Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 II 291



109 II 291

62. Urteil der II. Zivilabteilung vom 17. November 1983 i.S. R. c. B.
(Berufung) Regeste

    Feststellung eines Kindesverhältnisses.

    1. Art. 254 Ziff. 1 ZGB: Weder aus dem Grundsatz der freien
Beweiswürdigung noch aus der Offizialmaxime kann hergeleitet werden,
dass eine Rechtsmittelinstanz die Beweisabnahme einer unteren Instanz zu
wiederholen habe (E. 1).

    2. Auch wenn der angebliche Erzeuger eines Kindes tot ist, hat die
Klägerschaft aufgrund von Art. 8 ZGB ein Recht auf die konkrete Abklärung,
ob die von seiten der Wissenschaft notwendigen Voraussetzungen für die
regelgerechte Durchführung des beantragten anthropologisch-erbbiologischen
Gutachtens gegeben sind (E. 2).

Sachverhalt

    A.- Nadine R. wurde am 14. September 1975 als Tochter der
Bernadette R. geboren. Am 21. Dezember 1976 reichte ihr Beistand beim
Zivilamtsgericht A. gegen die Erben des am 24. Juli 1975 freiwillig aus
dem Leben geschiedenen Karl B. Klage auf Bezahlung von Unterhaltsbeiträgen
ein. Da diese Klage beim Inkrafttreten des neuen Kindesrechts am 1. Januar
1978 noch hängig war, wurde das Rechtsbegehren in zwei Eingaben vom
13. Dezember 1978 und vom 4. Februar 1980 dahin geändert, dass nurmehr
das Kindesverhältnis zwischen Karl B. und Nadine R. festgestellt werden
sollte. Auch richtete sich die geänderte Klage nicht mehr gegen die Erben
des Karl B., sondern nur noch gegen dessen Mutter, Rosa B. Mit Urteil
vom 14. Februar 1980 hiess das Amtsgericht A. die abgeänderte Klage gut.

    Am 20. Mai 1981 hob die I. Zivilkammer des Appellationshofes
des Kantons Bern dieses Urteil auf und wies die Streitsache zu neuer
Beweisführung an die Vorinstanz zurück. Der Appellationshof bemängelte
am Vorgehen des Amtsgerichts vor allem, dass zahlreiche Zeugen, die sich
zur Frage der Beiwohnung in der kritischen Zeit zu äussern hatten, bloss
rogatorisch und nicht vom Gericht selber einvernommen worden seien.

    B.- Nachdem das Amtsgericht A. die Zeugen selber angehört und auch eine
Konfrontation zweier Zeuginnen durchgeführt hatte, stellte es mit Urteil
vom 9. September 1982 erneut fest, dass zwischen Karl B. und Nadine R. ein
Kindesverhältnis bestehe. Die III. Zivilkammer des Appellationshofs des
Kantons Bern hiess eine gegen dieses Urteil erklärte Appellation gut und
wies die Klage am 25. März 1983 ab. Im Gegensatz zum Amtsgericht erachtete
der Appellationshof es als nicht erwiesen, dass Karl B. Bernadette R. in
der kritischen Zeit beigewohnt hatte.

    C.- Mit Berufung ans Bundesgericht lässt Nadine R. beantragen,
das Urteil des Appellationshofes sei aufzuheben und die Sache zu neuer
Entscheidung zurückzuweisen. Im weiteren ersucht sie um unentgeltliche
Prozessführung und Beiordnung eines Rechtsanwaltes. Diesem Gesuch hat
der Präsident der II. Zivilabteilung des Bundesgerichts mit Verfügung
vom 15. Juli 1983 entsprochen.

    D.- Rosa B. stellt in ihrer Berufungsantwort vom 16. August 1983 den
Antrag, die Berufung vollumfänglich abzuweisen.

