Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IV 46



109 IV 46

13. Urteil des Kassationshofes vom 10. Januar 1983 i.S. R. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons X (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 305 StGB, Begünstigung.

    Ein Polizeibeamter, der unter Verletzung seiner dienstlichen Pflicht
dafür sorgt, dass eine Strafanzeige nicht weitergeleitet wird, damit dem
Betroffenen ein Strafverfahren erspart bleibt, macht sich der Begünstigung
schuldig. Er kann sich nicht auf das Opportunitätsprinzip berufen.

Sachverhalt

    A.- Am 14. Oktober 1979 erstattete P. bei der Kantonspolizei des
Kantons X Strafklage gegen die Dirne B. wegen Diebstahl resp. Betrug.
Letztere hatte P. an Stelle des vereinbarten Preises von Fr. 100.--
den Betrag von Fr. 600.-- weggenommen. Der diensttuende Polizeibeamte
telefonierte noch in der gleichen Nacht mit B., welche sich darauf
direkt an den ihr bekannten Chef der Kriminalpolizei des Kantons X,
R., wandte. Nach Rücksprache mit dem diensttuenden Beamten sowie
Konsultation des Journaleintrags und des Befragungsprotokolls rief
R. in der Folge die Dirne an und vereinbarte mit ihr, Fr. 300.-- an
P. zurückzuerstatten. Nachdem er das Geld empfangen hatte, beauftragte
er den Polizeibeamten, beim Geschädigten abzuklären, ob dieser mit der
Rückgabe von Fr. 300.-- einverstanden sei. Da sich P. über diese Lösung
erfreut zeigte, wurde ihm das Geld angewiesen. R. teilte darauf dem
Polizeibeamten mit, "in diesem Falle ist die Sache für uns erledigt";
in der Folge wurde kein Anzeigerapport an das Untersuchungsrichteramt
erstellt. Im Laufe einer Strafuntersuchung wegen gleichartiger Vorkommnisse
im Herbst 1980 wurde das Detektivbüro URA auf den Vorfall vom 14. Oktober
1979 aufmerksam und erstattete gegen B. Anzeige. Gleichzeitig wurde gegen
R. eine Strafuntersuchung wegen Begünstigung eingeleitet.

    B.- Die Gerichtskommission des Kantons X verurteilte R. in erster
Instanz wegen Begünstigung zu 4 Wochen Gefängnis unter Gewährung des
bedingten Strafvollzugs.

    Die Strafkammer des Kantonsgerichts des Kantons X hielt mit Urteil
vom 27. September 1982 am Schuldspruch wegen Begünstigung fest,
reduzierte die Strafe aber auf 10 Tage Gefängnis mit Gewährung des
bedingten Strafvollzugs.

    C.- R. erhob gegen diesen Entscheid Nichtigkeitsbeschwerde an das
Bundesgericht mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und
die Sache zur Freisprechung evtl. zur Neubeurteilung an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 18
StGB. Die Vorinstanz habe das Vorliegen des "Kausalitätsvorsatzes"
nicht geprüft. Sie habe nicht abgeklärt, inwieweit er gewusst habe,
resp. damit einverstanden gewesen sei, dass auf Grund seiner Anordnung
ein Strafverfahren gegen B. unterbleiben werde. Er sei nämlich davon
ausgegangen, der Untersuchungsrichter hätte auf Grund des Fahndungsjournals
ein Strafverfahren gegen die Dirne einleiten können.

    Das Bundesgericht ist im Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren an die
tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 273 Abs. 1 lit. b,
227bis BStP), zu denen auch jene über den sogenannten inneren Sachverhalt,
das Wissen und Wollen des Täters gehören, gebunden (BGE 104 IV 36 E. 1
mit Verweisungen).

