Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 II 47



109 II 47

13. Urteil der I. Zivilabteilung vom 4. Mai 1983 i.S. Erbengemeinschaft
Haemmerli gegen Ems-Chemie Holding AG und Bezirksgerichtspräsidium Imboden
(staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 697 Abs. 3 OR. Auskunftsrecht des Aktionärs.

    1. Der Aktionär kann dieses Recht auch durchsetzen, wenn er auf eine
Anfechtung von Generalversammlungsbeschlüssen verzichtet. Zuständigkeit
nach kantonalem Recht und deren Folgen (E. 2).

    2. Inhalt und Umfang des Anspruchs auf Auskunfterteilung (E. 3).

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Erbengemeinschaft Viktor Haemmerli führt staatsrechtliche
Beschwerde gegen einen Entscheid des Bezirksgerichtspräsidiums Imboden,
das am 21. Mai 1982 ihr Gesuch, die Ems-Chemie Holding AG bei Strafe
zur Auskunft über bestimmte Belange zu verpflichten, vollumfänglich
abgewiesen hat. Als Mitaktionärin wollte sie insbesondere über stille
Reserven der Gesellschaft und der Patvag Holding AG, über die Ertragswerte
und -aussichten der beiden Unternehmen, über die Bewertung eingebrachter
Patente und Beteiligungen sowie über die Berechnungsgrundlagen näher
unterrichtet werden.

    Die Beschwerdeführerin beantragt, den angefochtenen Entscheid wegen
Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben. Die Ems-Chemie Holding AG hält die
Beschwerde für unzulässig, jedenfalls aber für unbegründet.

Erwägung 2

    2.- Das Recht auf Auskunfterteilung gemäss Art. 697 OR ist
als selbständiges Mitgliedschaftsrecht des Aktionärs zu verstehen
(BGE 95 II 161/62 mit Hinweisen); es kann folglich für sich allein
in einem Verfahren durchgesetzt werden, das insbesondere nicht mit
einem Anfechtungsverfahren gemäss Art. 706 OR zusammenhängen oder
vereinigt werden muss. Es schadet der Beschwerdeführerin daher nicht,
dass sie sich mit dem Beschluss der Generalversammlung vom 30. Oktober
1980 über die Fusion der Beschwerdegegnerin mit der Patvag Holding AG
abgefunden und ihr Rechtsbegehren auf Auskünfte gemäss Art. 697 Abs. 3
OR beschränkt hat; sie kann auch abgesehen von ihrem Verzicht auf eine
Anfechtungsklage ein aktuelles und ausreichendes Interesse daran haben, das
jedem Aktionär zustehende Auskunfts- und Kontrollrecht auszuüben, z.B. um
sich Unterlagen oder Anhalte für allfällige Verantwortlichkeitsansprüche zu
verschaffen. Ihr Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheides
ist daher zu bejahen (BGE 106 Ia 152 E. 1a mit Hinweisen), mag ihr
Aufschlussbegehren sich teilweise auch auf Fragen beziehen, auf deren
Beantwortung sie schon an der Generalversammlung vom 30. Oktober 1980
umsonst bestanden hat.

    Der Bezirksgerichtspräsident hatte über das Aufschlussbegehren
der Beschwerdeführerin gemäss Art. 697 Abs. 3 OR erst- und zugleich
letztinstanzlich zu entscheiden, da das kantonale Verfahrensrecht gegen
seinen Entscheid weder ein ordentliches noch ein ausserordentliches
Rechtsmittel vorsieht (Art. 1 lit. b Ziff. 5 und Art. 3 Abs. 1 der
Ausführungsverordnung zum OR vom 18. November 1950). Sein Urteil ist
deshalb nicht berufungsfähig, was aus den in BGE 85 II 285/86 angeführten
Gründen wegen der Bedeutung, die einem solchen Begehren zukommen kann,
freilich nicht befriedigt; die Gesuchstellerin konnte das Urteil nur
mit staatsrechtlicher Beschwerde ans Bundesgericht weiterziehen (Art. 84
Abs. 2 OG). Auf ihr Rechtsmittel ist daher einzutreten.

