Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 II 60



109 II 60

16. Urteil der II. Zivilabteilung vom 27. Januar 1983 i.S. Waadt-Leben
gegen Richner (Berufung) Regeste

    Versicherungsvertrag: Rücktritt wegen Anzeigepflichtverletzung.

    Ob die Anzeigepflicht verletzt ist und deshalb ein Rücktrittsrecht
des Versicherers nach Art. 6 VVG besteht, beurteilt sich unabhängig von
einem allfälligen Verschulden des Versicherungsnehmers.

Sachverhalt

    A.- Am 12. Dezember 1973 schloss Heinz Richner mit der
Lebensversicherungsgesellschaft Waadt-Leben eine temporäre
Todesfallversicherung ab. Danach sollte im Falle des Ablebens des
Versicherungsnehmers vor dem 1. Januar 1994 eine Versicherungsleistung
von Fr. 50'000.-- fällig werden. Eine weitere Versicherungsleistung
gleicher Höhe wurde auf den Zeitpunkt des Todes der Ehefrau vereinbart,
falls diese den Versicherungsnehmer überlebe und vor 1994 sterbe. Am
29. Dezember 1978 starb Heinz Richner.

    Mit Schreiben vom 15. Februar 1979 teilte die Versicherungsgesellschaft
der Witwe Richners mit, sie trete wegen Verletzung der Anzeigepflicht
durch den Versicherungsnehmer vom Vertrag zurück. In der schriftlichen
Gesundheitserklärung zum Antragsformular habe Richner seinerzeit
verschiedene Krankheiten, nach denen ausdrücklich gefragt worden sei,
verschwiegen. Wie die Gesellschaft später präzisierte, handelte es sich
dabei namentlich um folgende vor Vertragsabschluss festgestellten Leiden:
Diskopathie, Hypertonie und Angina pectoris.

    Am 11. Januar 1980 reichte Jeannette Richner-Kammerer gegen die
Versicherungsgesellschaft beim Bezirksgericht Liestal Klage ein, mit der
sie die Versicherungsleistung von Fr. 50'000.-- und die Feststellung des
Weiterbestandes des Versicherungsvertrages verlangte. Mit Entscheid vom
12. November 1981 hiess das Bezirksgericht die Klage gut. Dieses Urteil
wurde am 15. Juni 1982 durch das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft
bestätigt.

    Mit Berufung beim Bundesgericht verlangt die Beklagte die Aufhebung
des obergerichtlichen Urteils und die Abweisung der Klage. Die Klägerin
beantragt die Abweisung der Berufungsbegehren und die Bestätigung des
vorinstanzlichen Urteils.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 6 des Bundesgesetzes vom 2. April 1908 über den
Versicherungsvertrag (SR 221.229.1; VVG) kann der Versicherer vom
Vertrag zurücktreten, "wenn der Anzeigepflichtige beim Abschluss der
Versicherung eine erhebliche Gefahrentatsache, die er kannte oder kennen
musste, unrichtig mitgeteilt oder verschwiegen hat". Art. 4 Abs. 2 VVG
bezeichnet diejenigen Gefahrstatsachen als erheblich, "die geeignet sind,
auf den Entschluss des Versicherers, den Vertrag überhaupt oder zu den
vereinbarten Bedingungen abzuschliessen, einen Einfluss auszuüben". Dabei
werden nach Art. 4 Abs. 3 VVG die Gefahrentatsachen als erheblich vermutet,
"auf welche die schriftlichen Fragen des Versicherers in bestimmter,
unzweideutiger Fassung gerichtet sind". Art. 8 VVG zählt die besonderen
Tatbestände auf, bei deren Vorliegen dem Versicherer das Rücktrittsrecht
trotz Anzeigepflichtverletzung nicht zusteht.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanz stellte fest, dass die klaren Fragen nach zu hohem
Blutdruck, Herzschmerzen, Nierenleiden und Rücken- oder Kreuzbeschwerden
vom Versicherungsnehmer bei der Antragsstellung unrichtig beantwortet
wurden.

