Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 II 234



109 II 234

53. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. Oktober 1983 i.S.
Frau S. gegen X. (Berufung) Regeste

    Art. 99 und 472 ff. OR. Haftung des Wirtes für hinterlegte
Kleidungsstücke.

    1. Sorgfaltspflicht des Wirtes, der gegen Entgelt Kleidungsstücke
der Gäste in Verwahrung nimmt.

    2. Keine Pflicht des Gastes, auf den besonderen Wert eines Pelzmantels
hinzuweisen, wenn der Wirt, wie aus den Umständen ersichtlich, auch Gäste
mit kostbaren Kleidern erwartete.

Sachverhalt

    A.- X. führt in der Nähe von St. Moritz ein Restaurant. Am
Silvesterabend 1977 liess er im Untergeschoss, wo sich insbesondere
eine zweite Gaststube und die Toilettenräume befinden, eine zusätzliche
Garderobe einrichten; die ständige liegt im obern Geschoss. Beide
Garderoben wurden an jenem Abend von Frau M. bedient; sie nahm die
Kleidungsstücke, welche die Gäste ablegen wollten, entgegen und übergab
ihnen gegen Bezahlung von Fr. 1.-- je Stück eine Kontrollmarke. Die
Überwachung der Garderoben wurde dadurch erschwert, dass zwischen ihnen
keine direkte Sicht möglich war.

    Etwa um 21 Uhr betrat Frau S. zusammen mit ihrem Mann und ihrer
Tochter das Restaurant. Die Eheleute hinterlegten an der untern
Garderobe je einen Mantel, die Tochter eine Jacke. Als die Eheleute
nach 23 Uhr ihre Kleidungsstücke zurücknehmen wollten, war der Mantel
der Frau verschwunden. Es handelte sich angeblich um einen kanadischen
Wildnerzmantel, dessen Wert Frau S. auf Fr. 25'000.-- schätzte. Die
Polizei stellte fest, dass in der Herren-Toilette ein Gitter, welches das
Fenster abdeckte, gewaltsam aufgebrochen und der Mantel offenbar durch
diese Öffnung ins Freie geschafft worden war; er ist seither verschwunden.

    Frau S. meldete den Diebstahl ihrer Versicherungsgesellschaft, die
ihr Fr. 10'000.-- an den Schaden bezahlte.

    B.- Im Mai 1980 klagte Frau S. gegen X. auf Zahlung von Fr. 10'000.--
nebst 5% Zins seit 1. Januar 1978.

    Das Bezirksgericht Maloja hiess die Klage in vollem Umfang gut. Der
Beklagte appellierte an das Kantonsgericht von Graubünden, das ihn
am 29. November 1982 zur Zahlung von Fr. 5'000.-- nebst 5% Zins seit
16. Oktober 1978 verurteilte. Das Kantonsgericht fand, dass beide Parteien
ein erhebliches Verschulden am Verlust des Nerzmantels treffe und es sich
deshalb rechtfertige, "sie den Schaden nach Hälften" tragen zu lassen.

    C.- Die Klägerin hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt mit dem
Antrag, es aufzuheben und den Beklagten zur Zahlung von Fr. 10'000.--
nebst 5% Zins seit 16. Oktober 1978 zu verpflichten.

    Das Bundesgericht heisst die Berufung gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Vor Bundesgericht ist nur noch streitig, ob die Klägerin den
Verlust des Mantels mitzuverantworten habe und sich deshalb gemäss
Art. 99 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 44 OR eine Kürzung ihrer
Schadenersatzforderung gefallen lassen müsse.

    a) Nach Auffassung des Kantonsgerichts ist ein Mitverschulden der
Klägerin darin zu erblicken, dass sie Frau M. nicht auf den ungewöhnlich
hohen Wert des Pelzmantels aufmerksam gemacht habe; selbst wenn an
jenem Abend in der Umgebung von St. Moritz Frauen in Pelzmänteln keine
Seltenheit gewesen seien, habe der Beklagte nicht damit rechnen müssen,
dass an seiner Garderobe ein derart wertvoller Nerzmantel zusammen mit zwei
ungleich billigeren Kleidungsstücken kommentarlos abgegeben werde. Eine
Aufforderung zu besonders sicherer Verwahrung des kostbaren Mantels sei
nach den Umständen geboten und zumutbar gewesen; die Klägerin habe wissen
müssen, dass die Garderobe am Silvesterabend von vielen Gästen benützt
werde und dass es bei solchen Anlässen nicht nur Verwechslungen, sondern
nach allgemeiner Erfahrung auch Diebstähle geben könnte.

