Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IV 15



109 IV 15

6. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 10. Januar 1983 i.S. St.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

    Art. 117 StGB. Art. 229 StGB. Arbeitsunfall. Fahrlässige
Tötung. Verletzung der Regeln der Baukunde.

    1. Für die Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften hat nicht nur
derjenige zu sorgen, der die spezifische Unfallgefahr geschaffen hat,
sondern jeder Arbeitgeber von Untergebenen, die erkennbar gefährdet
sind. Ein Hinweis auf die Gefahr anstelle der Durchsetzung von
Sicherungsmassnahmen genügt nicht (E. 2a).

    2. Die Verantwortung des Sorgfaltspflichtigen ist unabhängig von der
finanziellen Bedeutung des Arbeitsauftrags (E. 2b).

Sachverhalt

    A.- St. ist Inhaber der Firma St. & Co., Leichtmetallbedachungen,
Reinach/AG. Zwei Arbeitnehmer dieser Firma, W., Sanitärmonteur, und der
Spenglerlehrling S., führten Ende Oktober 1978 auf dem Dach des Neubaus
des Postgebäudes in Menziken Arbeiten aus. Die offenen Dachluken (in der
Grösse von 128 x 132 cm) waren mit Plastikfolien abgedeckt. Am 26. Oktober
1978 um 15.30 Uhr trat W. beim Überqueren des Daches auf eine solche
Plastikfolie, stürzte durch die Dachluke auf den 4,5 m tiefer liegenden
Betonboden und erlitt schwere Kopfverletzungen, die zum Tode führten.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau erhob gegen St. Anklage wegen
fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) und wegen fahrlässiger Gefährdung durch
Verletzung der Regeln der Baukunde (Art. 229 StGB); dem Angeklagten wird
vorgeworfen, er habe es bei der Besichtigung der Baustelle auf dem Dach
des Postgebäudes in pflichtwidriger Weise unterlassen, dafür zu sorgen,
dass die mit Plastikfolien abgedeckten offenen Dachluken vorschriftsgemäss
entweder in solider Weise überdeckt oder mit starken Schutzgeländern
umgeben wurden.

    B.- Während das Bezirksgericht Kulm St. mehrheitlich freisprach, hat
das Obergericht des Kantons Aargau die Berufung der Staatsanwaltschaft
gutgeheissen, St. gemäss Anklage schuldig gesprochen und zu einer Busse
von Fr. 400.-- verurteilt.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt St. Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Antrag, das angefochtene Urteil sei aufzuheben und die Sache sei zur
Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 7 der Verordnung über die Verhütung von Unfällen
an und auf Dächern vom 17. November 1967 (SR 832.311.15) sind Boden-
und Wandöffnungen jeder Art, durch die ein Absturz möglich ist, während
der Arbeit entweder in solider Weise zu überdecken oder mit starkem
Schutzgeländer und Bordbrett zu umgeben. Diese wichtige Vorschrift wurde im
vorliegenden Fall nicht eingehalten. Das Abdecken mit einer Plastikfolie
stellte keine Sicherung dar, erhöhte aber die Gefahr eines Fehltrittes
in verhängnisvoller Weise. Die in Art. 7 der Verordnung umschriebene
anerkannte Regel der Baukunde wurde missachtet.

    Das Obergericht hat festgehalten, dass die Gefahrensituation
im vorliegenden Fall von der Baufirma H. & Cie. auf Veranlassung
des Bauleiters S. geschaffen worden sei durch Wegnahme der vorher
unter den Luken befindlichen Riconplatten und durch das Abdecken mit
Plastikfolien. S. wurde strafrechtlich zur Verantwortung gezogen.

Erwägung 2

    2.- Nach den für den Kassationshof verbindlichen Feststellungen
der Vorinstanz erkannte der Beschwerdeführer das besondere Risiko,
welches diese offenen Dachluken für Arbeiten auf dem Dach bildeten. Er
hat W. auf die Gefahr aufmerksam gemacht. In der Nichtigkeitsbeschwerde
wird sinngemäss bestritten, dass St. eine strafrechtlich erfassbare
Fahrlässigkeit vorgeworfen werden könne, weil er es unterlassen habe,
die von der Baufirma H. geschaffene Gefährdung zu beseitigen.

    a) Wer bei der Leitung oder Ausführung eines Bauwerks mitwirkt, ist
dafür verantwortlich, dass in seinem Bereich die Regeln der Baukunde
eingehalten werden. Soweit es um Massnahmen der Unfallverhütung geht,
hat nicht nur derjenige, der die spezifische Unfallgefahr geschaffen hat,
für die vorschriftsgemässe Verminderung oder Ausschaltung des Risikos
besorgt zu sein, sondern jeder Arbeitgeber hat erkennbare Mängel, welche
für seine Leute eine vermeidbare Gefährdung bilden, zu beheben oder durch
zweckmässige Intervention die Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften
zu veranlassen. Der Beschwerdeführer, der einen Vorarbeiter und einen
Lehrling mit Arbeiten auf dem Dach des Postgebäudes betraute, hätte
die Gefahr der offenen, durch Plastikfolien abgedeckten Dachluken nicht
einfach bestehen lassen dürfen. Es kam ihm in dieser Hinsicht in bezug auf
seine Untergebenen eine strafrechtlich relevante Garantenstellung zu. Der
gegenüber W. geäusserte Hinweis auf die Gefährlichkeit der Situation
vermag den Beschwerdeführer nicht zu entlasten. Eine "Ermahnung" genügte
nicht. Es hätte eine dem Art. 7 der erwähnten Verordnung entsprechende
Sicherungsmassnahme durchgesetzt werden müssen.

    b) Nachdem feststeht, dass der Beschwerdeführer sich persönlich
um die Zuweisung dieser Isolationsarbeit auf dem Dach kümmerte und
die spezifische Gefahr erkannte, lässt sich seine Tätereigenschaft
im Sinne des Art. 229 StGB nicht in Zweifel ziehen (vgl. BENDEL,
Die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei der Verletzung der Regeln
der Baukunde, Genfer Diss. 1960, S. 27 ff.; BGE 104 IV 96). Das in
der Nichtigkeitsbeschwerde vorgetragene Argument, die Arbeit, welche
den Unfall zur Folge hatte, habe nur einen kleinen Zusatzauftrag von
ca. Fr. 600.-- betroffen, ist unbehelflich. Die Verantwortung für die
Einhaltung von Unfallverhütungsvorschriften hängt selbstverständlich
nicht von der finanziellen Bedeutung des Auftrages ab; auch bei kleinen
Arbeiten auf dem Dach sind die einschlägigen Regeln zu beachten; das
geringe in Frage stehende Arbeitsvolumen rechtfertigt das Tolerieren
einer vorschriftswidrigen Gefahrensituation nicht.