    Mit Rücksicht auf das kantonale Prozessrecht hielt sie fest, der von
der Versicherung erst im kantonalen Appellationsverfahren vorgebrachte
Hinweis auf Spontanabgänge von Nierensteinen beim Versicherten könne
nicht berücksichtigt werden. Als unrichtig beantwortet verbleiben deshalb
noch die Fragen nach zu hohem Blutdruck (Hypertonie), nach Herzschmerzen
(Angina pectoris) und nach nicht näher umschriebenen Rückenbeschwerden,
welche als Diskopathie oder Diskushernie bezeichnet werden. Gemäss Art. 63
Abs. 2 OG hat das Bundesgericht diese Feststellungen seiner Entscheidung
zugrunde zu legen. Soweit die Klägerin und Berufungsbeklagte in Zweifel
zieht, ob die entsprechenden Leiden gestützt auf das Beweisergebnis als
nachgewiesen angesehen werden dürfen, übt sie unzulässige Kritik an dem
für das Bundesgericht verbindlich festgelegten Sachverhalt (Art. 55 Abs. 1
lit. c OG). Da die vom Versicherten nicht angegebenen Leiden im Sinne
von Art. 4 Abs. 3 VVG als erhebliche Gefahrentatsachen zu würdigen sind,
ist der Rücktritt der Versicherungsgesellschaft vom Versicherungsvertrag
als rechtswirksam zu betrachten, sofern nicht nachgewiesen wird, der
Versicherte habe diese Gefahrentatsachen nicht gekannt und nicht kennen
müssen (Art. 6 VVG).

Erwägung 3

    3.- a) Die Vorinstanz geht im angefochtenen Urteil davon aus,
der Versicherungsnehmer habe im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses die
in Frage stehenden Leiden infolge eines - wie sich im Zusammenhang
mit der Spitaleinlieferung im Jahre 1978 herausstellen sollte - nur
vorübergehenden Vergessens nicht mehr gekannt. Die Frage, ob er diese
Leiden damals hätte kennen müssen, beurteilt sich nach der durch Auslegung
von Art. 6 VVG gewonnenen Meinung der Vorinstanz nach dem Mass der Schuld,
die den Anzeigepflichtigen trifft. Wenn dem Antragsteller bei seiner
Erinnerungsanstrengung nur leichte Fahrlässigkeit vorgeworfen werde,
so könne man nicht sagen, er hätte die vergessenen Gefahrentatsachen
kennen müssen.

    b) Die Vorinstanz glaubt, in der in BGE 96 II 204 umschriebenen
Rechtsprechung eine Stütze für diese Betrachtungsweise zu finden. In
diesem Entscheid (E. 4, S. 209 ff. mit Hinweisen) führte das Bundesgericht
aus, aus dem Wortlaut von Art. 4 und 6 VVG ergebe sich klar, dass weder
nach einem rein subjektiven noch nach einem rein objektiven Kriterium
zu beurteilen sei, ob ein Antragsteller seine Anzeigepflicht erfüllt
oder verletzt habe. Indem das Gesetz sich nicht damit begnüge, dass
der Antragsteller dem Versicherer in Beantwortung entsprechender Fragen
die ihm tatsächlich bekannten (von seinem positiven subjektiven Wissen
erfassten) erheblichen Gefahrentatsachen mitteile, sondern darüber hinaus
vorschreibe, der Antragsteller habe auch die erheblichen Gefahrentatsachen
anzuzeigen, die ihm bekannt sein müssen, stelle es ein objektives (vom
tatsächlichen Wissen des Antragstellers über den konkreten Sachverhalt
unabhängiges) Kriterium auf. Bei der Anwendung dieses Kriteriums seien
jedoch die Umstände des einzelnen Falles, insbesondere die persönlichen
Eigenschaften (Intelligenz, Bildungsgrad, Erfahrung) und die persönlichen
Verhältnisse des Antragstellers zu berücksichtigen. Dieser habe nämlich
dem Versicherer nach Art. 6 VVG neben den ihm tatsächlich bekannten
nicht allgemein die zur Zeit des Vertragsschlusses objektiv erkennbaren
Gefahrentatsachen mitzuteilen; vielmehr habe er auf schriftliches
Befragen hin die erheblichen Gefahrentatsachen nur soweit anzugeben,
als diese ihm bekannt sein müssten. Das bringe die herrschende Lehre
dadurch zum Ausdruck, dass es nicht auf eine objektive, sondern lediglich
auf eine subjektive Vollständigkeit und Richtigkeit der Angaben des
Anzeigepflichtigen ankommen solle.

    Mit dieser Rechtsprechung, an der festzuhalten ist, wurde nur
das vom Gesetz im Einzelfall vorgeschriebene Mass an Sorgfalt näher
umschrieben. Danach ist entscheidend, ob und wieweit ein Antragsteller
nach seiner Kenntnis der Verhältnisse und gegebenenfalls nach den ihm von
fachkundiger Seite erteilten Aufschlüssen eine Frage des Versicherers in
guten Treuen verneinen durfte. Er genügt seiner Anzeigepflicht nur, wenn er
ausser den ihm ohne weiteres bekannten Tatsachen auch diejenigen angibt,
deren Vorhandensein ihm nicht entgehen kann, wenn er über die Fragen des
Versicherers ernsthaft nachdenkt (BGE 96 II 211 mit Hinweisen). Darüber
hinaus verzichtet das Bundesgericht in diesem Entscheid ausdrücklich auf
eine Erörterung der Bedeutung eines Verschuldens bei der Beurteilung der
Frage, ob eine Verletzung der Anzeigepflicht vorliege.

