Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 V 258



109 V 258

45. Auszug aus dem Urteil vom 9. Dezember 1983 i.S. Triet gegen
Ausgleichskasse der graphischen und papierverarbeitenden Industrie der
Schweiz und Versicherungsgericht des Kantons Bern Regeste

    Art. 21 Abs. 1 Satz 2 IVG. Die in Art. 21 Abs. 1 Satz 2 IVG
genannten Hilfsmittel sind als wesentliche Ergänzung einer medizinischen
Eingliederungsmassnahme nicht nur einmalig, sondern so lange abzugeben
bzw. zu ersetzen, als damit das konkrete Eingliederungsziel (Ausübung der
Erwerbstätigkeit oder Tätigkeit im Aufgabenbereich, Schulung, Ausbildung,
funktionelle Angewöhnung) erreicht bzw. sichergestellt werden kann
(Bestätigung der Rechtsprechung; Erw. 3).

    Art. 54 Abs. 1 lit. f IVG. Die Praxis, wonach verwaltungsintern
vorgemerkte Termine zur Überprüfung des Anspruchs auf eine laufende
Invalidenrente dem Versicherten grundsätzlich nicht zu eröffnen sind,
gilt auch für periodisch abzugebende Hilfsmittel (Erw. 4).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 21 Abs. 1 Satz 2 IVG werden die Kosten für
Zahnprothesen, Brillen (bzw. Kontaktlinsen) und Schuheinlagen von der
Invalidenversicherung übernommen, wenn diese Hilfsmittel eine wesentliche
Ergänzung medizinischer Eingliederungsmassnahmen bilden.

    Nach Auffassung des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) kommt
dieser Bestimmung ein "ausgesprochener Ausnahmecharakter" zu, weshalb sie
"äusserst restriktiv zu handhaben" sei. Aus der Botschaft des Bundesrates
zum Entwurf eines Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom
24. Oktober 1958 und dem Bericht der Eidgenössischen Expertenkommission für
die Einführung der Invalidenversicherung vom 30. November 1956 ergebe sich,
dass eine übermässige finanzielle Belastung der Invalidenversicherung durch
die Abgabe "gewisser, sehr häufiger Hilfsmittel wie Zahnprothesen, Brillen
und Schuheinlagen" vermieden werden soll. Ausserdem sei schwer einzusehen,
dass den Staroperierten ein dauernder Anspruch auf optische Behelfe
zuzugestehen wäre, würde dies doch eine Privilegierung gegenüber andern
Brillen- und Kontaktlinsenträgern bedeuten, die nicht wegen einer Katarakt
auf dieses Hilfsmittel angewiesen sind und selber dafür aufkommen müssen.

    Der Argumentation des BSV kann nicht beigepflichtet werden. Insoweit
für die drei genannten Hilfsmittel in Satz 2 eine Einschränkung gegenüber
Satz 1 des Art. 21 Abs. 1 IVG gewollt ist, hat sie der Gesetzgeber
selber umschrieben, nämlich mit der Voraussetzung der "wesentlichen
Ergänzung medizinischer Eingliederungsmassnahmen". Diese Bestimmung ist
weder restriktiv noch extensiv auszulegen, sondern gemäss ihrem Sinn und
gemäss dem Zweck des Gesetzes. Eine Brille (bzw. Kontaktlinse) bildet
dann eine "wesentliche Ergänzung" der (invalidenversicherungspflichtigen)
Kataraktoperation, wenn mit dieser letzteren allein der angestrebte
Eingliederungserfolg nicht zu erreichen ist. In diesem Sinne wurde im
Urteil Keck vom 4. März 1964 (ZAK 1964 S. 266) ausgeführt, dass erst die
Verbindung von Operation und Brille das Sehen gewährleiste. Die Verwaltung
bestreitet auch nicht, dass in einem solchen Fall das Hilfsmittel im
Anschluss an die Operation abzugeben ist. Mit dieser einmaligen Abgabe
kann es aber nicht sein Bewenden haben, denn die Kataraktoperation als
medizinische Eingliederungsmassnahme soll nach Art. 12 Abs. 1 IVG die
Erwerbsfähigkeit "dauernd" verbessern. Das bedingt, dass das Hilfsmittel
ersetzt wird, wenn es defekt geworden ist oder angepasst werden muss. Diese
Leistungspflicht der Invalidenversicherung besteht so lange, als das
Hilfsmittel den Eingliederungszweck zu erreichen verspricht, d.h. bei
Erwerbstätigen praktisch so lange, als mit ihm die Arbeitsfähigkeit
erhalten werden kann.

