Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IV 39



109 IV 39

11. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. April 1983
i.S. Dr. K. c. Dr. M. und vice-versa (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 173, 177 StGB.

    1. Aus der prozessualen Behauptungslast folgt nicht das Recht des
Anwalts, schlechthin irgendwelche, die Ehre der Gegenpartei berührende
und mit dem Prozessthema zusammenhängende Behauptungen aufzustellen,
wenn er nach sorgfältiger Prüfung der Unterlagen nicht in guten Treuen
annehmen kann, dass sie den Tatsachen entsprechen und rechtsgenügend
bewiesen werden können (E. 2e).

    2. Wer behauptet, eine Schrift sei das Produkt grösster menschlicher
Schlechtigkeit, macht sich dem Verfasser gegenüber der Ehrverletzung
schuldig (E. 4a).

Sachverhalt

    A.- Rechtsanwalt Dr. M. hatte dem Präsidenten der Bündner Anwaltskammer
den Entwurf einer Rechtsschrift eingereicht, mit welcher er Rechtsanwalt
Dr. K. in der Folge einzuklagen gedachte. Wegen verschiedener darin
enthaltener Äusserungen fühlte letzterer sich in seiner Ehre verletzt und
reichte Klage ein. In einem Schreiben an den Adressaten der Rechtsschrift
äusserte er sich über diesen Entwurf wie folgt: "Diese Schrift widerspricht
in ihrem Kern den Tatsachen und stellt das Produkt grösster menschlicher
Schlechtigkeit dar, die mir jemals widerfahren ist." Dieser Satz
veranlasste Dr. M. seinerseits Strafklage wegen Ehrverletzung gegen
Dr. K. einzureichen.

    B.- Der Kreisgerichtsausschuss Chur sprach Dr. M. und Dr. K. der
üblen Nachrede schuldig und bestrafte sie mit Bussen von Fr. 1'000.-- und
Fr. 100.--. Der Ausschuss des Kantonsgerichtes von Graubünden änderte
den erstinstanzlichen Entscheid, indem er Dr. K. bloss der Beschimpfung
gemäss Art. 177 StGB schuldig erklärte.

    C.- Der Kassationshof wies beide von den Parteien gegen das Urteil
des Kantonsgerichtsausschusses erhobenen Nichtigkeitsbeschwerden ab,
soweit er darauf eintrat.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:
I. Nichtigkeitsbeschwerde Dr. M.

Erwägung 2

    2.- e) Nicht haltbar ist die Auffassung des Beschwerdeführers,
die Vorinstanz habe mit der Erwägung Bundesrecht verletzt, wonach er
nach den gesamten Umständen wohl begründete Veranlassung gehabt habe,
aufgrund der vorhandenen Indizien Vermutungen im Sinne der gemachten
Äusserungen anzustellen, er diese hingegen nicht als sichere Tatsachen
hätte in der Rechtsschrift aufführen dürfen. Wohl hat jede Partei in
einem Zivilprozess ein Interesse daran, die Tatsachen zu behaupten,
aus denen sie die Entstehung der von ihr geltend gemachten Rechte oder
den Untergang der vom Gegner behaupteten Verpflichtungen herleitet. Der
Kläger, der nicht alle rechtsbegründenden Tatsachen behauptet, läuft
Gefahr, mit der Klage abgewiesen zu werden (GULDENER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 3. Aufl. S. 166 Ziff. III). Aus dieser den Kläger
treffenden Behauptungslast folgt indessen nicht auch das Recht des
Anwalts, schlechthin irgendwelche mit dem Prozessthema zusammenhängende
Behauptungen aufzustellen, selbst wenn er nach sorgfältiger Prüfung
der Unterlagen nicht in guten Treuen annehmen kann, dass sie den
Tatsachen entsprechen und rechtsgenügend bewiesen werden können. Das
muss insbesondere bei Behauptungen gelten, die schwerwiegende Angriffe
auf die Ehre der Gegenpartei enthalten. Nicht nur ist hier ein erhöhtes
Mass an Sorgfalt bei der Prüfung geboten, ob die Behauptung der Wahrheit
entspricht und in welcher Form sie allenfalls vorgetragen werden darf
(s. BGE 105 IV 119, 104 IV 16), sondern es hat der Anwalt auch zu
berücksichtigen, dass Beweisschwierigkeiten eine Ehrverletzung nicht
zu rechtfertigen vermögen (s. BGE 105 IV 119/120, 104 IV 16; v. WERRA,
Der Anwalt und die üble Nachrede, in Bulletin des SAV 1980 Heft Nr. 70
S. 8, 9). Schliesslich muss er, wenn er nach loyaler Abwägung der Gründe
und Gegengründe zum Schluss gelangt, auf die ehrverletzende Äusserung
nicht verzichten zu können, ohne gleichzeitig seine wohlverstandenen
Mandatspflichten zu vernachlässigen, seine die Ehre der Gegenpartei
berührenden Ausführungen auf das für die Wahrung der Interessen seines
Klienten Notwendige beschränken und insbesondere auch in der Formulierung
derselben vorsichtige Zurückhaltung üben. Dass er sich dabei allgemein
eigener subjektiver Wertung ehrenrühriger Natur zu enthalten hat, die
er sachlich nicht zu begründen vermag, liegt auf der Hand (v. WERRA,
loc.cit. und S. 10).

