Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 II 382



109 II 382

80. Urteil der II. Zivilabteilung vom 10. November 1983 i.S. X. (Berufung)
Regeste

    Adoption eines Unmündigen; Absehen von der Zustimmung eines Elternteils
(Art. 265c Ziff. 2 ZGB).

    Die Beurteilung der Frage, ob sich ein Elternteil nicht ernstlich
um das Kind gekümmert habe, hängt grundsätzlich davon ab, ob zwischen
den beiden eine lebendige Beziehung bestehe. Fehlt eine solche trotz
intensiver Bemühungen des Elternteils aus Gründen, für die dieser nicht
verantwortlich ist, darf von dessen Zustimmung nicht abgesehen werden
(Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die ledige A. X. gebar am 10. Mai 1976 im Ausland den Sohn B. Da
es ihr nicht möglich war, das Kind bei sich zu behalten, überliess sie
es wenige Tage nach der Geburt einer Adoptionsvermittlungsstelle. Als
A. X. das Kind binnen der hierfür vorgesehenen gesetzlichen Frist
zurückverlangte, wurde ihr mitgeteilt, dass sie vorerst die bis dahin
aufgelaufenen Unterhaltskosten zu bezahlen habe. Hiezu war sie jedoch
nicht in der Lage. Am 9. November 1976 gab die Adoptionsvermittlungsstelle
B. in die Pflege des in der Schweiz wohnhaften kinderlosen Ehepaares Y.

    In den Jahren 1978/79 kam es zwischen A. X. und der
Adoptionsvermittlungsstelle zu gerichtlichen Auseinandersetzungen, wobei
sich ergab, dass keine rechtsgültige Erklärung von A. X. zur Freigabe
des Kindes zur Adoption vorgelegen hatte. Schon im Jahre 1978 hatte die
Adoptionsvermittlungsstelle die Pflegeeltern durch einen Anwalt ersuchen
lassen, den Knaben seiner Mutter zurückzugeben. Mit der gleichen Bitte
hatte sich auch A. X. persönlich an die Pflegeeltern gewandt, nachdem
sie vom Aufenthaltsort ihres Sohnes Kenntnis erhalten hatte. Die Eheleute
Y. waren jedoch mit einer Herausgabe des Kindes nicht einverstanden.

    Ende 1978 liess die zuständige Vormundschaftsbehörde A. X. wissen,
dass sie dem Begehren um persönlichen Kontakt mit dem Sohn nicht
entsprechen könne. Mit Beschluss vom 19. Oktober 1979 entschied sie ferner
gestützt auf Art. 274 Abs. 2 ZGB, dass A. X. das Besuchsrecht verweigert
werde. Zur Begründung wurde im wesentlichen angeführt, dem Kind sei nicht
zuzumuten, seine Mutter, von der es nichts wisse und deren Sprache es
nicht spreche, kennenzulernen. Zudem sei die Frage seiner Adoption immer
noch nicht geklärt, so dass sich schon unter diesem Gesichtspunkt ein
Kontakt zwischen Mutter und Sohn nicht empfehle. Eine von A. X. gegen
den vormundschaftsbehördlichen Entscheid eingereichte Beschwerde wies
die untere Aufsichtsbehörde am 18. Dezember 1980 ab. Deren Beschluss zog
A. X. an die obere kantonale Aufsichtsbehörde weiter, die am 24. Juli 1981
verfügte, dass auf die Beschwerde nicht eingetreten werde, weil darin nicht
die Verweigerung des Besuchsrechts gerügt, sondern die Rückgabe des Kindes
verlangt worden sei. Gegen diesen Entscheid erhob A. X. staatsrechtliche
Beschwerde an das Bundesgericht, dessen II. Zivilabteilung am 10. November
1981 entschied, dass auf die Beschwerde nicht eingetreten werde.