    Mit Entscheid vom heutigen Tag hat das Bundesgericht eine
staatsrechtliche Beschwerde von Nadine R. gegen dasselbe Urteil abgewiesen,
soweit darauf einzutreten war.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Rüge der Klägerin, der Appellationshof habe entgegen der
Vorschrift von Art. 254 Ziff. 1 ZGB die Beweise nicht nach freier
Überzeugung gewürdigt, ist unbegründet. Die von Bundesrechts wegen
vorgeschriebene freie Beweiswürdigung richtet sich gegen allfällige
kantonale Verfahrensvorschriften, die den Richter verbindlich anweisen,
unter welchen Voraussetzungen er einen Beweis als erbracht anzunehmen
hat, oder die gewisse Beweismittel wie die Zeugenaussage von Kindern
ausschliessen (BGE 77 II 23). Solche Beweisregeln kennt jedoch die
Berner Zivilprozessordnung nicht und hat die Vorinstanz auch nicht zur
Anwendung gebracht. Darüberhinaus ergibt sich aus dem Grundsatz der freien
Beweiswürdigung nicht, dass eine Rechtsmittelinstanz die Beweisabnahme
einer unteren Instanz zu wiederholen hätte. Eine solche Vorschrift kann
auch nicht aus der in Art. 254 Ziff. 1 ZGB festgehaltenen Offizialmaxime
abgeleitet werden. Zwar kommt der Unmittelbarkeit eine ganz besondere
Bedeutung bei der Erforschung des Sachverhaltes von Amtes wegen zu und
dies insbesondere im vorliegenden Fall, dessen Ausgang massgeblich von
Zeugenaussagen und damit von der Glaubwürdigkeit des Zeugen abhängt; doch
gibt es keine bundesrechtliche Vorschrift, wonach die Rechtsmittelinstanz,
welcher bloss die Überprüfung der Tat- und Rechtsfragen zusteht,
Zeugeneinvernahmen zu wiederholen hat. Die Vorinstanz konnte deshalb
ohne Bundesrechtsverletzung seinerzeit das Amtsgericht anweisen,
die Zeugen selber einzuvernehmen, ohne diese Einvernahmen in einer
Appellationsverhandlung wiederholen zu müssen.

Erwägung 2

    2.- Die Berufungsklägerin macht weiter geltend, die Vorinstanz habe
sich auf den fehlenden Nachweis der Beiwohnung in der kritischen
Zeit beschränkt. Die in Art. 254 ZGB von Bundesrechts wegen
vorgeschriebene Offizialmaxime hätte indessen verlangt, dass der
Appellationshof von Amtes wegen alle vorhandenen Beweismöglichkeiten
der umstrittenen Vaterschaft ausgeschöpft hätte und namentlich auf den
im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Beweisantrag der Durchführung
eines anthropologisch-erbbiologischen Gutachtens (AEG) eingegangen wäre.

    a) In der Tat erschöpft sich das in Art. 254 Ziff. 1 ZGB festgehaltene
Gebot, den Sachverhalt von Amtes wegen zu erforschen, nicht darin, den
Parteierklärungen - unter Vorbehalt der Anerkennung der Vaterschaftsklage
gemäss Art. 260 Abs. 3 ZGB - keine bindende Wirkung zuzuerkennen, so
dass gegebenenfalls auch über unbestrittene oder anerkannte Behauptungen
Beweis zu führen ist. Vielmehr geht es auch darum, dass der Richter die
erforderlichen Beweise insoweit von Amtes wegen erhebt, als ein Sachverhalt
aufgrund der Aktenlage noch ungeklärt bleibt und durch weitere Beweismittel
einer möglichen Klärung zugeführt werden kann (GULDENER, Schweizerisches
Zivilprozessrecht, 3. Aufl., S. 169, WALDER-BOHNER, Zivilprozessrecht,
3. Aufl., S. 219 ff., KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 3. Aufl.,
S. 77 ff.; vgl. auch die Entscheide des Kassationsgerichts des Kantons
Zürich vom 11. Dezember 1961, in SJZ 58 (1962), S. 105 f. und des
Obergerichts des Kantons Zürich vom 23. Januar 1979, in SJZ 77 (1981),
S. 111).

