Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 V 119



109 V 119

23. Urteil vom 25. März 1983 i.S. Ulrich gegen Ausgleichskasse des Kantons
Schwyz und Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz Regeste

    Art. 108 Abs. 2 und 132 OG. Wird eine Nichteintretensverfügung
der Verwaltung nach Art. 87 Abs. 4 IVV angefochten und in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein materieller Antrag gestellt, so umfasst
dieser auch das Begehren, die Verwaltung habe auf die Neuanmeldung
einzutreten (Erw. 1).

    Art. 85 Abs. 2 lit. h und 97 AHVG. Der Verwaltung ist es verwehrt,
in sinngemässer Anwendung der Grundsätze über die prozessuale Revision
auf eine frühere Verfügung zurückzukommen, wenn diese seinerzeit vom
Richter überprüft worden ist (Erw. 2b).

    Art. 87 Abs. 4 IVV. Diese Bestimmung gilt in analoger Weise auch für
Eingliederungsleistungen. Demnach ist, wenn eine Eingliederungsleistung
verweigert wurde, eine neue Anmeldung nur zu prüfen, wenn der Versicherte
glaubhaft macht, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in einer für
den Anspruch erheblichen Weise geändert haben (Erw. 3a).

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 22. Januar 1979 sprach die Ausgleichskasse des
Kantons Schwyz dem 1970 geborenen Michael Ulrich medizinische Massnahmen
zur Behandlung seines Geburtsgebrechens (kongenitale Amblyopie) zu. Am
27. März 1980 hob die Kasse diese Verfügung im Rahmen einer Wiedererwägung
mit sofortiger Wirkung auf. Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit rechtskräftigem Entscheid vom
17. September 1980 ab.

    Schon im Dezember 1980 wurde Michael Ulrich von seinem Vater erneut
bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet, wobei er -
wie bereits im November 1978 - ein seit Geburt bestehendes Augenleiden
angab. Am 17. Dezember 1980 verfügte die Ausgleichskasse, dass auf das
neue Gesuch nicht eingetreten werde.

    B.- Die gegen diese Verfügung eingereichte Beschwerde wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz mit Entscheid vom 19. Februar
1981 ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der
Versicherte beantragen, dass die Invalidenversicherung für die Behandlung
des Augenleidens aufzukommen habe. Die Ausgleichskasse enthält sich
eines Antrags, während das Bundesamt für Sozialversicherung sinngemäss
auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anträgt.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanz legt in ihrem Entscheid und auch in ihrer
Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde zutreffend dar,
dass es sich vorliegend bloss darum handeln kann, ob die Verwaltung
auf die Neuanmeldung vom Dezember 1980 hätte eintreten müssen oder
nicht. Obwohl die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sich ausschliesslich
mit der materiellen Seite des Streitfalles befasst, ist darin der Antrag
auf Eintreten als miteingeschlossen zu betrachten. Zu prüfen ist also,
ob die Verwaltung zu Recht auf das Leistungsbegehren nicht eintrat und ob
der die Kassenverfügung schützende Entscheid der Vorinstanz Rechtens ist,
wogegen das Eidg. Versicherungsgericht auf den materiellen Antrag nicht
eintreten kann (vgl. in diesem Zusammenhang BGE 105 V 94 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- a) Zunächst fragt sich, ob sich aus den Regeln über die
Wiedererwägung etwas für ein Eintreten auf die Neuanmeldung und mithin
für eine erneute materielle Prüfung ergibt.

    Nach der Rechtsprechung kann die Verwaltung eine formell rechtskräftige
Verwaltungsverfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher
Beurteilung gebildet hat, in Wiedererwägung ziehen, wenn sie zweifellos
unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE
107 V 84 Erw. 1, 181 Erw. 2a, 192); indessen kann die Verwaltung weder
vom Versicherten noch vom Richter dazu verhalten werden (BGE 107 V 84
Erw. 1, 106 V 79). Da der Beschwerdeführer demnach keinen gerichtlich
durchsetzbaren Anspruch auf Wiedererwägung der von ihm als unrichtig
behaupteten rechtskräftigen Verfügung vom 27. März 1980 geltend machen
kann, lässt sich allein schon aus diesem Grund unter dem Titel der
Wiedererwägung nichts zu seinen Gunsten ableiten. Hinzu kommt, dass die
genannte Verfügung seinerzeit vom kantonalen Richter hinsichtlich des
Anspruchs auf medizinische Massnahmen zur Geburtsgebrechensbehandlung
überprüft wurde (rechtskräftiger Entscheid des Verwaltungsgerichts des
Kantons Schwyz vom 17. September 1980). Im Hinblick auf die erwähnte
Rechtsprechung wäre die Verwaltung daher im vorliegenden Falle nicht
befugt gewesen, unter dem vom kantonalen Richter bereits beurteilten
Gesichtspunkt auf die Verfügung vom 27. März 1980 zurückzukommen.

    b) Ferner erhebt sich die Frage, ob im Hinblick auf prozessuale
Revisionsgründe auf die Neuanmeldung hätte eingetreten werden müssen. Dabei
ist zu prüfen, ob Gründe für eine Revision der Kassenverfügung vom 27. März
1980 gegeben sind.

