Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 V 150



109 V 150

29. Urteil vom 30. August 1983 i.S. Mathys gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Bern
Regeste

    Art. 98 Abs. 3 KUVG: Kürzung der Versicherungsleistungen wegen
Nichttragens der Sicherheitsgurten.

    - Schutzwirkung der Sicherheitsgurten.

    - Aufgrund der wissenschaftlich gesicherten Erfahrungen mit
Sicherheitsgurten ist der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem
Nichttragen der Gurten und den erlittenen Verletzungen im Regelfall als
gegeben zu betrachten.

Sachverhalt

    A.- Der bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA)
versicherte Heinz Mathys, geboren 1954, fuhr am 29. Juni 1978 abends mit
seinem Wagen von Subingen in Richtung Etziken. Aus der Gegenrichtung
näherten sich zur gleichen Zeit drei Fahrzeuge, von denen die beiden
letzten zum Überholen des ersten ansetzten. Als der zweite Überholer sich
auf der Höhe des zu Überholenden befand, sah er plötzlich den über eine
Strassenkuppe auftauchenden Wagen des Versicherten. Während der erste
Überholer sein Manöver beenden konnte, gelang dies dem zweiten nicht mehr;
er leitete eine Vollbremsung ein und lenkte sein Fahrzeug knapp vor dem
Überholten auf die rechte Fahrspur zurück. Es geriet jedoch ins Schleudern
und gelangte auf die Gegenfahrbahn, wo es zu einem frontal-seitlichen
Zusammenstoss mit dem korrekt entgegenkommenden Wagen des Versicherten kam.
Dabei wurde das Fahrzeug des Unfallverursachers um die eigene Achse
gedreht und auf seine Fahrbahn zurückgeworfen, während der Wagen des
Versicherten nach rechts ins angrenzende Feld geschleudert wurde. Gemäss
Aussagen der Beteiligten sollen der Versicherte mit ca. 90 km/h und der
Unfallverursacher mit ca. 100 km/h gefahren sein. Der Versicherte hatte
die in seinem Wagen vorhandenen 3-Punkt-Automatic-Sicherheitsgurten
nicht getragen. Er erlitt beim Zusammenstoss eine Commotio
cerebri, eine Thoraxkontusion, eine Kniekontusion sowie eine innere
Mundschleimhautverletzung der Oberlippe und Umschlagfalte oben mit
Perforation in der Nase (Arztbericht Dr. A. vom 7. Juli 1978). Vom 29.
Juni bis 6. Juli 1978 war der Versicherte hospitalisiert. Bis 16. Juli 1978
bestand volle, danach bis 3. September 1978 hälftige Arbeitsunfähigkeit;
am 4. September 1978 nahm er die Arbeit wieder voll auf.

    Mit Verfügung vom 6. Dezember 1978 kürzte die SUVA ihre Leistungen
um 10%. Dazu führte sie aus, beim Tragen der Sicherheitsgurten wären die
Verletzungen aus ärztlicher Sicht zumindest weniger schwer ausgefallen;
deshalb treffe den Versicherten ein grobes Verschulden an den Unfallfolgen.

    B.- Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht
des Kantons Bern mit Entscheid vom 20. Dezember 1979 ab.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Versicherte beantragen,
es seien Verfügung und vorinstanzlicher Entscheid aufzuheben und die
Versicherungsleistungen in voller Höhe zu erbringen. Die SUVA schliesst
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 98 Abs. 3 KUVG werden die Versicherungsleistungen
nach Massgabe des Verschuldens gekürzt, wenn der Versicherte den Unfall
grobfahrlässig herbeigeführt hat. Nach ständiger Rechtsprechung handelt
grobfahrlässig, wer jene elementaren Vorsichtsgebote unbeachtet lässt,
die jeder verständige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen
Umständen befolgt hätte, um eine nach dem natürlichen Lauf der Dinge
voraussehbare Schädigung zu vermeiden (BGE 104 V 38 Erw. 1, 102 V 25
Erw. 1, 97 V 212 Erw. 2 mit Hinweisen).

