Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IV 65



109 IV 65

19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. November 1983 i.S. R.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 19, 20 StGB.

    Wer sich über Lebensvorgänge oder Umstände irrt, welche einem
objektiven Tatbestandsmerkmal entsprechen (z.B. über die Fremdheit einer
weggenommenen Sache), befindet sich in einer irrigen Vorstellung über
den rechtserheblichen Sachverhalt im Sinne von Art. 19 StGB. Art. 20 StGB
regelt demgegenüber ausschliesslich den Irrtum darüber, ob ein bestimmtes
Verhalten verboten ist.

Sachverhalt

    A.- Am 17. August 1979 wurde vom Schweinehändler G. eine als
Auftragsbestätigung bezeichnete vertragliche Abmachung mit der Firma
R. AG unterzeichnet. Nach dem Inhalt dieses Schriftstückes verpflichtete
sich die Firma R. zur Lieferung der Bauelemente für den Neubau eines
Schweinezuchtstalles; zu den vertraglich versprochenen Leistungen gehörte
auch das Anfertigen und Vervielfältigen sämtlicher Ausführungs- und
Armierungspläne sowie die Bauleitung bis zur schlüsselfertigen Übergabe
der Anlage. Als Bauherr war S. angeführt. Die Auftragsbestätigung der
Firma R. richtete sich an den Geldgeber G. und wurde nur von diesem
unterschrieben, nicht vom Grundeigentümer S.

    Nach Lieferung der Elemente und nachdem der Bau des Schweinestalles
begonnen war, wurde die Liegenschaft des S. betreibungsrechtlich
verwertet. Neuer Eigentümer des Grundstückes wurde O. Die Firma R. erhielt
aus dem Verwertungserlös aufgrund eines Bauhandwerkerpfandrechtes
Fr. 20'287.--. Auf dem versteigerten Grundstück blieb verschiedenes
Baumaterial zurück, das nicht Gegenstand der Versteigerung gebildet hatte
und vom neuen Eigentümer O. nicht übernommen wurde.

    Nach Korrespondenz mit dem Anwalt des G. und Konsultation des eigenen
Rechtsvertreters beauftragte R. als verantwortlicher Geschäftsführer der
Firma R. AG einen Angestellten, das restliche Baumaterial (im angeblichen
Wert von Fr. 24'151.60) auf der Baustelle abzuholen. - S., der frühere
Eigentümer der Liegenschaft, erstattete in der Folge Strafanzeige und
machte geltend, er sei Eigentümer des abtransportierten Materials.

    B.- Das Bezirksgericht Steckborn sprach R. mit Entscheid vom
26. Mai/20. Juni 1983 des Diebstahls schuldig und verurteilte ihn zu
einer bedingt aufgeschobenen Strafe von 20 Tagen Gefängnis.

    Auf Berufung des R. erkannte das Obergericht des Kantons Thurgau am 27.
September 1983, dieser sei im Sinne der Art. 137 Ziff. 1 und 143 StGB
des Diebstahls und der Sachentziehung schuldig und nahm gemäss Art. 20
StGB von Strafe Umgang.

    C.- R. führt gegen dieses Urteil des Obergerichtes
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der angefochtene Entscheid
sei aufzuheben, und die Sache sei zur Neubeurteilung im Sinne
eines Freispruches von sämtlichen Anklagepunkten an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Wie auch immer die getroffene Vereinbarung unter zivilrechtlichen
Aspekten letztlich einzuordnen sein mag, auf jeden Fall ist dem
Beschwerdeführer nach den Feststellungen der Vorinstanz zugute zu
halten, dass er nicht eine fremde Sache rechtswidrig wegnehmen und sich
aneignen wollte, sondern nach Fühlungnahme mit dem eigenen Anwalt und
dem Rechtsvertreter des Vertragspartners G. davon ausging, er nehme
Ware zurück, die im Rahmen eines Werkvertrages vor der Verarbeitung
gar nie in das Eigentum des Bestellers übergegangen war oder im Rahmen
eines Kaufvertrages zwar geliefert, aber mit Zustimmung des vom Vertrag
zurücktretenden Käufers G. wieder abzuholen sei. Die Vorinstanz betrachtete
dies als Rechtsirrtum und brachte daher Art. 20 StGB zur Anwendung.

