Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IV 106



109 IV 106

29. Urteil des Kassationshofes vom 26. Mai 1983 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Luzern gegen K. (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Rev. Art. 139 Ziff. 3 StGB, Lebensgefahr des Opfers.

    Wer auf kurze Distanz eine scharf geladene (wenn auch gesicherte oder
nicht durchgeladene) Waffe auf das Opfer richtet, schafft eine konkrete
Lebensgefahr im Sinne des neuen Gesetzestextes.

Sachverhalt

    A.- K. verübte am 8. Januar 1982, 19.30 Uhr, einen Raubüberfall auf
die Coop-Filiale in Horw. Nachdem er den Laden einige Zeit von aussen
beobachtet und sich dann im gegenüberliegenden Restaurant das nähere
Vorgehen überlegt hatte, betrat er das Geschäft und hielt sich vorerst beim
Stand für Schallplatten auf, da er von dort aus die drei Kassen, von denen
nur eine bedient war, gut beobachten konnte. Dabei stellte er sich vor,
dass die Kassiererin sicher einmal den Platz verlassen werde und sich
dann eine Gelegenheit ergebe, Geld aus der Kasse zu stehlen. Zu diesem
Zweck versuchte er zunächst, die Kassiererin von der Kasse wegzulocken,
indem er sie fragte, ob sie ihm eine Schallplatte abspielen könnte. Da
dies nicht möglich war, beschloss er, sie mit der Pistole zu bedrohen und
so zur Herausgabe von Geld zu veranlassen. Er behändigte eine Schallplatte
und begab sich damit in einem günstigen Augenblick zur Kasse. Dort setzte
er sich schräg auf das Warenförderband, so dass die Kundschaft von hinten
sein Handeln nicht sehen konnte, und sagte: "Überfall, Geld her", während
er gleichzeitig seine geladene, jedoch gesicherte Waffe aus dem Hosenbund
zog und auf die Kassiererin richtete. Angesichts dieser Bedrohung öffnete
sie die Kasse und reichte K. ein Bündel Noten, insgesamt Fr. 3'200.--,
worauf dieser das Geschäft fluchtartig verliess.

    B.- Mit Urteil vom 23. April 1982 verurteilte das Kriminalgericht des
Kantons Luzern den Angeklagten wegen Raubes im Sinne des alten Art. 139
Ziff. 2 StGB (Todesdrohung) sowie wegen Widerhandlung gegen §§ 9 und 18
der kantonalen Waffenverordnung vom 3. November 1980 zu fünf Jahren und
einem Monat Zuchthaus, abzüglich 21 Tage Untersuchungshaft.

    Auf Appellation des Angeklagten hin verurteilte ihn das Obergericht des
Kantons Luzern am 18. November 1982 wegen Raubes im Sinne des am 1. Oktober
1982 in Kraft gesetzten revidierten Art. 139 Ziff. 2 Abs. 3 StGB (besondere
Gefährlichkeit) und wegen Widerhandlung gegen die Waffenverordnung zu
drei Jahren Zuchthaus, abzüglich 21 Tage Untersuchungshaft, und zu einer
Busse von Fr. 50.--.

    C.- Gegen dieses Urteil führt die Staatsanwaltschaft des Kantons
Luzern Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts
sei aufzuheben und K. sei wegen qualifizierten Raubes nach alt Art. 139
Ziff. 2 StGB (Todesdrohung) zu verurteilen. K. beantragt Abweisung der
Nichtigkeitsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Staatsanwaltschaft macht geltend, der revidierte Art.  139 StGB
sei für den Beschwerdegegner nicht das mildere Recht, da dessen Ziff.
3 (Lebensgefahr des Opfers) zur Anwendung gebracht werden müsste, welche
die gleiche Strafe androhe wie Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2 StGB der alten
Fassung (Todesdrohung), nämlich Zuchthaus nicht unter fünf Jahren.

    Demgegenüber stellt sich der Beschwerdegegner mit der Vorinstanz im
wesentlichen auf den Standpunkt, die "Lebensgefahr" gemäss dem revidierten
Art. 139 Ziff. 3 StGB verlange eine objektive und konkrete Gefährdung,
welche durch das Vorhalten einer geladenen, jedoch gesicherten Schusswaffe
noch nicht erfüllt sei. Mit andern Worten seien an die durch die Revision
geschaffene Formulierung der "Lebensgefahr" strengere Anforderungen
zu stellen, als dies das Bundesgericht in Auslegung des im alten Recht
enthaltenen Begriffs "Todesdrohung" (BGE 107 IV 113) getan habe.

