für Barauslagen in Rechnung stellte. Am 2. November 1983 beschloss der
Gerichtspräsident VIII in Übereinstimmung mit der Staatsanwaltschaft, das
Strafverfahren gegen D. wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und
Verletzung von Verkehrsregeln aufzuheben, die Verfahrenskosten dem Staat
zu überbinden und dem Angeschuldigten eine Entschädigung von Fr. 250.--
auszurichten. Einen dagegen erhobenen Rekurs wies die Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Bern ab. Die gegen diesen Beschluss eingereichte
staatsrechtliche Beschwerde heisst das Bundesgericht gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 202 Abs. 1 des bernischen Gesetzes über das
Strafverfahren vom 20. Mai 1928 (StrV) ist im Aufhebungsbeschluss darüber
zu entscheiden, ob dem Angeschuldigten für die durch die Untersuchung
verursachten Nachteile, insbesondere im Fall der Festnahme und Verhaftung,
und für die Verteidigungskosten eine Entschädigung gebührt. Hierüber
wie auch über das Mass der Entschädigung ist nach Billigkeitsgründen
zu befinden. Das Bundesgericht hat schon wiederholt entschieden, es sei
vertretbar, wenn die bernischen Gerichte aufgrund dieser Bestimmung in
Übertretungsstrafsachen keine volle Parteientschädigung ausrichteten,
sofern der Beizug eines Vertreters von der Sache her nicht notwendig
gewesen sei. Es hielt dafür, es lasse sich mit guten Gründen erwägen,
dass den in Übertretungsstrafsachen auf dem Spiel stehenden Interessen
im allgemeinen kein besonderes Gewicht zukomme. Solche Fälle böten im
allgemeinen keine grösseren tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten,
und auch die möglichen Konsequenzen eines Schuldspruchs seien in der
Regel nicht sehr schwerwiegend. Es hänge von den Umständen des konkreten
Falles ab, ob in einer Übertretungsstrafsache die Verbeiständung durch
einen Anwalt notwendig sei oder nicht (nicht veröffentlichte Urteile vom
12. Juli 1982 i.S. S.B., vom 6. Januar 1983 i.S. F.Z. und vom 20. März
1984 i.S. J.-P.J.). Immerhin hat das Bundesgericht im erwähnten Urteil
vom 6. Januar 1983 die Übung, Anwaltsentschädigungen deshalb herabzusetzen,
weil der Beizug eines rechtskundigen Vertreters nicht absolut erforderlich
gewesen sei, als nicht unbedenklich bezeichnet; denn die Frage nach
der Notwendigkeit oder Zweckmässigkeit der Verteidigung und diejenige
nach der Höhe des auszurichtenden Honorars lägen auf verschiedenen
Ebenen. Ferner hat es im Urteil vom 20. März 1984 bemerkt, die Auffassung
des Obergerichts, wonach kein Anwalt erforderlich gewesen wäre, sei nicht
ohne weiteres einleuchtend, allerdings auch nicht geradezu unhaltbar. Die
Anklagekammer stützt sich auf diese Rechtsprechung sowie auf den in anderen
Urteilen enthaltenen Satz, der Bürger habe das durch die Notwendigkeit der
Verbrechensbekämpfung bedingte Risiko einer gegen ihn geführten, materiell
ungerechtfertigten Strafverfolgung bis zu einem gewissen Grade auf
sich zu nehmen; eine Entschädigungspflicht bestehe nicht schon für jeden
geringfügigen Nachteil (BGE 107 IV 157 E. 5). Sie lehnt es ausdrücklich ab,
die Anwendung dieser Grundsätze auf Fälle von Übertretungen zu beschränken,
da dies einen unbilligen Schematismus zur Folge hätte. Im weiteren legt
die Anklagekammer dar, der vorliegende Fall sei einfach gewesen. Sie
betrachtet daher den Beizug eines Verteidigers nicht als notwendig,
sondern lediglich als zweckmässig. Der Beschwerdeführer rügt diese
Erwägungen als willkürlich.