    Nach unangefochtener, herrschender Lehre regelt Art. 20 StGB
ausschliesslich den Verbotsirrtum, d.h. den Irrtum darüber, ob ein
bestimmtes Verhalten verboten und unter Strafe gestellt ist, nicht
aber den Irrtum über Tatbestandsmerkmale rechtlicher Natur, welche
in einem andern Rechtsgebiet (ausserhalb des Strafrechts) umschrieben
werden. Hat sich der Täter über Lebensvorgänge oder Umstände geirrt,
welche einem objektiven gesetzlichen Tatbestandsmerkmal entsprechen, wie
beispielsweise über die Fremdheit der Sache, die er wegnimmt, so befand er
sich in einer irrigen Vorstellung über den rechtserheblichen Sachverhalt
(BGE 82 IV 202; 85 IV 192 f., SCHULTZ, A.T. I, 4. Aufl. S. 226; NOLL,
A.T. I, S. 132; HAUSER-REHBERG, Strafrecht I, 3. Aufl. S. 78 und 157;
vgl. zum deutschen Recht: BLEI, Strafrecht I A.T., 18. Aufl. S. 201). Geht
man von dieser zutreffenden Abgrenzung zwischen Sachverhaltsirrtum
(Tatbestandsirrtum gemäss Art. 19 StGB) und Rechtsirrtum (Art. 20 StGB)
aus, so ist der von der Vorinstanz festgestellte Irrtum - falls die
zivilrechtliche Beurteilung der Situation durch den Beschwerdeführer
überhaupt unrichtig gewesen sein sollte - nicht ein Rechtsirrtum, sondern
ein Sachverhaltsirrtum, denn R. irrte sich nicht über die strafrechtliche
Regelung; dass die Wegnahme fremder Sachen strafbar ist, war für ihn
selbstverständlich nicht zweifelhaft. Sein allfälliger Irrtum konnte
sich nur auf die Frage beziehen, ob die von ihm gelieferten, noch nicht
eingebauten Materialien bereits fremde Sachen seien, bzw. darauf, ob er
nicht (selbst bei Annahme eines vorherigen Übergangs des Eigentums auf
den Erwerber) durch die Aufhebung des Vertrages und die Zustimmung des
Vertragspartners/Käufers G. kraft dieser neuen Vereinbarung zur Rücknahme
des verbleibenden Materials berechtigt sei. Ein solcher Irrtum über die
zivilrechtliche Situation ist als Sachverhaltsirrtum zu behandeln, d.h. der
Täter ist gemäss Art. 19 StGB nach dem Sachverhalt zu beurteilen, den er
sich vorgestellt hat. Aufgrund der Feststellungen der Vorinstanz ist davon
auszugehen, dass der Beschwerdeführer glaubte, er sei als Eigentümer oder
kraft neuer vertraglicher Abmachung zur Rücknahme des in Frage stehenden
Baumaterials befugt. Sein Vorsatz ging also nicht dahin, fremden Gewahrsam
zu brechen, sich rechtswidrig fremde Sachen anzueignen, und sich auf
diesem Wege unrechtmässig zu bereichern. Auch wenn die zivilrechtliche
Auffassung der Vorinstanz sich als richtig erweisen sollte, so hat der
Beschwerdeführer aufgrund seiner - unter diesen Umständen irrigen -
Vorstellung über den Sachverhalt, insbesondere über die Gewahrsams-
und Eigentumsverhältnisse, durch den Abtransport des Materials weder
Art. 137 noch Art. 143 StGB erfüllt. Das angefochtene Urteil verletzt
daher Bundesrecht.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    In Gutheissung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das Urteil des
Obergerichts des Kantons Thurgau vom 27. September 1983 aufgehoben
und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen zur Freisprechung des
Beschwerdeführers.