    Wie das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil Ticozzi vom 8. März 1978
(BGE 104 V 36 = Pra 67 Nr. 252) entschieden und seither mehrmals bestätigt
hat (nicht veröffentlichte Urteile Stöckli vom 26. Mai 1983, Vannay vom
14. August 1981 und Keiser vom 29. Oktober 1980 sowie die in BGE 107 V
241 nicht veröffentlichte Erw. 4 des Urteils H. vom 12. November 1981),
stellt das Nichttragen der Sicherheitsgurten grundsätzlich eine grobe
Fahrlässigkeit dar, welche eine Kürzung der Versicherungsleistungen
rechtfertigt, wenn zwischen einem solchen Verschulden und dem
Unfallereignis oder seinen Folgen ein adäquater Kausalzusammenhang besteht.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz führt in ihrem Entscheid aus, beim Tragen der
Sicherheitsgurten hätte der Beschwerdeführer mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit geringere Verletzungen erlitten. Jedenfalls bestünde
kein Grund zur Annahme, die wissenschaftlich belegten Vorteile des
Gurtentragens hätten sich hier nicht ausgewirkt. Zwar habe die Beifahrerin
ungefähr gleich lange wie der Beschwerdeführer an den Unfallfolgen
gelitten, obwohl sie die Gurten getragen habe. Daraus lasse sich aber
nichts für den Beschwerdeführer ableiten.

    Dagegen wendet der Beschwerdeführer ein, volle Schutzwirkung
könnten Sicherheitsgurten vor allem innerorts entfalten; mit zunehmender
Geschwindigkeit lasse sie jedoch rasch nach. Im vorliegenden Fall müsse
von einer hohen Kollisionsgeschwindigkeit ausgegangen werden. Die beim
Unfall erlittenen Verletzungen seien weitgehend gurtunabhängig und hätten
auch beim Tragen der Gurten auftreten können. Dies gelte insbesondere
für die Gehirnerschütterung, da die Gefahr von Kopfverletzungen trotz
Benützens der Gurten bei weitem noch nicht gebannt sei. Ein kausaler
Zusammenhang zwischen dem Nichttragen und den Verletzungen müsse darum
verneint werden. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass die angegurtete
Beifahrerin praktisch gleich schwere Verletzungen erlitten habe, obwohl
die verletzungshemmende Wirkung bei Passagiergurten im allgemeinen viel
höher sei als bei Fahrergurten.

Erwägung 3

    3.- a) Nach der Rechtsprechung hat ein Ereignis dann als adäquate
Ursache eines Erfolges zu gelten, wenn es nach dem gewöhnlichen Lauf der
Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung an sich geeignet ist, einen
Erfolg von der Art des eingetretenen herbeizuführen, der Eintritt dieses
Erfolges also durch das Ereignis allgemein als begünstigt erscheint. Dabei
braucht der Kausalzusammenhang nicht mit wissenschaftlicher Genauigkeit
nachgewiesen zu werden. Es muss vielmehr genügen, wenn der Richter in
Fällen, wo nach der Natur der Sache ein direkter Beweis sich nicht erheben
lässt, die Überzeugung gewinnt, dass die überwiegende Wahrscheinlichkeit
für einen bestimmten Kausalverlauf spricht. Dabei kommt es nicht auf die
subjektive, sondern auf die objektive Voraussehbarkeit an (BGE 107 II
272 Erw. 1b, 107 V 176 f., je mit Hinweisen).

    b) Wie das Eidg. Versicherungsgericht im (oben erwähnten) Urteil
Ticozzi ausgeführt hat, verhindern Sicherheitsgurten, dass angegurtete
Personen bei einer starken Negativbeschleunigung vom Sitz gehoben und mit
dem Kopf gegen die Windschutzscheibe und das Armaturenbrett geschleudert
werden. Somit vermögen sie die Gefahr von Verletzungen, die im Vergleich
zur Kollisionswucht unverhältnismässig schwer sein können, erheblich zu
verringern, wenn sich der Unfall bei mässiger Geschwindigkeit ereignet,
und grössere Sicherheit zu garantieren, wenn der Zusammenstoss bei hoher
Geschwindigkeit erfolgt; in solchen Fällen können namentlich die gewöhnlich
sehr schweren Folgen eines möglichen Hinausschleuderns aus dem Fahrzeug
verhütet werden (BGE 104 V 40).

    Zwar haben Untersuchungen ergeben, dass die Schutzwirkung von
Sicherheitsgurten bei mittleren und niedrigeren Geschwindigkeiten
grösser ist als bei höheren Geschwindigkeiten (Unfalluntersuchung
Sicherheitsgurten, EJPD Mai 1977, S. 19 und 71; F. WALZ, Unfalluntersuchung
Autoinsassen, EJPD März 1982, S. VII f.; BBl 1979 I 240). Daraus kann
jedoch nicht gefolgert werden, die Schutzwirkung entfalte sich vorwiegend
innerorts und gehe ausserorts allgemein so stark zurück, dass ein adäquater
Kausalzusammenhang zwischen dem Nichttragen der Gurten und den Unfallfolgen
in der Regel verneint werden müsse. So finden sich denn auch in den
erwähnten Unfalluntersuchungen über Autoinsassen und über Sicherheitsgurten
keine Hinweise dafür, dass die Schutzwirkung von Sicherheitsgurten bei
Ausserortsunfällen grundsätzlich anders beurteilt und insofern generell
zwischen Innerorts- und Ausserortsunfällen unterschieden werden muss. Es
wäre darum verfehlt zu glauben, angesichts der ausserorts allgemein
gefahrenen Geschwindigkeiten könne man auf das Tragen von Sicherheitsgurten
getrost verzichten, da von ihnen ja doch keine Schutzwirkung ausgehe,
der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Nichttragen der Gurten
und den Unfallfolgen darum verneint werden müsse und eine Kürzung der
Versicherungsleistungen somit nicht in Betracht kommen dürfe.