    b) Die Wendung, die Verteidigung sei hier "nicht notwendig" gewesen,
macht eine terminologische Klarstellung erforderlich. Der Begriff
"notwendige Verteidigung" hat im schweizerischen Strafprozessrecht einen
ganz bestimmten Sinn. Er wird dort verwendet, wo das Strafprozessrecht
verhindern will, dass ein Prozess durchgeführt wird, ohne dass -
als Gegengewicht zu dem die Anklage vertretenden Staatsanwalt - dem
Angeschuldigten ein Rechtskundiger als Verteidiger zur Seite gestellt wird
(ROBERT HAUSER, Kurzlehrbuch des schweizerischen Strafprozessrechtes,
2. Auflage, Basel 1984, S. 94; für das bernische Recht: Art. 41 StrV). In
solchen Fällen muss dem Angeschuldigten, der mittellos ist oder sich
weigert, einen Verteidiger zu bestellen, selbst gegen seinen Willen ein
solcher beigegeben werden. Es wäre indessen unhaltbar, diesen Begriff der
notwendigen Verteidigung auch bei der Auslegung von Art. 202 Abs. 1 StrV
heranzuziehen. Der vom Staat objektiv zu Unrecht Beschuldigte bliebe sonst
in einer grossen Anzahl von Fällen mittlerer Schwere entschädigungslos,
oder er hätte sich mit einer blossen Teilentschädigung für die Kosten
seiner Verteidigung zu begnügen. Aus dem von der Anklagekammer angeführten
neuesten bundesgerichtlichen Urteil BGE 109 Ia 239 ff. ergibt sich nichts
anderes. Es wird dort betont, dass die Frage nach der Notwendigkeit
der Verteidigung mit derjenigen nach ihrer Zulässigkeit nichts
gemeinsam habe. Weiter wurde angeführt, auch in Bagatellstrafsachen
dürfe ein freigewählter Verteidiger nicht ausgeschlossen werden,
doch ergebe sich hieraus kein Anspruch auf Kostenersatz im Falle des
Obsiegens. Dies bedeutet indessen keineswegs, dass in allen Fällen,
in denen die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung im Sinne der
herrschenden Lehre nicht vorliegen, bei Einstellung des Verfahrens oder
bei Freispruch auf die Ausrichtung einer Entschädigung verzichtet werden
darf. Die Billigkeit verlangt vielmehr, in solchen Fällen Ersatz der
Anwaltskosten dann zuzusprechen, wenn der Angeschuldigte nach der Schwere
des Tatvorwurfs und nach dem Grad der Komplexität des Sachverhaltes sowie
nach seinen persönlichen Verhältnissen objektiv begründeten Anlass hatte,
einen Anwalt beizuziehen. Dagegen verstösst die Verweigerung oder die
Herabsetzung der Entschädigung dann nicht gegen die Billigkeit, wenn der
Angeschuldigte den Anwalt ohne zureichende objektive Gründe beigezogen
hat, sei es beispielsweise aus Überängstlichkeit oder allein im Hinblick
auf die Regelung zivilrechtlicher Probleme. Die Anklagekammer scheint
übrigens grundsätzlich selbst dieser Auffassung zuzuneigen, wie sich
aus ihren Ausführungen zu den tatsächlichen Verhältnissen schliessen
lässt. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist es daher angezeigt,
bei der weiteren Erörterung der Sache den Begriff der "notwendigen
Verteidigung" zu vermeiden und lediglich danach zu fragen, ob die
Verteidigung "geboten" gewesen sei. Diese Klarstellung hat eine über das
rein Sprachliche hinausreichende Bedeutung, kann doch die Verwendung des
Ausdrucks "notwendig" eine sich an Art. 41 StrV anlehnende, restriktive
Auslegung von Art. 202 Abs. 1 StrV zur Folge haben, die, wie dargelegt,
dem Sinn des Gesetzes nicht entspräche.