    Im vorliegenden Fall hat jedoch der Beschwerdeführer die eingeklagten
Äusserungen überhaupt nicht in einem Prozess getan, sondern in einem
der Bündner Anwaltskammer eingereichten Entwurf einer Prozesseingabe,
mit welcher er Dr. K. einzuklagen gedachte, so dass es fraglich ist,
ob er sich auf die Wahrung der Interessen seines Klienten C. berufen
kann. Das Verfahren vor der Anwaltskammer war ein standesrechtliches
Vermittlungsverfahren zwischen zwei Anwälten. Im übrigen hält die
Beschwerde selbst dann nicht stand, wenn man dieses Verfahren als
Vorbereitung des Schadenersatzprozesses ansehen und dem Beschwerdeführer
dieselbe Stellung zugestehen wollte wie im letztgenannten Prozess. In
diesem wäre es dem Beschwerdeführer keineswegs verwehrt gewesen, zur
Begründung der Schadenersatzklage des C. die tatsächlichen Vorgänge um
den Kauf der Aktientotalität der Firma X. AG sachlich darzulegen und
namentlich auch geltend zu machen, seiner Meinung nach beständen Indizien
dafür, dass Dr. K. wusste, dass die Aktien in Wirklichkeit nicht von
L., sondern von der Anstalt Y. in Vaduz gekauft würden, und dass für
diesen Fall eine Irreführung des C. durch Dr. K. naheliege. Auch hätte
er durchaus diese Indizien nennen und entsprechende Beweise offerieren
können. Damit hätte er der Behauptungslast genügt und gleichzeitig nicht
mehr gesagt, als was er nach der verbindlichen Würdigung der Beweise durch
die Vorinstanz in guten Treuen hätte verantworten können. Auch wäre er,
indem er sich in seinen Schlüssen auf Verdächtigungen beschränkt hätte,
einer Bestrafung wegen übler Nachrede in diesem Punkt entgangen (s. BGE
102 IV 185). Statt sich bei der vom Kantonsgericht verbindlich dargelegten
unsicheren Beweislage der gebotenen Zurückhaltung zu befleissigen, hat er
jedoch den Prozessgegner nicht nur im genannten Sinne verdächtigt, sondern
in seinen aus den objektiv gegebenen Tatsachen gezogenen Schlussfolgerungen
in schwerwiegender Weise beschuldigt, indem er Dr. K. vorwarf, er
habe beim Aktienkauf einen Partnerwechsel "ausgeheckt" und "heimlich
vorbereitet" und die ihm bekannte Bewilligungspflicht des Vertrags dem
C. "arglistig" verschwiegen, um seinem Klienten L. "gegebenenfalls
die Möglichkeit zu verschaffen, sich, wenn das Geschäft sich doch
nicht so anlasse, wie er sich dies erhoffe, auf die Nichtigkeit des
Vertrags zu berufen"; er habe C. also "kräftig hinters Licht geführt",
ihm überdies einen Grundpfandbestellungsvertrag "abgelistet" und ein
"skandalöses" und "vertrags- und treuwidriges Verhalten" an den Tag
gelegt. Damit hat der Beschwerdeführer nicht nur unzulässigerweise etwas
als Tatsache hingestellt, wozu nach den Unterlagen, über welche er nach
dem angefochtenen Urteil verfügte, bloss Grund zu Verdächtigungen bestand
(BGE 107 IV 35), sondern er ist auch in der Formulierung der Äusserungen
weit über das hinausgegangen, was sich nach den gesamten Umständen in
guten Treuen sachlich vertreten liess. Wenn die Vorinstanz angesichts
dessen zum Schluss kam, der Beschwerdeführer habe für diese schwerwiegenden
Anschuldigungen den Gutglaubensbeweis nicht erbracht, hat sie Bundesrecht
nicht verletzt.