    Das Kantonsgericht stellt in tatsächlicher Hinsicht fest, dass dem
Fahndungsjournal nicht die Bedeutung einer Anzeige zukommen, da dieses
lediglich eine stichwortartige, chronologische Aufzählung der Geschehnisse
während der letzten 24 Stunden enthalte (ausser Strafanzeigen auch andere
polizeiliche Vorgänge wie Kontrollgänge, Suizidversuche, Fehlalarme
usw.). Es wird deshalb vom Untersuchungsrichter höchstens summarisch
durchgesehen. Der Beschwerdeführer habe gewusst, dass ein Journaleintrag
für sich allein niemals eine Strafuntersuchung auszulösen vermöge. Soweit
sich die Beschwerde gegen diese vorinstanzlichen Feststellungen richtet,
ist deshalb darauf nicht einzutreten.

    Im übrigen ist die Rüge, die Vorinstanz habe den Kausalitätsvorsatz
nicht geprüft, offensichtlich unbegründet. Das Kantonsgericht erachtete
u.a. auf Grund der zitierten Sachverhaltsfeststellungen den subjektiven
Tatbestand als gegeben. Daraus ergibt sich aber zweifellos, dass es den
Kausalitätsvorsatz geprüft und - zu Recht - bejaht hat. Die Beschwerde
ist deshalb in diesem Punkt abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer rügt weiter, die Vorinstanz sei zu Unrecht
davon ausgegangen, Begünstigung liege auch dann vor, wenn ein Unschuldiger
der Strafuntersuchung entzogen werde. Sie habe deshalb seinem Einwand,
er sei sich nicht bewusst gewesen, dass B. sich strafbar gemacht habe,
keine Beachtung geschenkt.

    Das Kantonsgericht bezeichnet die Behauptung von R., wonach er im
vorliegenden Fall der Überzeugung gewesen sei, es liege kein strafrechtlich
erfassbarer Tatbestand vor, bzw. ein solcher könne der Dirne nicht
nachgewiesen werden, als völlig unhaltbar. Es brachte damit deutlich zum
Ausdruck, dass der Beschwerdeführer B. nicht für unschuldig halten konnte.

    Der Beschwerdeführer legt seiner Rüge somit Sachverhaltsbehauptungen
zugrunde, die im Widerspruch zu den vorinstanzlichen tatsächlichen
Feststellungen stehen. Da die Sachverhaltsfeststellungen und die
Beweiswürdigung des kantonalen Richters im Nichtigkeitsbeschwerdeverfahren
nicht überprüft werden (Art. 273 Abs. 1 lit. b, 277bis Abs. 1 BStP),
kann auf diese Rüge nicht eingetreten werden.

Erwägung 3

    3.- Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Art. 20 StGB. Die
Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt,
dass im Kanton X grundsätzlich das Legalitätsprinzip gelte,
das Opportunitätsprinzip aber in der Praxis auf Stufe Polizei bei
ausgesprochenen Bagatellübertretungen, vorwiegend beschränkt auf das
Gebiet des Strassenverkehrs, zur Anwendung gelange. Die Anwendung des
Opportunitätsprinzips komme gemäss kantonaler Strafprozessordnung aber
keinesfalls bei Anzeigen von Drittpersonen in Frage. Dem Beschwerdeführer
seien diese Bestimmungen bekannt gewesen; er habe deshalb wissen
müssen, dass die durch den Geschädigten eingereichte Strafklage
keinesfalls einem Bagatellfall gleichkomme. Er habe auch gewusst,
dass die Beweiswürdigung nicht Sache der Polizei, sondern des Richters
resp. Untersuchungsrichters sei. Somit habe er keine zureichenden Gründe
gehabt, sich zur Nichtweiterleitung der Anzeige berechtigt zu halten,
weshalb die Berufung auf Rechtsirrtum ausgeschlossen sei.

    Soweit der Beschwerdeführer geltend macht, sein Handeln entspreche
der allgemeinen polizeilichen Dienstauffassung und den Instruktionen
durch die Staatsanwaltschaft, richtete er sich gegen verbindliche
Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz, was im Nichtigkeitsverfahren
nicht zulässig ist (Art. 273 Abs. 1 lit. b, 277bis BStP). Auf die
Beschwerde ist deshalb in diesem Punkt nicht einzutreten.