Erwägung 2

    2.- Der revidierte Art. 139 StGB (in Kraft seit 1. Oktober 1982)
enthält für den qualifizierten Raub nicht mehr das Kriterium der "Bedrohung
mit dem Tode". Neues Qualifikationsmerkmal ist die "Lebensgefahr", also
nicht die Drohung mit einer Gefahr für das Leben, sondern die Verursachung
einer konkreten, unmittelbaren Lebensgefahr.

    a) Die frühere Fassung von Art. 139 StGB war insofern unzulänglich,
als die Bedrohung mit einer Lebens- bzw. Todesgefahr sowohl Teil des
Grundtatbestandes (Ziff. 1: Bedrohung mit einer gegenwärtigen Gefahr für
das Leben) als auch Qualifikationsmerkmal (Ziff. 2: Bedrohung mit dem Tode)
war. Dieser Ungereimtheit trug die Bundesgerichtspraxis Rechnung, indem
sie den qualifizierten Tatbestand einschränkend auslegte (BGE 102 IV 19,
72 IV 57), um so das hohe Strafminimum von fünf Jahren nicht in objektiv
harmlosen Fällen anwenden zu müssen. Als qualifizierte Todesdrohung
galt danach nicht jede (abstrakte) Bedrohung mit dem Tode (etwa mit
ungeladener Waffe, Spielzeugpistole), die dem Opfer als ernstgemeinte
Drohung erscheinen musste, sondern nur jene ernstgenommene Bedrohung,
die objektiv unmittelbar in die Tat umgesetzt werden konnte und das Opfer
tatsächlich in eine hochgradige Todesgefahr versetzte (BGE 107 IV 112,
105 IV 302).

    Eine im Sinne dieser Umschreibung erhebliche und unmittelbare
Todesgefahr verursacht der Täter, wenn er beim Raub eine scharf geladene
Waffe auf kurze Distanz auf einen Menschen richtet. Das Vorhalten
einer geladenen Schusswaffe schafft diesfalls auch dann eine konkrete
Todesgefahr, wenn die Waffe gesichert ist. Der Versuch, die Grenze
zwischen der abstrakten und konkreten Lebens- bzw. Todesgefahr mit dem
Kriterium der Waffensicherung zu ziehen, lässt ausser acht, dass eine
geladene Waffe in der Regel in Sekundenschnelle und ohne Mühe entsichert
werden kann. Auch können Aufregung, unvorhergesehene Reaktion des Opfers,
Eingreifen eines Dritten usw., gerade bei Gelegenheitsdelinquenten, zu
einer plötzlichen Fehlreaktion und damit zur Schussabgabe führen, und zwar
selbst dann, wenn der Täter vorher beabsichtigt hatte, von der Waffe keinen
Gebrauch zu machen (BGE 107 IV 112). Es liegt deshalb auf der Hand, dass
die Sicherung der Schusswaffe kein taugliches Abgrenzungsmittel zwischen
abstrakter und konkreter Lebens- bzw. Todesgefahr sein kann. Dazu kommt -
ebenso wie bei der Frage der Verwirklichungsbereitschaft (vgl. BGE 105
IV 302 E. 2) - die praktische Überlegung, dass im Falle der Bestreitung
schwer nachzuweisen wäre, ob die Waffe tatsächlich gesichert war.

    b) Die Neufassung hatte in erster Linie den Zweck, den erwähnten
Widerspruch zwischen dem Grundtatbestand und der qualifizierten
Begehungsform zu beseitigen (Botschaft des Bundesrates in BBl 1980 I
S. 1258). Darüber hinaus stellt sich aber die Frage, ob der Gesetzgeber
den neuen qualifizierten Tatbestand, der den Täter für die Schaffung einer
Lebensgefahr mit einer Mindeststrafe von fünf Jahren Zuchthaus bedroht
(Art. 139 Ziff. 3 StGB), gegenüber der bundesgerichtlichen Auslegung des
früheren Gesetzestextes enger begrenzen wollte.

    Die Vorbereitungsarbeiten und Gesetzesberatungen im Parlament geben
keine Anhaltspunkte dafür, dass mit der Revision eine Strafmilderung für
den Raub unter Einsatz einer Schusswaffe beabsichtigt war. Die Botschaft
des Bundesrates erwähnt lediglich, dass die Mindeststrafe von fünf
Jahren Zuchthaus für das blosse Mitführen einer Waffe zu hoch erscheine
(BBl 1980 I S. 1258). Den Beratungsprotokollen der Expertenkommission
ist zu entnehmen, dass hierfür eine Mindeststrafe von drei bzw. zwei
Jahren Zuchthaus erwogen wurde. Mit lediglich einer Stimme mehr (6:5)
stimmte die Kommission dafür, dem Parlament eine Mindeststrafe von zwei
Jahren vorzuschlagen (Protokoll S. 223). Dass dieses dann dem Vorschlag der
Kommission nicht folgte und das Strafminimum sogar auf ein Jahr herabsetzte
(Art. 139 Ziff. 1bis StGB), darf nicht zum Schluss verleiten, man habe
beim Raub den bewaffneten Täter ganz allgemein milder bestrafen wollen.