    Ihre Ausführungen gegen die Person des Bezirksgerichtspräsidenten,
den das Bundesgericht in einem ähnlichen Verfahren wegen Befangenheit
in Ausstand versetzt habe, sind davon allerdings zum vorneherein
auszunehmen. Die Beschwerdeführerin hat im neuen Verfahren weder den
Ausstand des Gerichtspräsidenten verlangt noch rügt sie die Tatsache,
dass er nicht von sich aus in den Ausstand getreten ist, als Verletzung
von Art. 4 BV.

Erwägung 3

    3.- Nach dem angefochtenen Entscheid geht es nicht an, dass die
Beschwerdeführerin mit ihrem Aufschlussbegehren gestützt auf Art. 630 OR
eine Ergänzung des verwaltungsrätlichen Berichts zu erwirken versucht. Der
Gerichtspräsident hat das Begehren vor allem abgewiesen, weil die
Beschwerdeführerin in jeder Beziehung eingehende Auskünfte verlange,
Art. 697 Abs. 3 OR aber nur die Vorlage beglaubigter Abschriften
aus Geschäftsbüchern oder von Korrespondenzen vorsehe. Die verlangten
Auskünfte beträfen zudem mehrheitlich die Patvag Holding AG, von der die
Beschwerdeführerin schon deshalb keine Aufschlüsse erwarten dürfe, weil
sie nicht zu ihren Aktionären gehöre. Über das Ausmass der stillen Reserven
habe eine Gesellschaft ohnehin nicht Auskunft zu geben, sondern bloss über
deren Bildung und Verwendung (Art. 663 Abs. 3 OR); das gelte auch im Falle
der Fusion von Gesellschaften. Dazu komme, dass nähere Angaben über stille
Reserven, Ertragswerte und -aussichten, Einzelbewertungen von Patenten und
Beteiligungen der Patvag Holding AG sowie über Berechnungsgrundlagen zur
Geheimsphäre einer Gesellschaft gehörten und deshalb zu unterlassen seien.

    a) Es trifft zu, dass das Gesuch der Beschwerdeführerin nicht
auf Vorlage beglaubigter Abschriften, sondern auf Auskunfterteilung
lautet. Nach seinem ganzen Inhalt, insbesondere den wiederholten Hinweisen
auf die entscheidende gesetzliche Bestimmung über die Auskunfterteilung
an die Aktionäre, konnten indes zum vorneherein keine Zweifel darüber
bestehen, dass die Beschwerdeführerin auf die in Art. 697 Abs. 3 OR
vorgesehene Weise unterrichtet werden wollte; eine andere Verfügung
durfte sie vom Richter mit ihrem Begehren, das sich übrigens mit dem
Marginale der Bestimmung deckt, nach deren klarem Wortlaut gar nicht
verlangen. Die Auffassung des Gerichtspräsidenten läuft deshalb auf
eine willkürliche Anwendung von Bundesrecht hinaus, das den Anspruch
des Aktionärs auf Auskunfterteilung umschreibt und deshalb auch für die
Auslegung des Aufschlussbegehrens massgebend ist (vgl. BGE 101 II 377 ff.
und 99 Ia 360 E. 1).

    Gewiss hat der Aktionär nur der eigenen Gesellschaft gegenüber
Anspruch auf Auskunft; das ist der Beschwerdeführerin übrigens nicht
entgangen, richtet sich ihr Gesuch doch bloss gegen die Ems-Chemie Holding
AG. Die Sachlegitimation sagt über den Inhalt des Anspruchs aber nichts
aus. Der sachliche Umfang der Auskunftspflicht ergibt sich vielmehr aus
dem Sinn und Zweck des Art. 697 Abs. 3 OR, der dem Aktionär Anspruch
auf sachdienliche Aufschlüsse gibt, damit er sein Kontrollrecht ausüben
kann. Da die richterlich angeordnete Auskunfterteilung sich auf beglaubigte
Abschriften aus Geschäftsbüchern und von Korrespondenzen zu beschränken
hat, müssen die erheblichen Tatsachen daraus hervorgehen, gleichviel ob
sie sich nur auf die Gesellschaft oder auch auf Dritte beziehen. Bei
Fusionen darf zudem angenommen werden, dass die ihrer Vorbereitung
dienenden Unterlagen Bestandteil der Akten beider Gesellschaften bilden.