    b) Es kann allerdings dahingestellt bleiben, ob im vorliegenden
Fall die Offizialmaxime die Einholung eines AEG und allenfalls eines
Blutgruppengutachtens geboten hätte. Das Bundesgericht hat bereits unter
der Herrschaft des alten Kindesrechts mehrfach entschieden, dass der
Klägerschaft in einem Vaterschaftsprozess das Recht zusteht, den positiven
Nachweis der Vaterschaft mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden
zu erbringen, wenn eine Beiwohnung gemäss aArt. 314 Abs. 1 ZGB nicht
nachgewiesen werden kann, oder wenn die aus einer solchen Beiwohnung sich
ergebende Rechtsvermutung durch den Nachweis von Mehrverkehr (aArt. 314
Abs. 2 ZGB) oder unzüchtigem Lebenswandel (aArt. 315 ZGB) entkräftet
wird (BGE 98 II 263 f. mit Verweisen). Dies ergibt sich aus Art. 8 ZGB
(vgl. BGE 91 II 162, 87 II 69, 70 II 74).

    c) Beim AEG wird von der allgemein bekannten Tatsache ausgegangen, dass
mit der Blutsverwandtschaft zwischen Eltern und Kindern auch morphologische
Einzelmerkmale vererbt werden. Zwar lässt das Ähnlichkeitsgutachten
nur eine abgestufte Aussage mit fliessenden Übergängen über die
Wahrscheinlichkeit der Abstammung oder Nichtabstammung eines Kindes von
einem bestimmten Mann zu. Die meisten morphologischen Einzelmerkmale
sind nur deskriptiv, metrisch nicht erfassbar, zudem altersumwelts-
und geschlechtsabhängig, in der Ausprägung unterschiedlich und in der
erbmässigen Vermittlung oft unabgeklärt (BGE 96 II 320 E. 6; 91 II 164
ff.). Die Rechtsprechung des Bundesgerichts hat denn auch wiederholt die
Schwächen der anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung in Erinnerung
gerufen und dabei insbesondere auf die weitgehend subjektiven Wertungen
hingewiesen, welche diesem Gutachten zugrunde liegen. Dieser Umstand ändert
aber nichts daran, dass je nach den konkreten Merkmalskonstellationen vor
allem im Zusammenhang mit einem positiven Vaterschaftsnachweis eindeutige
Ergebnisse zu erzielen sind (BGE 96 II 321 f. und HEGNAUER, Kommentar N
185 ff. zu aArt. 314/5 ZGB).

    Im vorliegenden Vaterschaftsprozess der Klägerin gegen die Mutter des
inzwischen verstorbenen Karl. B. kommt als zusätzliche Schwierigkeit hinzu,
dass zwar noch nahe Verwandte von Karl. B. (Mutter und Geschwister)
für ein AEG zur Verfügung stehen, beim angeblichen Erzeuger der
Berufungsklägerin aber nur noch auf Fotografien zurückgegriffen werden
kann. Dieser erschwerende Umstand muss indessen die Durchführung eines
AEG noch nicht ausschliessen (HEGNAUER, aaO, N 179 zu aArt. 314/5 ZGB;
GERHARDT, Das anthropologisch-erbbiologische Vaterschaftsgutachten und die
Rechtsprechung in Deutschland und in anderen Ländern, in SJZ 55 (1959),
S. 249 ff., insbesondere S. 253; HUG, Die gerichtliche Feststellung der
Vaterschaft nach dem neuen Schweizer Kindesrecht, Diss. Freiburg, 1977,
S. 138). Da ein Antrag auf Durchführung eines AEG gestellt war und dieses
Gutachten nicht zum vornherein als untaugliches Beweismittel ausgeschlossen
werden konnte, hatte die Klägerin aufgrund von Art. 8 ZGB ein Recht auf
die konkrete Abklärung, ob die von seiten der Wissenschaft notwendigen
Voraussetzungen für die regelgerechte Durchführung eines AEG gegeben
seien. Diese Abklärung ist nachzuholen. Dabei wird in erster Linie -
allenfalls unter Beizug eines Experten - abzuklären sein, ob Fotografien in
einem für die Bedürfnisse des AEG ausreichenden Masse vorhanden sind. Falls
diese Frage bejaht und dementsprechend ein AEG angeordnet werden sollte,
wird dieses allenfalls mit einem Blutgruppengutachten zu verbinden
sein. Über die Beweiskraft eines solchen Blutgruppengutachtens liegen zwar
schon Äusserungen von Expertenseite vor. Indessen fehlt es an Abklärungen
über die besonderen Möglichkeiten im Zusammenhang mit einem AEG.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationshofes (III.
Zivilkammer) des Kantons Bern vom 25. März 1983 aufgehoben und die Sache zu
neuem Entscheid im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.