Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IV 87



109 IV 87

24. Urteil des Kassationshofes vom 5. Oktober 1983 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Thurgau gegen S. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 68 Ziff. 2, 41 Ziff. 3 StGB.

    Im Sinne von Art. 68 Ziff. 2 StGB liegt eine Verurteilung wegen einer
anderen Tat nicht erst mit dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils vor,
sondern schon mit der Urteilsfällung, unter der Voraussetzung, dass das
Urteil später rechtskräftig wird. Für nach der Urteilsfällung begangene
Delikte kommt dabei eine Zusatzstrafe nicht in Betracht (E. 2a). Bei
der Beurteilung dieser Delikte ist über den Widerruf des für die frühere
Strafe gewährten bedingten Strafvollzugs zu entscheiden (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- Das Bezirksgericht Kreuzlingen verurteilte S. am 2. Juni 1982
wegen verschiedener Delikte zu 10 Wochen Gefängnis unter Gewährung des
bedingten Strafvollzuges bei einer Probezeit von drei Jahren. Das Urteil
wurde dem an der Hauptverhandlung anwesenden S. nach der Beratung mündlich
eröffnet. Die schriftliche Mitteilung erfolgte am 2. September 1982.

    S. legte gegen dieses Urteil am 7. September 1982 beim Obergericht des
Kantons Thurgau Berufung ein, die wegen unentschuldigten Nichterscheinens
der Berufungspartei am 2. November 1982 abgeschrieben wurde.

    B.- In der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1982 beging S. zusammen
mit zwei Komplizen einen unvollendeten Raubversuch und einen
Hausfriedensbruch. Wegen dieser Delikte sowie wegen wiederholter, 1979
bis Sommer 1981 verübter Diebstähle verurteilte ihn die Kriminalkammer
des Kantons Thurgau am 17. Mai 1983 "in Zusatz" zur vorgenannten
Gefängnisstrafe von 10 Wochen zu vier Monaten Gefängnis unter Gewährung des
bedingten Strafvollzugs. Den von der Staatsanwaltschaft gestellten Antrag
auf Widerruf des für die frühere Strafe gewährten bedingten Strafvollzugs
wies das Gericht ab.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Begehren, das Urteil der Kriminalkammer
sei insoweit aufzuheben, als damit der vorgenannte Antrag der
Beschwerdeführerin abgewiesen wurde, respektive sei die Vorinstanz
anzuweisen, über die Frage des Widerrufs der bedingt aufgeschobenen Strafe
gemäss Art. 41 Ziff. 3 StGB zu entscheiden.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Kriminalkammer hat den Antrag der Beschwerdeführerin
auf Widerruf des bedingten Strafvollzugs deswegen abgelehnt, weil die
Rechtskraft des Urteils des Bezirksgerichtes Kreuzlingen deutlich nach den
letzten, von ihr beurteilten Straftaten liege, da der genannte Entscheid
erst am 2. September 1982 versandt worden sei und der Beschwerdegegner
dagegen Berufung eingelegt habe, die er im nachhinein allerdings
wieder zurückgezogen habe. Damit sei bezüglich aller Anklagepunkte ein
Zusatzurteil zum vorgenannten bezirksgerichtlichen Entscheid zu fällen,
womit die Frage des Widerrufs entfalle.

Erwägung 2

    2.- Mit dieser Argumentation geht die Vorinstanz von unzutreffenden
rechtlichen Überlegungen aus.

    a) Ihre Auffassung, wonach so lange eine Zusatzstrafe auszusprechen
sei, als die neu beurteilte Tat noch vor Eintritt der Rechtskraft des
früheren Strafurteils verübt wurde, widerspricht der Rechtsprechung
des Bundesgerichts. Im Sinne des Art. 68 Ziff. 2 StGB "wegen einer
anderen Tat zu Freiheitsstrafe verurteilt" ist der Täter nicht erst mit
der Rechtskraft der Verurteilung, sondern schon mit der Urteilsfällung,
unter der Voraussetzung, dass das Urteil später rechtskräftig wird (BGE
102 IV 244 E. II 4b). Des weiteren ist in den Fällen, in denen eine nach
der Urteilsfällung verübte Tat mit Straftaten zusammentrifft, die vor jener
begangen wurden, nicht eine Zusatz-, sondern eine Gesamtstrafe auszufällen
(BGE 75 IV 161).