    c) Die Frage nach dem Verschulden muss im Rahmen der geltenden
gesetzlichen Regelung ausser Betracht fallen. Wann die Anzeigepflicht
verletzt ist, beurteilt sich verschuldensunabhängig nach den in
der Rechtsprechung dargelegten und sub E. 3b zusammengefassten
Kriterien. Im Gegensatz zum vertraglich vereinbarten Rechtsnachteil
bei der Verletzung einer Obliegenheit gemäss Art. 45 Abs. 1 VVG
ist im Gesetz nicht vorgesehen, dass der Versicherte die Folge der
Verletzung der gesetzlichen Anzeigepflicht, das Rücktrittsrecht des
Versicherers, unwirksam machen kann, indem er nachweist, die Verletzung
der Anzeigepflicht sei unverschuldet. Diese Folge der Verletzung der
gesetzlichen Anzeigepflicht soll nach dem Willen des Gesetzes nur dann
nicht eintreten, wenn ein in Art. 8 VVG umschriebener besonderer Umstand
vorliegt. Auch die jüngere Literatur vertritt diese Auffassung (KÖNIG,
Schweizerisches Versicherungsrecht, 3. Aufl., S. 179; derselbe, Der
Versicherungsvertrag, in Schweizerisches Privatrecht, Bd. VII/2, S. 593;
MAURER, Einführung in das Schweizerische Privatversicherungsrecht, S. 174
Ziff. 4; ebenso früher GANTENBEIN, Die ausserordentliche Beendigung des
Versicherungsvertrages, Diss. Zürich 1939, S. 67). Etwas anderes vertreten
auch ROELLI/KELLER (Kommentar zum VVG, Bd. 1, S. 122 f.) nicht. Nach ihnen
hat der Gesetzgeber auf die Verletzung der Anzeigepflicht schlechthin
abgestellt und damit bewusst nicht zwischen schuldhafter und schuldloser
Anzeigepflichtverletzung unterschieden.

    Dieser Regelung der Folgen der Anzeigepflichtverletzung liegt eine
Interessenabwägung zugrunde. Der Versicherer ist darauf angewiesen,
dass er sein Versicherungsrisiko einigermassen zuverlässig abschätzen
kann. Dabei muss er sich auf die Einhaltung der gesetzlich umschriebenen
Sorgfaltspflichten bei der Bekanntgabe von Gefahrentatsachen verlassen
können. Ob die Verletzung der Sorgfaltspflicht zugleich einen Schuldvorwurf
bedeuten könnte, ist aus dieser Sicht belanglos. Der Versicherungsnehmer
seinerseits ist an einer möglichst günstigen, dem tatsächlichen Risiko
entsprechenden Prämie interessiert und muss deshalb in Kauf nehmen,
dass die Versicherung beim Entdecken von verschwiegenen oder unrichtig
mitgeteilten Gefahrentatsachen vollständig vom Vertrag zurücktreten
kann. Das "Alles-oder-nichts-Prinzip" nach Art. 6 VVG mag dabei hart
erscheinen, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass zwischen der
Anzeigepflichtverletzung und dem Eintritt des befürchteten Ereignisses
kein Kausalzusammenhang erforderlich ist. Dies rechtfertigt jedoch nicht,
durch eine Exkulpationsmöglichkeit bei bloss leichter Fahrlässigkeit
die gesetzliche Regelung auszuhöhlen. Das Abstellen der Vorinstanz auf
das Verschulden und insbesondere auf den Grad des Verschuldens findet im
Gesetz keinen Rückhalt und ist bundesrechtswidrig (BGE 47 II 480).

Erwägung 4

    4.- Die Vorinstanz geht davon aus, dass der Versicherungsnehmer
über eine gute Intelligenz verfügt habe und auch in bezug auf das
Gedächtnis nicht negativ aufgefallen sei. Sie hält fest, dass er sich bei
angestrengtem Nachdenken im Zusammenhang mit dem Versicherungsvertrag
vom 12. Dezember 1973 an die vier bzw. fünf Jahre zurückliegenden
Arztkonsultationen wegen klemmenden Beschwerden in der Herzgegend beim
Treppensteigen und wegen einer Diskopathie hätte erinnern können. Nachdem
somit feststeht, dass die unrichtigen Antworten in der Gesundheitserklärung
bei ernsthaftem Nachdenken und gebotener Sorgfalt hätten vermieden
werden können, ist die Verletzung der Anzeigepflicht als hinreichend
nachgewiesen zu betrachten. Der Beklagten stand daher das Recht zu,
vom Vertrag zurückzutreten, und die Klage ist mithin abzuweisen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons
Basel-Landschaft vom 15. Juni 1982 aufgehoben und die Klage abgewiesen.