    f) Auf Art. 32 StGB könnte sich der Beschwerdeführer zu seiner
Entlastung ohnehin nicht berufen, weil die Tatsache, dass der Anwalt mit
seinen Äusserungen berechtigte Interessen seines Mandanten wahren will -
worin sich seine Berufspflicht diesfalls erschöpft - seit der Teilrevision
des StGB vom 5. Oktober 1950 nicht mehr als Rechtfertigungsgrund
anerkannt ist, sondern bloss noch als Voraussetzung für die Zulassung
zum Entlastungsbeweis in Betracht fällt (BGE 82 IV 10, 80 IV 111;
v. WERRA, aaO S. 7). Entgegen der Meinung des Beschwerdeführers wurde
in BGE 107 IV 35 keineswegs auf Art. 32 StGB Bezug genommen. Soweit die
Wahrung berechtigter Interessen berücksichtigt wurde, geschah dies, um die
begründete Veranlassung und damit die Zulassung zu den Entlastungsbeweisen
zu bejahen. Im übrigen aber hatte die Vorinstanz den im gleichen Entscheid
enthaltenen Hinweis, dass der Anwalt nicht etwas als sichere Tatsachen
hinstellen dürfe, wofür bloss Grund zu Verdächtigungen bestehe, als
Erwägung in den Rahmen des Gutglaubensbeweises gestellt und damit jenen
Entscheid richtig verstanden. II. Nichtigkeitsbeschwerde Dr. K.

Erwägung 4

    4.- a) Der Beschwerdeführer scheint den ehrverletzenden Charakter
der Äusserung bestreiten zu wollen, jedoch zu Unrecht. Wer behauptet,
eine Schrift sei das Produkt grösster menschlicher Schlechtigkeit,
disqualifiziert damit nicht nur die Schrift selber, sondern vor allem
deren Verfasser. Er ist derjenige, der die Schrift "produziert" hat, und
nur er kann aus menschlicher Schlechtigkeit gehandelt haben. Wer jedoch
einen andern bezichtigt, er habe aus grösster menschlicher Schlechtigkeit
heraus gehandelt, der wirft ihm eine Einstellung vor, die sich mit den
Eigenschaften, die ein ehrbarer Mensch haben muss, nicht vereinbaren
lässt. Er setzt ihn also in seiner Ehre herab.

    b) Soweit die Argumentation des Beschwerdeführers aber darauf
zielt, aus der angeblichen Verhältnismässigkeit seiner Reaktion auf den
Angriff des Beschwerdegegners einen Rechtfertigungsgrund für sein Handeln
abzuleiten, ist ihm entgegenzuhalten, dass in einem Rechtsstaat ein Delikt
grundsätzlich nicht mit einer ebenfalls unter das Strafrecht fallenden Tat
vergolten werden darf. Nur wo die besonderen Voraussetzungen des Art. 33
StGB erfüllt sind, gesteht das Gesetz dem Angegriffenen das Recht zu,
sich mit einer an sich den Tatbestand eines Delikts erfüllenden Handlung
zur Wehr zu setzen. Im vorliegenden Fall sind jedoch die Voraussetzungen
des Art. 33 StGB nicht gegeben, was in der Beschwerde übrigens auch
nicht behauptet wird. Was aber die Bestimmungen des Art. 177 Abs. 2 und
3 StGB anbelangt, so handelt es sich nicht um Rechtfertigungs-, sondern
um fakultative Strafbefreiungsgründe.