    Am 29. August 1980 hatte die Vormundschaftsbehörde gestützt auf
Art. 310 Abs. 3 ZGB ausserdem beschlossen, dass B. ohne ihre Einwilligung
von seinem heutigen Pflegeplatz nicht weggenommen werden dürfe.

    Im September 1981 erneuerten die Eheleute Y. das Adoptionsgesuch, das
sie im November 1978 bei der Vormundschaftsbehörde eingereicht hatten. Am
28. Januar 1982 stellte diese bei der unteren Aufsichtsbehörde den Antrag,
es sei gestützt auf Art. 265c Ziff. 2 ZGB von der Zustimmung der Mutter
zur Adoption von B. abzusehen. Diesem Antrag wurde mit Beschluss vom
8. April 1982 entsprochen. Eine von A. X. hiegegen erhobene Beschwerde
wies die obere Aufsichtsbehörde am 27. Dezember 1982 ab.

    Deren Entscheid hat A. X. mit Berufung an das Bundesgericht
weitergezogen.

    In Gutheissung der Berufung hebt das Bundesgericht den Entscheid der
oberen kantonalen Aufsichtsbehörde auf, und zwar aus folgenden

Auszug aus den Erwägungen:

                          Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die Adoption eines Kindes bedarf grundsätzlich der Zustimmung des
Vaters und der Mutter (Art. 265a Abs. 1 ZGB). Von der Zustimmung eines
Elternteils kann gemäss Art. 265c Ziff. 2 ZGB jedoch abgesehen werden,
wenn sich dieser um das Kind nicht ernstlich gekümmert hat. Zur Lösung
des Widerstreites zwischen den Interessen der leiblichen Eltern einerseits
und denjenigen des Kindes an einer Adoption andererseits wurde damit eine
Bestimmung in das Zivilgesetzbuch aufgenommen, die mit den Regelungen
im deutschen, österreichischen und vor allem im französischen Recht
vergleichbar ist. Gemäss § 1748 des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuches
hat das Vormundschaftsgericht auf Antrag des Kindes die Einwilligung eines
Elternteils zu ersetzen, wenn dieser seine Pflichten gegenüber dem Kind
anhaltend gröblich verletzt oder durch sein Verhalten gezeigt hat, dass
ihm das Kind gleichgültig ist, und wenn zudem das Unterbleiben der Annahme
dem Kind zu unverhältnismässigem Nachteil gereichen würde; ferner kann die
Einwilligung auch dann ersetzt werden, wenn die Pflichtverletzung zwar
nicht anhaltend, aber besonders schwer ist und das Kind voraussichtlich
dauernd nicht mehr der Obhut des betreffenden Elternteils anvertraut werden
kann. Nach § 181 Abs. 3 des österreichischen Allgemeinen bürgerlichen
Gesetzbuches hat das Gericht eine verweigerte Zustimmung auf Begehren
eines Antragsberechtigten zu ersetzen, wenn keine gerechtfertigten Gründe
für die Verweigerung vorliegen. Der französische Code civil bestimmt
in Art. 348-6, dass das zuständige Gericht die Adoption auch gegen den
Willen der leiblichen Eltern aussprechen kann, wenn es die Verweigerung
der Zustimmung für missbräuchlich hält, weil sich die Eltern oder der
fragliche Elternteil so wenig um das Kind gekümmert haben, dass dessen
körperliches oder geistiges Wohl gefährdet worden ist. Art. 265c Ziff. 2
ZGB kommt der Regelung des französischen Rechts am nächsten. Wie diese
ist die Bestimmung als Missbrauchstatbestand zu verstehen, was sich
deutlich auch aus der parlamentarischen Beratung ergibt. So führte
der ständerätliche Kommissionspräsident, Ständerat Broger, aus, der
Tatbestand des "Sich-nicht-Kümmerns" sei als gegeben zu betrachten,
wenn ein Elternteil am Ergehen des Kindes keinen Anteil nehme, die
Sorge dauernd andern überlasse und nichts unternehme, um eine lebendige
Beziehung zum Kind aufzunehmen oder zu unterhalten (Amtl.Bull. 1971 S,
S. 723; in ähnlichem Sinne auch die Äusserungen von Ständerat Wenk,
Amtl.Bull. 1972 S, S. 395).