    Im vorliegenden Fall waren die neu beurteilten Delikte des
unvollendeten Raubversuchs und des Hausfriedensbruchs am 22./23. Juni 1982
und damit nach dem am 2. Juni 1982 ausgefällten und dem Beschwerdegegner am
gleichen Tag eröffneten Urteil des Bezirksgerichtes Kreuzlingen begangen
worden. Gegen dieses Urteil hatte S. zwar Berufung eingelegt. Da er aber
unentschuldigt zur Verhandlung nicht erschien, galt die Berufung gemäss §
218 Abs. 1 thurg. StPO als zurückgezogen und wurde deshalb vom Obergericht
am 2. November 1982 abgeschrieben. Damit wurde der bezirksgerichtliche
Entscheid rechtskräftig (§ 175 Abs. 1 thurg. StPO), mit der Folge, dass
bezüglich der vorgenannten Delikte die Ausfällung einer Zusatzstrafe
nicht mehr in Betracht kam. Daran änderte auch der Umstand nichts, dass
der Raubversuch und der Hausfriedensbruch mit Diebstählen zusammentrafen,
welche vor jenem Urteil begangen worden waren. Wie oben dargetan, hätte
die Vorinstanz dem durch eine Gesamtstrafe Rechnung tragen sollen. Da
dieser Punkt nicht angefochten ist, muss es insoweit beim angefochtenen
Urteil sein Bewenden haben.

    b) Der der Vorinstanz unterlaufene Fehler kann nicht dazu führen,
die Frage des Widerrufs einfach auszuklammern, als ob sie sich überhaupt
nicht stellen würde; denn nach Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 und 2 StGB hat der
Richter den bedingten Strafvollzug zu widerrufen, wenn der Täter während
der Probezeit ein Verbrechen oder Vergehen begeht und es sich nicht um
einen leichten Fall handelt, der bei gleichzeitig günstiger Prognose die
Anordnung einer blossen Ersatzmassnahme rechtfertigt.

    Nach der Rechtsprechung beginnt die Probezeit mit der Eröffnung des
Urteils zu laufen, das vollstreckbar wird, denn mit der Eröffnung spricht
der Richter gegenüber dem Verurteilten die Erwartung aus, dass er sich
schon durch eine bedingt aufgeschobene Strafe bessern lassen werde (BGE
104 IV 59 E. 2; 90 IV 242 E. 1 und 1b). Wie bereits ausgeführt wurde,
erwuchs wegen unentschuldigten Ausbleibens des Beschwerdegegners an
der Berufungsverhandlung das Urteil des Bezirksgerichts Kreuzlingen in
Rechtskraft. Da es überdies gemäss § 174 Abs. 1 thurg. StPO am 2. Juni
1982 in Anschluss an die Hauptverhandlung mündlich eröffnet worden war,
begann die dem Beschwerdegegner auferlegte Probezeit von drei Jahren an
diesem Tag zu laufen. Die am 22./23. Juni 1982 verübten Delikte des
unvollendeten Raubversuchs und Hausfriedensbruchs fielen demnach in
die Probezeit. Die Kriminalkammer hätte deshalb prüfen müssen, ob der
dem Beschwerdegegner vom Bezirksgericht Kreuzlingen gewährte bedingte
Strafvollzug gemäss Art. 41 Ziff. 3 Abs. 1 StGB zu widerrufen oder ob nach
Abs. 2 der genannten Vorschrift nur eine Ersatzmassnahme anzuordnen sei. Da
sich die Vorinstanz hierzu überhaupt nicht geäussert hat, ist ihr Urteil
aufzuheben und die Sache insoweit zu neuer Entscheidung zurückzuweisen. Bei
Prüfung der Frage, ob es sich bei den neuen Delikten um einen leichten
Fall handelt, wird sie die gesamten objektiven und subjektiven Umstände
beachten müssen, wobei sie auch der Dauer der Strafe wird Rechnung tragen
können (BGE 98 IV 251), die sie in casu bei richtiger Zumessung für den
Raubversuch und den Hausfriedensbruch ausgesprochen hätte (s. auch BGE
101 Ib 155). Schliesslich wird sie auch berücksichtigen müssen, dass
Fälle, die das breite Feld durchschnittlicher Taten nicht übersteigen,
nicht ohne weiteres leicht sind (vgl. BGE 102 IV 232 E. 2).