    Gemäss kant. Strafprozessordnung sind die durch Drittpersonen
erstatteten Anzeigen sofort dem zuständigen Untersuchungsrichter zu
übermitteln. Diese Bestimmung lässt keinen Raum für die Anwendung des
Opportunitätsprinzips auf Stufe Polizei. Auf Grund dessen und der
tatsächlichen Feststellungen im konkreten Fall ist offensichtlich,
dass der Beschwerdeführer keine zureichenden Gründe hatte, sich für die
Nichtweiterleitung der Anzeige berechtigt zu halten. Die Beschwerde ist
deshalb, soweit darauf eingetreten werden kann, abzuweisen.

    Die vom Beschwerdeführer geltend gemachte angebliche
allgemeine Dienstauffassung der Kantonspolizei, wonach nicht nur
bei Bagatellübertretungen, sondern auch bei schwereren Delikten, wie
Verbrechen mit persönlichem Bezugsrahmen, die Polizei von sich aus nach dem
Opportunitätsprinzip auf die weitere Strafverfolgung verzichte, steht nicht
nur im Widerspruch zur Strafprozessordnung des Kantons X, sondern verletzt
überdies auch das Gebot der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit. Die
Doktrin befasste sich mehrfach mit der Frage, ob die Kantone, ohne gegen
Bundesrecht zu verstossen, in den Strafprozessordnungen Regelungen,
die dem Opportunitätsprinzip folgen, treffen dürften (ablehnend:
PFENNINGER in ZStrR 66, S. 153; zustimmend: GERMANN, ZStrR 77, S. 1
ff.; NOLL, Strafprozessrecht, 1976, S. 16 f.; HAUSER, Kurzlehrbuch des
Schweizerischen Strafprozessrechts, 1978, S. 116 ff.). Auch diejenigen
Autoren, die das strafprozessuale Opportunitätsprinzip dem Grundsatze
nach befürworten oder zumindest nicht ablehnen, verlangen aus Gründen der
Rechtssicherheit eine genaue Fixierung der Ausnahmen vom Verfolgungszwang
(HAUSER, aaO, S. 118) und treten dafür ein, dass je schwerer die Tat, desto
strikter das Legalitätsprinzip gelte (NOLL, aaO, S. 17). Der Forderung,
dass das Opportunitätsprinzip den Verfolgungszwang nur ausnahmsweise
durchbrechen soll, tragen die kantonalen Strafprozessordnungen, welche die
Nichtweiterverfolgung einer Straftat auf Grund des Opportunitätsgedankens
kennen, u.a. dadurch Rechnung, dass die "Einstellung" einen formellen
Entscheid der zuständigen Behörde bedingt. Regelmässig wird nicht der
Polizei der Entscheid, über die Weiterverfolgung und Weiterleitung einer
Straftat überlassen, sondern der Staatsanwalt oder eine richterliche
Behörde für zuständig erklärt. Gegen solche "Einstellungsbeschlüsse" kann
teilweise sogar ein kantonales Rechtsmittel ergriffen werden. Es entspricht
dem Gebot der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit, dass sowohl Täter als
auch Opfer Anspruch auf einen förmlichen Entscheid durch die zuständige
Behörde haben. Gerade dies wird durch die "polizeiliche Einstellung" der
Strafverfolgung nicht gewährleistet. Die Polizei ist deshalb verpflichtet,
die Ermittlungen - ausgenommen bei absoluten Bagatellübertretungen
(z.B. im Strassenverkehr) und offensichtlich unhaltbaren oder trölerischen
Strafanzeigen - auch bei unsicherer Beweislage und/oder Überlastung an
die Hand zu nehmen, weiterzuverfolgen und die Sache an die zuständige
Behörde weiterzuleiten.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.