    Indem der Gerichtspräsident das Gesuch der Beschwerdeführerin mit
dem sachfremden und daher unhaltbaren Vorhalt abgewiesen hat, die von
ihr verlangten Aufschlüsse beträfen vor allem die Patvag Holding AG,
urteilte er willkürlich, zumal er die nötigen Erhebungen von Amtes wegen
zu machen hatte (Art. 2 Abs. 1 der kantonalen Ausführungsverordnung zum
OR), bevor er entschied.

    b) Durch die richterliche Verfügung, dem Aktionär durch beglaubigte
Abschriften aus Geschäftsbüchern oder von Korrespondenzen über erhebliche
Tatsachen Auskunft zu erteilen, dürfen gemäss Art. 697 Abs. 3 OR die
Interessen der Gesellschaft nicht gefährdet werden. Nach einem in
der Rechtsprechung und Lehre anerkannten Grundsatz muss eine solche
Gefährdung durch konkrete Vorbringen behauptet werden und zudem als
wahrscheinlich erscheinen (BGE 82 II 222; BÜRGI, N. 35 zu Art. 697
OR; SCHUCANY, N. 6 zu Art. 697 OR; WYSS, Das Recht des Aktionärs auf
Auskunfterteilung Art. 697 OR) unter besonderer Berücksichtigung des Rechts
der Unternehmenszusammenfassungen, Diss. Zürich 1953, S. 175 ff.; SCHLUEP,
Die wohlerworbenen Rechte des Aktionärs und ihr Schutz nach schweizerischem
Recht, Diss. St. Gallen 1955, S. 185; WIDMER, Das Recht des Aktionärs
auf Auskunfterteilung de lege lata und de lege ferenda, Diss. Zürich
1961, S. 45). Über diesen Grundsatz hat sich der Gerichtspräsident
hinweggesetzt. Statt nähere Angaben zu verlangen und den Sachverhalt näher
abzuklären, hat er sich dem allgemeinen Einwand der Beschwerdegegnerin
angeschlossen, Ertragswerte und -aussichten, Einzelbewertungen von Patenten
und Beteiligungen sowie Berechnungsgrundlagen gehörten zur Geheimsphäre
einer Gesellschaft, die darüber keine Auskunft zu erteilen brauche. Darin
liegt Willkür (BGE 107 Ia 114 mit Hinweisen).

    c) Gegen die Auffassung des Gerichtspräsidenten, die Auskunft über
stille Reserven sei gemäss Art. 663 Abs. 3 OR zum vorneherein auf deren
Bildung und Verwendung zu beschränken, bringt die Beschwerdeführerin
nichts Besonderes vor. Sie schweigt sich entgegen der Vorschrift des
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG darüber aus, dass und inwiefern sich eine solche
Auffassung mit dem Sinn und Zweck des Gesetzes schlechterdings nicht
vertragen soll.Mit dem blossen Hinweis auf Art. 630 und 650 OR, die sie
für anwendbar hält, denen die besonderen Bestimmungen über die stillen
Reserven aber jedenfalls vorgehen, hat sie ihrer Begründungspflicht
nicht genügt. Es erübrigt sich daher auch eine Prüfung der Frage,
wie es sich mit dem weiteren Vorhalt des Gerichtspräsidenten verhält,
die Beschwerdeführerin dürfe im Verfahren nach Art. 697 Abs. 3 OR nicht
verlangen, dass der Bericht des Verwaltungsrates gestützt auf Art. 630
OR ergänzt werde.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf
einzutreten ist, und der Entscheid des Präsidenten des Bezirksgerichts
Imboden vom 21. Mai 1982 wird aufgehoben.