    Wie sodann aus der Botschaft des Bundesrates vom 12. Mai 1971 zur
Änderung des Adoptionsrechtes (BBl 1971 I S. 1228) hervorgeht, sollte es
nicht darauf ankommen, ob die leiblichen Eltern ihre Pflichten schuldhaft
vernachlässigt haben oder nicht. Diese Auslegung von Art. 265c Ziff. 2
ZGB wurde durch das Bundesgericht in BGE 107 II 18 ff. übernommen, wo
festgehalten wurde, dass es bei diesem Tatbestand einzig darum gehe,
ob zwischen dem Kind und dem betreffenden Elternteil eine lebendige
Beziehung vorhanden sei, und dass, falls eine solche fehle, unerheblich
sei, ob den Elternteil daran ein Verschulden treffe oder nicht (S. 23).

    In dieser absoluten Form vermag diese Betrachtungsweise den konkreten
Verhältnissen nicht immer gerecht zu werden. Es ist nicht das gleiche,
ob eine lebendige Beziehung zum Kind aus Gründen nicht vorhanden ist,
die in den persönlichen Verhältnissen des betreffenden Elternteils zu
finden sind, oder ob die Ursache in äusseren Umständen liegt. Soweit im
ersten Fall dem Elternteil fehlende Anteilnahme anzulasten ist, da der
Aufbau einer echten Beziehung zum Kind seinem Willen zugänglich gewesen
wäre, führt eine rein objektive Betrachtungsweise bei der Auslegung
von Art. 265c Ziff. 2 ZGB (ausschliessliches Abstellen auf das Fehlen
einer solchen Beziehung) gewiss nicht zu unhaltbaren Ergebnissen. Anders
verhält es sich jedoch dort, wo der Elternteil sich ernsthaft um eine
lebendige Eltern-Kind-Beziehung bemüht hat, das angestrebte Ziel jedoch
wegen äusserer Umstände - für die er nicht verantwortlich ist - nicht
erreichen konnte. In einem solchen Fall die Bemühungen des Elternteils
vollkommen ausser acht zu lassen, wird dem Gedanken nicht gerecht, dass
es bei Art. 265c Ziff. 2 ZGB darum geht, einem allenfalls objektiv als
missbräuchlich zu wertenden Verhalten des einer Adoption nicht zustimmenden
Elternteils zu begegnen. Ebenso wird dem Umstand zuwenig Rechnung getragen,
dass die erwähnte Bestimmung lediglich eine Ausnahme des Grundsatzes
vorsieht, wonach die Adoption eines Kindes der Zustimmung des Vaters und
der Mutter bedarf (Art. 265a Abs. 1 ZGB). Das Bundesgericht hat in BGE 108
II 525 E. 3a die Auslegung von Art. 265c Ziff. 2 ZGB denn auch präzisiert
und festgehalten, das rein objektive Kriterium des Kindesinteresses,
das ausschliesslich das Ergebnis, nicht aber das persönliche - unter
Umständen von jedem Schuldvorwurf freie - Verhalten des betreffenden
Elternteils in Betracht ziehe, könne nicht ohne weiteres in jedem Fall
massgebend sein; vielmehr seien die konkreten Umstände des einzelnen
Falles eingehend abzuklären. Daran ist festzuhalten. Wollte man ohne
Rücksicht auf die Bemühungen des betroffenen Elternteils um ein lebendiges
Verhältnis zum Kind allein auf die Tatsache abstellen, dass im Zeitpunkt
des Entscheides keine echte Eltern-Kind-Beziehung besteht (so HEGNAUER,
Grundriss des Kindesrechts, 2. Aufl., S. 73), könnten Eltern ihr Kind
allein deshalb verlieren, weil es ihnen durch die zuständigen Behörden
unter Berufung auf ein irgendwie verstandenes Interesse des Kindes an einer
Adoption oder aus andern Gründen zu Unrecht über längere Zeit vorenthalten
wurde. Gerade der hier zu beurteilende Sachverhalt zeigt, welch grosse
Bedeutung einem Entzug des Besuchsrechtes zukommen könnte: Nachdem die
Berufungsklägerin den Aufenthaltsort ihres Sohnes schon verhältnismässig
bald hatte ausfindig machen können und verlangt hatte, das Kind zu sehen,
liess die Vormundschaftsbehörde sie - am 28. Dezember 1978 mit gewöhnlichem
Schreiben und am 19. Oktober 1979 alsdann in einem formellen Beschluss -
wissen, dass ihr das Besuchsrecht verweigert werde. Zur Begründung dieses
Beschlusses wies die Vormundschaftsbehörde unter anderem darauf hin,
dass eine Adoption ... im Vordergrund stehe und dass eine Zusammenkunft
deshalb wie auch aus andern Gründen verheerende Folgen für das Kind
haben könnte. Diese Argumentation war nicht ganz unbedenklich, wusste
doch die Vormundschaftsbehörde zu jenem Zeitpunkt bereits, dass nach
den im Ausland ergangenen Gerichtsurteilen die Berufungsklägerin ihre
Rechte über ihren Sohn nicht verloren hatte, so dass in Anbetracht ihrer
Bemühungen um Kontakte mit ihm angenommen werden musste, sie würde sich
einer Adoption widersetzen.