    Wie durch zahlreiche in- und ausländische Studien und Statistiken
überzeugend nachgewiesen ist, werden Autoinsassen durch richtig angelegte
Sicherheitsgurten wirksam geschützt, sei es dass Verletzungen überhaupt
vermieden werden, sei es dass die Verletzungen weniger schwer ausfallen
als beim Nichttragen der Gurten (Unfalluntersuchung Autoinsassen S. VII
und 53; Unfalluntersuchung Sicherheitsgurten S. 1, 98 und 153; BBl 1979
I 239 f., Entscheid der Europäischen Kommission für Menschenrechte vom
13. Dezember 1979, EuGRZ 1980 S. 170). Und zwar gilt dies praktisch für
alle Unfallsituationen, insbesondere aber für Frontalkollisionen, welche
den höchsten Traumatisierungsgrad aufweisen, sowie für Seitenkollisionen
und Überschläge (Unfalluntersuchung Autoinsassen S. VII und 41 ff.;
Unfalluntersuchung Sicherheitsgurten S. 67, 77 f., 83 ff. und 155 f.; BBl
1979 I 239 ff.). Aufgrund der wissenschaftlich gesicherten Erfahrungen
mit Sicherheitsgurten kann daher im Regelfall auch ohne aufwendige
unfalltechnische und -medizinische Untersuchungen mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass Sicherheitsgurten wirksam
gewesen wären und dass Verletzungen nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
nicht oder nicht im selben Ausmass entstanden wären. In diesem Sinne ist
der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem Nichttragen der Gurten und
den erlittenen Unfallfolgen als gegeben zu betrachten, soweit aufgrund
der besonderen Unfallverumständungen nicht das Gegenteil angenommen
werden muss.

    c) Im vorliegenden Fall spricht nichts gegen die vorinstanzliche
Feststellung, die Verletzungen des Beschwerdeführers wären beim Tragen
der Sicherheitsgurten kleiner ausgefallen.

    Was der Beschwerdeführer hinsichtlich der Geschwindigkeit seines
Autos im Kollisionszeitpunkt vorbringt, ist unbehelflich, da es darauf
nach dem Gesagten nicht ankommt.

    Am adäquaten Kausalzusammenhang vermag auch der Umstand nichts zu
ändern, dass die angegurtete Mitfahrerin ebenfalls Verletzungen davontrug
und daran, was die Dauer von Spitalaufenthalt und voller Arbeitsunfähigkeit
anbelangt, fast gleich lang litt wie der Beschwerdeführer. Mit Recht
erwähnt die Vorinstanz, dass die Verletzungen der Mitfahrerin anderer
Art waren und dass die Verletzungsanfälligkeit verschiedener Personen
nicht gleich ist. Rückschlüsse auf andere Personen sind darum nicht
möglich. Insbesondere kann aus den gurtspezifischen Verletzungen der
Mitfahrerin nicht abgeleitet werden, der Beschwerdeführer hätte beim Tragen
der Gurten ebenfalls solche Verletzungen erlitten und deren Schwere hätte
in etwa den tatsächlich davongetragenen entsprochen. Im übrigen wäre die
Mitfahrerin mit grosser Wahrscheinlichkeit wesentlich schwerer verletzt
worden, wenn sie nicht angegurtet gewesen wäre.

Erwägung 4

    4.- Schliesslich bemängelt der Beschwerdeführer auch den Umfang der
vorgenommenen Kürzung. Zu Unrecht versucht er in diesem Punkt unter Hinweis
auf das Urteil Ticozzi ebenfalls einen Gegensatz zwischen Innerorts-
und Ausserortsunfällen zu konstruieren. Es besteht jedoch kein Anlass,
das Verschulden des Beschwerdeführers als weniger schwer zu betrachten
als im erwähnten Urteil. Im übrigen entspricht eine 10%ige Kürzung
der Versicherungsleistungen bei Grobfahrlässigkeit dem praxisgemässen
Kürzungsminimum (vgl. MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen
obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl., S. 319) und kann im
vorliegenden Fall nicht als zu hoch beanstandet werden.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.