Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IV 134



109 IV 134

37. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 17. November 1983 i.S. H.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden (Nichtigkeitsbeschwerde)
Regeste

   Überholen.

    1. Art. 35 Abs. 2 SVG: Überholen vor einer unübersichtlichen
Strassenbiegung (E. 2).

    2. Art. 35 Abs. 4 SVG gilt auch für den Bereich unmittelbar vor
unübersichtlichen Kurven (E. 3).

Sachverhalt

    A.- Auf der Fahrt von Chur nach Davos überholte der Personenwagenlenker
H. in zwei Fällen jeweils unmittelbar vor einer unübersichtlichen
Linkskurve ein anderes Motorfahrzeug. Beim zweiten Manöver wurde nur
deshalb ein Zusammenstoss vermieden, weil der Lenker des entgegenkommenden
Fahrzeugs zufälligerweise vor der möglichen Kollisionsstelle auf einen
Hausvorplatz abbog.

    B.- Der Kreisgerichtsausschuss von Klosters sprach H. mit Urteil
vom 13. April 1983 der groben Verletzung von Verkehrsregeln im
Sinne von Art. 35 Abs. 2 und 4 in Verbindung mit Art. 90 Ziff. 2
SVG schuldig und bestrafte ihn mit einer bedingt löschbaren Busse von
Fr. 800.--. Auf Berufung des Angeschuldigten hin bestätigte der Ausschuss
des Kantonsgerichts von Graubünden am 25. Mai 1983 das angefochtene
Urteil vollumfänglich.

    C.- Gegen diesen Entscheid führt H. eidgenössische
Nichtigkeitsbeschwerde mit den Anträgen, das Urteil des
Kantonsgerichtsausschusses sei aufzuheben und er sei freizusprechen. Die
Beschwerde wird abgewiesen.

Auszug aus den Erwägungen:

                     Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe Art. 35 Abs.  2 SVG
nicht verletzt.

    Nach der in Frage stehenden Gesetzesbestimmung ist das Überholen nur
gestattet, wenn der für den gesamten Überholvorgang erforderliche Raum
übersichtlich und frei ist und der Gegenverkehr nicht behindert wird. Wer
vor einer unübersichtlichen Kurve vorfahren will, muss berücksichtigen,
dass bis zum Abschluss seines Unternehmens aus der Biegung heraus
ein Fahrzeug auftauchen und sich ihm nähern könnte. Nicht nur die für
den Überholvorgang benötigte Strecke muss übersichtlich und frei sein,
sondern zusätzlich jene, die ein entgegenkommendes Fahrzeug bis zu jenem
Punkt zurücklegt, wo der Überholende die linke Strassenseite freigegeben
haben wird. Es genügt daher nicht, dass letzterer darnach trachtet,
den Überholvorgang kurz vor der unübersichtlichen Kurve abzuschliessen,
sondern er muss ihn schon so weit vor der Biegung beendet haben, dass ein
während des Überholens auf der Gegenfahrbahn auftauchendes Fahrzeug seinen
Weg unter Einhaltung einer angemessenen Geschwindigkeit fortsetzen kann,
ohne gefährdet zu werden (BGE 85 IV 37).

    Im vorliegenden Fall kann keinem Zweifel unterliegen, dass die
fraglichen Manöver des Beschwerdeführers hätten unterbleiben müssen. Nach
den Feststellungen der Vorinstanz wurden beide Überholvorgänge
erst im Bereich von nachfolgenden unübersichtlichen Linkskurven
abgeschlossen. Bei den "Stütz" kam es nur deshalb zu keiner Kollision,
weil ein entgegenkommender Fahrzeuglenker zufälligerweise seine Fahrspur
verliess und auf einen Hausvorplatz abbog. Geht man von diesem für den
Kassationshof verbindlichen Sachverhalt aus, so steht ausser Frage,
dass der erforderliche Raum in beiden Fällen nicht zur Verfügung stand,
und die Manöver demnach unzulässig waren, weshalb der Schuldspruch nach
Art. 35 Abs. 2 SVG zu Recht erging. Der vom Beschwerdeführer hervorgehobene
Umstand, dass die Strasse jeweils nur durch eine Leitlinie, nicht aber
durch eine Sicherheitslinie in zwei Fahrbahnen geteilt wird, ist im
konkreten Fall nicht massgebend für die Beantwortung der Frage, ob die
Überholmanöver zulässig waren oder nicht.

Erwägung 3

    3.- Vor Bundesgericht vertritt der Beschwerdeführer die Ansicht, eine
Verkehrsregelverletzung liege nach dem Wortlaut von Art. 35 Abs. 4 SVG
nicht vor, weil er nicht in, sondern unmittelbar vor unübersichtlichen
Kurven überholt habe.

    Dieser Auffassung kann nicht beigepflichtet werden. Aus der
Entstehungsgeschichte von Art. 35 Abs. 4 SVG ergibt sich, dass der
Ausdruck "in unübersichtlichen Kurven" mit "bei" oder "im Bereich von
derartigen Kurven" gleichgesetzt werden muss. Dem Protokoll der Tagung
der nationalrätlichen Kommission für das Strassenverkehrsgesetz vom
24./26. August 1955 ist zu entnehmen, dass mit der Wendung "in" auch der
Bereich unmittelbar vor der Biegung erfasst werden soll (vgl. S. 138:
Votum Jezler; S. 139: insbesondere die Voten Bratschi, Jezler und
Fischer). Dasselbe ergibt sich aus der Beratung des Nationalrates
(Sten.Bull. 1957 S. 171: "... le dépassement est implicitement interdit
immédiatement avant le tournant. Il faut qu'un dépassement soit terminé
suffisamment tôt avant un tournant qu'un véhicule débouchant en sens
inverse ne soit pas gêné."). Die Vorinstanz hat Art. 35 Abs. 4 SVG somit
zutreffend angewandt.