Erwägung 2

    2.- Nach den Feststellungen im angefochtenen Entscheid und im
Beschluss der unteren Aufsichtsbehörde vom 8. April 1982, auf den die
Vorinstanz verweist, hat B. die Berufungsklägerin seit dem Zeitpunkt,
da er - kurz nach der Geburt - von ihr weggegeben wurde, nicht mehr
gesehen. Aus sprachlichen Gründen ist jegliche Kommunikation zwischen den
beiden unmöglich gewesen. Von einer lebendigen Mutter-Kind-Beziehung kann
somit seit Jahren keine Rede mehr sein. Wie auch die Vorinstanz einräumt,
trifft die Berufungsklägerin daran jedoch keinerlei Verschulden. Diese
hat unablässig und mit allen möglichen Mitteln, so unter anderem auch auf
dem Wege gerichtlicher Verfahren, die Rückgabe ihres Sohnes zu erwirken
versucht. Daneben war sie aber auch um den Aufbau einer lebendigen
Mutter-Kind-Beziehung bemüht. Dafür, dass eine solche von vornherein hätte
zum Scheitern verurteilt sein müssen, bestehen keine Anhaltspunkte. In
Anbetracht ihrer sehr intensiven Bemühungen kann nicht gesagt werden,
die Berufungsklägerin habe sich nicht ernstlich um ihr Kind gekümmert und
die Voraussetzungen von Art. 265c Ziff. 2 ZGB für ein Absehen von ihrer
Zustimmung zur Adoption von B. seien erfüllt.

Erwägung 3

    3.- Das Bemühen der Berufungsklägerin um den Aufbau einer Beziehung
zu ihrem Sohn erscheint auch aus der Sicht der heutigen Sachlage nicht
als von vornherein aussichtslos. Wohl lebt die Berufungsklägerin in einem
anderen Sprach- und Kulturkreis als ihr Kind und stehen ihr nicht alle
wünschbaren Möglichkeiten offen, die verhältnismässig grosse Entfernung
leichthin zu überwinden. Trotzdem brauchen gelegentliche Kontakte nicht
als von vornherein ausgeschlossen betrachtet zu werden.