    Gemäss ständiger Rechtsprechung ist die Verwaltung verpflichtet, auf
eine formell rechtskräftige Verfügung zurückzukommen, wenn neue Tatsachen
oder neue Beweismittel entdeckt werden, die geeignet sind, zu einer andern
rechtlichen Beurteilung zu führen (BGE 106 V 87 Erw. 1b, 102 V 17 Erw. 3a);
in diesem Sinne ist der kraft Art. 69 IVG in Invalidenversicherungssachen
anwendbare Art. 85 Abs. 2 lit. h AHVG über die Revision kantonaler
Entscheide auch für Verwaltungsverfügungen massgebend (EVGE 1963 S. 85
f., 212 f.). Abgesehen davon, dass die Verwaltung eine Verfügung nicht in
Revision ziehen darf, wenn sie - wie hier - vom Richter auf Beschwerde hin
überprüft wurde, muss festgehalten werden, dass eine derartige Revision
vorliegendenfalls auch schon deshalb nicht zulässig gewesen wäre, weil
mit der Neuanmeldung im Dezember 1980 weder neue Tatsachen noch neue
Beweismittel geltend gemacht wurden. Auch aus dieser Sicht lassen sich
die angefochtene Kassenverfügung und der vorinstanzliche Entscheid vom
19. Februar 1981 somit nicht beanstanden.

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen bleibt, ob die Verwaltung unter dem Gesichtspunkt der
Änderung des Sachverhaltes seit Erlass ihrer Verfügung vom 27. März 1980
eine Neuprüfung hätte vornehmen müssen.

    a) Das Invalidenversicherungsrecht enthält in Art. 41 IVG und Art. 86
ff. IVV verschiedene Vorschriften, welche die (materiellrechtliche)
Revision laufender Invalidenrenten und Hilflosenentschädigungen
wegen einer für den Anspruch erheblichen Änderung des Invaliditäts-
bzw. Hilflosigkeitsgrades regeln. Ferner wird in Art. 87 Abs. 4
IVV (mit Verweisung auf Abs. 3 dieses Artikels) für den Fall der
Verweigerung einer Rente bzw. Hilflosenentschädigung wegen eines
zu geringen Invaliditätsgrades oder wegen fehlender Hilflosigkeit
bestimmt, dass eine neue Anmeldung nur geprüft wird, wenn darin
eine für den Anspruch erhebliche Änderung des Invaliditäts-
bzw. Hilflosigkeitsgrades glaubhaft gemacht wird. Hingegen enthalten
Gesetz und Verordnung keine Vorschriften über die materiellrechtliche
Revision von Eingliederungsleistungen wegen einer seit ihrer Zusprechung
eingetretenen Veränderung der Verhältnisse. Ebensowenig ist geregelt,
unter welchen Voraussetzungen im Falle einer vorangegangenen Verweigerung
von Eingliederungsleistungen ein neues Gesuch entgegenzunehmen und
zu prüfen ist. In BGE 105 V 173 hat das Eidg. Versicherungsgericht
jedoch entschieden, dass Eingliederungsleistungen gleich wie Renten
und Hilflosenentschädigungen zu behandeln sind und dass demzufolge
Art. 41 IVG sowie die dazugehörigen Verordnungsbestimmungen in analoger
Weise auch auf die Revision von Eingliederungsleistungen angewendet
werden müssen. Art. 87 Abs. 4 IVV betrifft - trotz seiner Stellung im
Abschnitt E ("Die Revision der Rente und der Hilflosenentschädigung")
- zwar nicht die eigentliche materiellrechtliche Revision laufender
Leistungen, sondern einen andern Sachverhalt, nämlich die Neuprüfung nach
vorangegangener Leistungsverweigerung. Es rechtfertigt sich aber, die
vorerwähnte Rechtsprechung auch auf Art. 87 Abs. 4 IVV auszudehnen und
diese Bestimmung ebenfalls in analoger Weise auf Eingliederungsleistungen
anzuwenden. Aufgrund der dortigen Verweisung auf Art. 87 Abs. 3 IVV
ist daher, wenn eine Eingliederungsleistung verweigert wurde, eine neue
Anmeldung nur zu prüfen, wenn der Versicherte glaubhaft macht, dass sich
die tatsächlichen Verhältnisse in einer für den Anspruch erheblichen
Weise geändert haben.

