Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 II 295



109 II 295

63. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. Oktober 1983
i.S. F. gegen Vormundschaftskommission der Stadt Bern (Berufung) Regeste

    Art. 374 ZGB.

    Die Anhörung im Sinne von Art. 374 ZGB stellt nicht nur ein
Verteidigungsrecht des zu Bevormundenden dar, auf das dieser beliebig
verzichten kann, sondern sie bildet auch ein Mittel zur Erforschung des
Tatbestandes, dessen sich die Behörde allenfalls auch gegen den Willen
des Interdizenden bedienen soll.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 374 Abs. 1 ZGB darf eine Person wegen Verschwendung,
Trunksucht, lasterhaften Lebenswandels oder der Art und Weise ihrer
Vermögensverwaltung nicht entmündigt werden, ohne dass sie vorher
angehört worden ist. Wie sich indirekt aus Abs. 2 dieser Bestimmung
schliessen lässt, gilt die Anhörungspflicht auch bei der Entmündigung
wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche, es sei denn, die Anhörung
sei aus medizinischen Gründen nicht geboten (BGE 87 II 131 E. 2, 70 II
75/76). Der Berufungskläger rügt, er sei nie angehört worden.

    Es ist richtig, dass der Berufungskläger im kantonalen Verfahren weder
von der Vormundschaftskommission noch vom Richter einvernommen worden ist,
obwohl ihn das Gutachten der Psychiatrischen Universitätspoliklinik Bern
als einvernahmefähig bezeichnet hatte. Das Zivilamtsgericht hatte ihn
zwar persönlich zur Hauptverhandlung vorgeladen. Er erschien jedoch nicht,
weshalb es ihn für säumig erklärte und das Verfahren auf einseitigen Antrag
der Vormundschaftskommission weiterführte. Vor dem Appellationshof fand
keine mündliche Verhandlung statt.

    Mit dem Hinweis auf die unentschuldigte Abwesenheit des
Berufungsklägers hätte sich das Zivilamtsgericht indessen nicht begnügen
dürfen. Die Anhörung im Sinne von Art. 374 ZGB stellt nicht nur ein
Verteidigungsrecht des zu Bevormundenden dar, auf das dieser beliebig
verzichten kann, sondern sie bildet auch ein Mittel zur Erforschung des
Tatbestandes (EGGER, N. 1/2, und SCHNYDER/MURER, N. 11, zu Art. 374
ZGB). Ob sich die kantonale Behörde dieses Beweismittels bedienen
will, kann nicht im Belieben des zu Bevormundenden liegen. Aufgrund der
Offizialmaxime ist die Behörde vielmehr verpflichtet, diesen allenfalls
auch gegen seinen Willen einzuvernehmen. Leistet er der Vorladung keine
Folge, so darf die Entmündigung daher in der Regel nicht einfach gestützt
auf die Akten ausgesprochen werden, sondern die Behörde hat sich darum
zu bemühen, dass die Einvernahme trotzdem stattfinden kann (EGGER,
N. 13, und SCHNYDER/MURER, N. 71, zu Art. 374 ZGB). Zum mindesten hat
sie den Interdizenden unter den nach dem kantonalen Recht zulässigen
Androhungen ein zweites Mal vorzuladen. Der Umstand, dass sich dieser
wie hier zwangsweise in einer Anstalt befindet, entbindet die Behörde
nicht von der Anhörung, kann diese doch auch dort durchgeführt werden,
allenfalls durch eine Behördendelegation.

    Im vorliegenden Fall war der Berufungskläger im Zeitpunkt der
erstinstanzlichen Verhandlung freilich aus der Anstalt St. Johannsen in
Le Landeron, in die er durch Verfügung des Regierungsstatthalters II von
Bern vom 11. April 1983 auf unbestimmte Zeit eingewiesen worden war,
entwichen. Er war indessen nicht etwa unauffindbar. Wie sich aus der
Vernehmlassung der Vormundschaftskommission ergibt, war er einfach in
seine Wohnung zurückgekehrt. Während des Appellationsverfahrens befand er
sich offenbar bereits wieder in der Anstalt. Unter diesen Umständen hätte
sich der Appellationshof nicht mit der Bestätigung des erstinstanzlichen
Säumnisurteils zufrieden geben dürfen. Wenn er die Anhörung nicht selbst
vornehmen wollte oder konnte, hätte er das Zivilamtsgericht wenigstens
dazu anhalten müssen, den Berufungskläger nochmals vorzuladen. Dass eine
zweite Vorladung zum vornherein sinnlos gewesen wäre, kann nicht gesagt
werden. Der Entmündigungsentscheid verstösst somit gegen Art. 374 ZGB,
weshalb er aufzuheben und die Sache an den Appellationshof zurückzuweisen
ist, damit dieser das Versäumte nachhole. Die persönliche Einvernahme
wird es dem Richter im übrigen auch ermöglichen, den Berufungskläger,
der nur eine unklare Vorstellung vom Institut der Vormundschaft zu haben
scheint, über den Sinn dieser Massnahme aufzuklären.