    Das Eidg. Versicherungsgericht ging immer von dieser Betrachtungsweise
aus. Im Urteil Kisslig vom 25. August 1964 (ZAK 1965 S. 159 Erw. 2 in
fine) wurde ausdrücklich gesagt, die Starbrille bzw. die entsprechende
Kontaktlinse sei "zeitlich unbegrenzt" abzugeben. Diese Rechtsprechung
wurde allerdings nicht weiter begründet und erläutert; sie galt
offensichtlich als selbstverständlich. In zahlreichen weiteren Urteilen,
in denen es um den Ersatz einer (defekt oder unbrauchbar gewordenen)
Brille ging, wurde jene Rechtslage als gegeben vorausgesetzt. Es finden
sich Formulierungen wie "Abgabe bzw. Ersatz" (ZAK 1965 S. 158, 1964 S. 266)
oder "weiterhin Anspruch" auf Abgabe der Brille (nicht veröffentlichtes
Urteil Reck vom 17. Mai 1982). Nie wurde der Ersatz einer vorhandenen
Brille mit der Begründung verweigert, die Invalidenversicherung gebe dieses
Hilfsmittel nur einmalig ab. Im übrigen erweist sich die aufgrund der
gesetzlichen Regelung bestehende Besserstellung des an einer Katarakt
leidenden Versicherten, der von der Invalidenversicherung, soweit
notwendig, mehrmals eine Starbrille (bzw. entsprechende Kontaktlinsen)
erhält, gegenüber den anderen Versicherten, die eine gewöhnliche
Brille tragen müssen, entgegen der Auffassung des BSV nicht als
Rechtsungleichheit.

    Zusammenfassend ist somit an der konstanten Praxis festzuhalten,
wonach die in Satz 2 des Art. 21 Abs. 1 IVG genannten Hilfsmittel
so lange abzugeben bzw. zu ersetzen sind, als sie die medizinische
Eingliederungsmassnahme notwendigerweise und wesentlich ergänzen,
damit das konkrete Eingliederungsziel (Ausübung der Erwerbstätigkeit
oder Tätigkeit im Aufgabenbereich, Schulung, Ausbildung, funktionelle
Angewöhnung) erreicht bzw. sichergestellt werden kann.

Erwägung 4

    4.- Eine andere Frage ist es, ob die Verwaltung die Leistungsdauer
aus rein administrativen Gründen zeitlich begrenzen darf, um bei
Ablauf der Befristung eine Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen
vornehmen zu können. In diesem Sinne - und nicht als sachliche
Begrenzung des Leistungsanspruches - soll nach den Vernehmlassungen der
Invalidenversicherungs-Kommission zuhanden der Vorinstanz (vom 21. Januar
1983) und des BSV (vom 11. Juli 1983) die Befristung auf den 31. Juli
1983 in der Verfügung vom 1. November 1982 zu verstehen sein.

    Die Verwaltung hat die Anspruchsvoraussetzungen bei Dauerleistungen
unbestrittenermassen periodisch zu überprüfen. Bei den Renten erfolgt
zu diesem Zweck ein verwaltungsinterner Revisionsvermerk, welcher dem
Versicherten nicht mitzuteilen ist (BGE 99 V 103 Erw. 2). Diese Regelung
gilt auch für andere Leistungen wie periodisch abzugebende Hilfsmittel, wie
die Vorinstanz zu Recht ausführt. Wenn in Rz. 183.10 des Kreisschreibens
über das Verfahren, gültig ab 1. Januar 1983, vorgeschrieben wird, alle
Beschlüsse über Eingliederungsmassnahmen seien zu befristen, so hat dies
mit dem vorliegenden Problem nichts zu tun, weil sich diese Weisung an
die Invalidenversicherungs-Kommission richtet (Kapitel "A. Beschluss der
Invalidenversicherungs-Kommission") und damit nicht festgelegt wird, ob
der Befristungsbeschluss der Invalidenversicherungs-Kommission von der
Ausgleichskasse in die Verfügung aufzunehmen oder aber verwaltungsintern
vorzumerken ist. Die dem Versicherten bekanntgegebene Befristung erweist
sich daher als unzulässig.

    Vorbehalten bleiben die Fälle, in denen eine (unter Umständen
vorläufige) Befristung der Dauerleistung von der Sache her gerechtfertigt
ist und der Versicherte sogar ein Interesse an der Bekanntgabe der
vorgesehenen Leistungsdauer hat, wie z.B. bei schulischen und beruflichen
Eingliederungsmassnahmen oder bei Physiotherapie gemäss dem ärztlichen
Therapieplan.