    b) Mit Art. 87 Abs. 4 IVV soll verhindert werden, dass sich die
Verwaltung nach vorangegangener rechtskräftiger Leistungsverweigerung
immer wieder mit gleichlautenden und nicht näher begründeten Gesuchen
befassen muss (ZAK 1971 S. 525 Erw. 2 in fine, 1966 S. 279; nicht
veröffentlichte Urteile Mettler vom 13. März 1981, Roch vom 5. Januar
1979 und Miéville vom 10. Juni 1977). Nach Eingang einer Neuanmeldung ist
die Verwaltung zunächst zur Prüfung verpflichtet, ob die Vorbringen des
Versicherten überhaupt glaubhaft sind; verneint sie dies, so erledigt sie
das Gesuch ohne weitere Abklärungen durch Nichteintreten. Dabei hat sie
u.a. zu berücksichtigen, ob die frühere Verfügung nur kurze oder schon
längere Zeit zurückliegt, und wird dementsprechend an die Glaubhaftmachung
höhere oder weniger hohe Anforderungen stellen (ZAK 1966 S. 279; nicht
veröffentlichtes Urteil Emery vom 3. Oktober 1980). Insofern steht ihr
ein gewisser Beurteilungsspielraum zu, den der Richter grundsätzlich zu
respektieren hat. Wie das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil Baumann
(BGE 109 V 108) entschieden hat, ist daher vom Richter die Behandlung der
Eintretensfrage durch die Verwaltung nur dann zu überprüfen, wenn das
Eintreten streitig ist, d.h. wenn die Verwaltung gestützt auf Art. 87
Abs. 4 IVV Nichteintreten beschlossen hat und der Versicherte deswegen
Beschwerde führt; hingegen unterbleibt eine richterliche Beurteilung der
Eintretensfrage, wenn die Verwaltung auf die Neuanmeldung eintritt. Eine
andere, hier nicht näher zu erörternde Frage betrifft die materiellen
Prüfungspflichten von Verwaltung und Richter; sie stellt sich aber erst
dann, wenn die Verwaltung auf die Neuanmeldung eintritt und Abklärungen
vornimmt.

    Die Verwaltung erledigte das Gesuch des Beschwerdeführers
vom Dezember 1980 durch Nichteintreten. Nach dem Gesagten hat das
Eidg. Versicherungsgericht demnach zu prüfen, ob die Verwaltung
die Eintretensfrage richtig beantwortete und ob die Vorinstanz die
Kassenverfügung vom 17. Dezember 1980 zu Recht bestätigte.

    c) Die Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV sind im
vorliegenden Fall nicht erfüllt. In der Neuanmeldung vom Dezember 1980
machte der Beschwerdeführer in keiner Weise glaubhaft, dass sich die
Verhältnisse geändert hätten und dass nunmehr die Bestimmungen der
GgV erfüllt seien. Auch in den späteren Rechtsschriften brachte er
diesbezüglich nichts vor. Da der Beschwerdeführer die Neuanmeldung
nur kurze Zeit nach Zustellung des ersten Entscheides des kantonalen
Verwaltungsgerichts vom 17. September 1980 und ohne jede Bezugnahme darauf
einreichte, muss - was übrigens durch die Verwaltungsgerichtsbeschwerde
bestätigt wird - gefolgert werden, dass es ihm nur darum ging,
eine neue Verfügung zu erwirken, um hernach den Instanzenzug bis zum
Eidg. Versicherungsgericht ausschöpfen zu können, nachdem ein Weiterzug des
ersten kantonalen Entscheids vom 17. September 1980 unterblieben war. Bei
dieser Sachlage war die Verwaltung nicht verpflichtet, den Beschwerdeführer
nach Eingang der Neuanmeldung auf die erhöhten Anforderungen an ein Gesuch
gemäss Art. 87 Abs. 3 und 4 IVV aufmerksam zu machen, ihm Gelegenheit
zu einer Ergänzung seiner Eingabe zu geben und erst hernach über die
Eintretensfrage zu befinden (nicht veröffentlichtes Urteil Mettler vom
13. März 1981).

    Aus dem Gesagten folgt, dass Kassenverfügung und vorinstanzlicher
Entscheid auch unter dem Gesichtspunkt der Veränderung der tatsächlichen
Verhältnisse nicht gerügt werden können.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf
einzutreten ist.