    Bezüglich des neu formulierten Qualifikationsmerkmals der Schaffung
einer Lebensgefahr für das Opfer wurde beispielsweise von einer
"echten" Lebensgefahr (Gerber, Protokoll S. 220) oder einer "echten"
Gefahr für das Opfer gesprochen (Noll, Protokoll S. 221). Eine echte,
konkrete Lebensgefahr verlangte aber das Bundesgericht bereits in seiner
einschränkenden Auslegung des bisherigen Qualifikationsmerkmals der
"Todesdrohung". Von dieser Rechtsprechung im Sinne einer weiteren
Begrenzung abzuweichen, lag offensichtlich nicht im Bestreben des
Gesetzgebers, sonst wäre dies im Laufe der Beratungen deutlich zum
Ausdruck gebracht worden. Der Gesetzgeber beabsichtigte also vielmehr,
mit dem neuen Gesetzestext die bestehende Praxis zu kodifizieren. Der
Kommissionspräsident verdeutlichte diese Zielsetzung mit der Feststellung:
"Besser wäre es, den Inhalt dieser Qualifikation, wie er vom Bundesgericht
ausgelegt wird, ausdrücklich zu nennen, in Erfüllung des parlamentarischen
Postulates, dass man dort, wo es konkret um die Gefährdung des Lebens
geht, qualifiziert." (Schultz, Protokoll S. 220). Abgesehen davon
sprechen auch die im Zuge der Revisionsarbeiten zum Ausdruck gebrachten
kriminalpolitischen Überlegungen gegen eine Strafmilderung beim Raub
unter Waffeneinsatz.

    c) Der Beschwerdegegner macht geltend, durch das Vorhalten der Waffe
sei er wohl über das Mitführen (Art. 139 Ziff. 1bis StGB) hinausgegangen,
doch habe sich daraus nicht eine konkrete Lebensgefährdung ergeben, sondern
eine "besondere Gefährlichkeit". Diese aber wolle der Gesetzgeber gerade
nicht mit der strengsten Strafe geahndet wissen, denn er habe dafür das
mildere Strafminimum von zwei Jahren statuiert.

    Dieses Argument ist nicht stichhaltig. Das frühere
Qualifikationsmerkmal der "besonderen Gefährlichkeit" (Art. 139 Ziff. 2
Abs. 4 StGB) bildet jetzt nur noch die Generalklausel zur mittleren
Qualifikationsstufe (Bandenmässigkeit). Aus dem Umstand, dass für die
"besondere Gefährlichkeit" nunmehr ein gegenüber früher geringeres
Strafminimum vorgesehen ist, kann deshalb nicht geschlossen werden, es
müssten an das mit dem höheren Strafminimum versehene Qualifikationselement
der Schaffung einer "Lebensgefahr" höhere Anforderungen gestellt
werden. Auch die "schwere Körperverletzung", die früher zusammen mit der
Bedrohung mit dem Tode angeführt war (Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2 StGB), wurde
mit dieser aus dem Konnex mit dem Qualifikationsmerkmal der besonderen
Gefährlichkeit gelöst und dem Strafminimum von fünf Jahren unterstellt,
ohne dass irgendwelche Anhaltspunkte dafür beständen, dass der Begriff
der schweren Körperverletzung gegenüber früher eine Verschärfung erfahren
hätte.

    d) Aus allen diesen Gründen ist die Neufassung des qualifizierten
Tatbestandes, bei dem das "Opfer in Lebensgefahr" gebracht wird (neuer
Art. 139 Ziff. 3 StGB), gemäss der bisherigen Rechtsprechung zur
"Todesdrohung" (alter Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2 StGB) auszulegen.

Erwägung 3

    3.- Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass das Vorgehen des
Beschwerdegegners nach neuem Recht unter Ziff. 3 des revidierten Art. 139
StGB subsumiert werden müsste. Diese Bestimmung droht die gleiche Strafe
an wie der zur Zeit der Begehung geltende und von der ersten Instanz zu
Recht angewendete Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2 StGB. Da somit das neue Gesetz
für den Beschwerdegegner nicht das mildere im Sinne von Art. 2 Abs. 2
StGB ist, hat die Bestrafung nach dem zur Zeit der Tatbegehung geltenden
Recht zu erfolgen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil der II. Kammer
des Obergerichts des Kantons Luzern vom 18. November 1982 aufgehoben und
die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie den Beschwerdegegner
aufgrund von alt Art. 139 Ziff. 2 Abs. 2 StGB bestrafe.