    c) Die Anklagekammer führt in ihrem Entscheid aus, zwar sei die
Tat, für deren Verfolgung der Beschwerdeführer dem Einzelrichter
überwiesen wurde, ein Vergehen, also eine mit Gefängnis oder Busse
bedrohte Handlung; doch habe sich von Anfang an ausschliessen lassen,
dass im Falle eines Schuldspruchs eine Freiheitsstrafe ausgefällt werden
könnte. Aufgrund der Verhältnisse am Unfallort sei es naheliegend gewesen,
dass dem Beschwerdeführer höchstens ein leichtes Verschulden zur Last
gelegt werden würde. Die Einmündung des Starenwegs, aus dem die beiden
Jünglinge mit ihrem Mofa in die Kirchlindachstrasse einbogen, sei wegen
der Gartenzäune nicht zu erkennen. Die Kollision sei deshalb unvermeidlich
gewesen. Dass, wenn überhaupt, höchstens von einem leichten Verschulden
des Beschwerdeführers gesprochen werden könne, sei eine Überlegung, die
jeder Automobilist aufgrund elementarer Rechtskenntnisse habe anstellen
können. Tatsächlich sei denn auch das Verfahren nach der ersten Einvernahme
und den nötigen Abklärungen aufgehoben worden.

    Diese Erwägungen erscheinen deshalb als nicht haltbar, weil sie
von der Aktenlage ausgehen, wie sie sich nach Abschluss des Verfahrens
aufgrund der vollständigen Akten darstellt. Dieser Gesichtspunkt kann
aber nicht massgebend sein für die Beurteilung der Frage, ob der Beizug
eines Verteidigers für den Beschwerdeführer geboten gewesen sei oder
nicht. Schon allein der Umstand, dass die Kollision zwei Schwerverletzte
forderte, stellte für einen durchschnittlich gebildeten, über keine
besonderen Rechtskenntnisse verfügenden, gewissenhaften Automobilisten
Grund genug dar, einen Anwalt beizuziehen, und zwar nicht nur wegen
einer allfälligen zivilrechtlichen Auseinandersetzung, sondern auch
wegen des als unvermeidlich erscheinenden Strafverfahrens mit der
entsprechenden psychischen Belastung. Dazu kommt, dass die zuständigen
Behörden des Kantons Bern die Sachlage keineswegs von Anfang an als so
eindeutig betrachteten, wie diese sich nach dem angefochtenen Beschluss
der Anklagekammer dargestellt haben soll. Dies ergibt sich aus folgenden
Tatsachen:

    - Der Untersuchungsrichter zog nicht nur eine Übertretung des SVG
in Betracht, sondern eine fahrlässige schwere Körperverletzung im Sinne
von Art. 125 Abs. 2 StGB;

    - er beantragte nicht die Aufhebung des Verfahrens, sondern dessen
Überweisung an den für die Urteilsfällung zuständigen Einzelrichter
(Gerichtspräsidenten) von Bern;

    - die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland stimmte dieser Überweisung
bei;

    - der Gerichtspräsident leitete nicht bloss ein Strafmandatsverfahren
ein, sondern ordnete eine mündliche Abhörung im Sinne von Art. 226 StrV an;

    - er forderte einen fotogrammetrischen Plan sowie Fotografien der
Unfallstelle an;

    - er hielt es zudem für zweckmässig, von der Unfallstelle persönlich
einen Augenschein zu nehmen.

    Der Beschwerdeführer musste somit bis zur Aufhebung des Verfahrens den
Eindruck haben, er werde wegen eines nicht leicht zu nehmenden Vergehens
bestraft. Es dürfen ihm keinesfall Erkenntnisse zugemutet werden, über
die auch drei zuständige höhere Funktionäre der Rechtspflege am Anfang
offensichtlich nicht verfügten. Der Beschwerdeführer befand sich in
einer Lage, in der jeder durchschnittliche Motorfahrzeugführer einen
Anwalt beigezogen hätte. Die Herabsetzung der Entschädigung für die
Verteidigungskosten erscheint demnach als mit sachlichen Gründen nicht
vertretbar; sie verstösst gegen Art. 4 BV. Da der Honoraranspruch des
Anwalts bereits auf den strafrechtlichen Anteil des Falles beschränkt
wurde und ein Zeitaufwand von vier Stunden für die Strafsache allein
offensichtlich nicht übersetzt ist, wird die Anklagekammer in ihrem
neuen Entscheid lediglich noch zu prüfen haben, ob die Honorarnote dem
Tarif entspricht.