    Der Beklagte ist ebenfalls der Meinung, die Klägerin habe den teuren
Mantel ohne jede Bemerkung abgegeben und daher nicht erwarten können,
dass ihr gegen Bezahlung von Fr. 1.-- eine besonders sichere Aufbewahrung
zugesichert werde; sein Restaurant sei jedermann zugänglich, weshalb von
ihm ohne ausdrücklichen Hinweis auf teure oder wertvolle Kleidungsstücke
nicht verlangt werden dürfe, dass er die Garderobe wie in einem Hotel,
Theater oder Opernhaus einrichte und überwachen lasse. Die Klägerin meint
dagegen, sie habe an jenem Abend weder einen unmittelbaren Anlass noch eine
Pflicht zu einem solchen Hinweis gehabt, sich vielmehr darauf verlassen
dürfen, dass als wertvoll erkennbare Mäntel sorgfältig aufbewahrt werden.

    b) Dem Kantonsgericht sind vorweg seine eigenen Feststellungen und
Erwägungen über das Verschulden des Beklagten entgegenzuhalten. Es folgert
aus den Vorkehren des Beklagten, dass er an jenem besonderen Festabend,
mitten in der Wintersaison und in unmittelbarer Nähe eines mondänen
Kurortes, überdurchschnittlich viele Gäste erwartet habe, auch solche mit
kostbaren Kleidern. Er habe die Kleider der Gäste auch verwahren wollen,
sich unbekümmert um die fehlende Sicht über die Treppe zwischen den
beiden Ablagen aber mit einer Angestellten begnügt, weshalb den ganzen
Abend über wechselweise je eine der beiden unbewacht geblieben sei. Da
zudem jedermann im Untergeschosse die Toilettenräume oder die zweite
Gaststube habe aufsuchen können, ohne Verdacht zu erregen, sei es für
die Täterschaft ein Leichtes gewesen, sich unbemerkt einen kostbaren
Mantel auszusuchen und ihn durch die vorbereitete Öffnung ins Freie zu
schaffen. Der Beklagte hätte deshalb Frau M. zumindest anweisen müssen,
alle Pelzmäntel in einem abschliessbaren Raum zu verwahren.

    Mit diesen einleuchtenden Erwägungen, die sich mit dem Ergebnis
des Beweisverfahrens und mit der Auffassung des Bezirksgerichts
decken, entzieht das Kantonsgericht einer Pflicht der Klägerin, die
Garderobenfrau auf den hohen Wert ihres Mantels aufmerksam zu machen,
selbst die Grundlage. Wenn der Beklagte in seinem Restaurant, das nach
Auffassung des Bezirksgerichts insbesondere am Silvesterabend von einer
eher gehobenen Kundschaft aufgesucht wird, auch Gäste mit kostbaren
Kleidern erwartete und nicht bloss willens, sondern auch verpflichtet
war, Pelzmäntel gehörig zu verwahren, so erübrigte sich ein Hinweis des
Hinterlegers. Das gilt um so mehr, als der Beklagte die Interessen der
Hinterleger nach seinem eigenen Wissen zu wahren hatte, wozu namentlich die
Kenntnis der örtlichen Verhältnisse gehörte. Er war sich seiner Pflicht und
der Gefahr übrigens bewusst, da er Frau M. nach deren Aussagen anhielt,
die Leute, welche den Zugang zu den Toilettenräumen benutzten, wegen der
abgelegten Pelzmäntel gut zu kontrollieren; Frau M. will den ganzen Abend
denn auch über die Treppe auf und ab gegangen sein und sich bemüht haben,
sehr aufzupassen, konnte stets aber nur eine der beiden Garderoben im
Auge behalten. Dadurch wurde, wie das Kantonsgericht selber annimmt,
der Diebstahl überhaupt ermöglicht. Für diesen Umstand hat der Beklagte
allein einzustehen.

    c) Aus BECKER, N. 46 zu Art. 99 OR, und der dort angeführten
Rechtsprechung lässt sich entgegen der Annahme des Kantonsgerichts nichts
gegen die Klägerin ableiten. Gewiss gehört es nach diesem Autor zu den
Pflichten des Gläubigers, den Schuldner auf Gefahren aufmerksam zu machen,
die den Gegenstand der Leistung bedrohen können, wie z.B. der besonders
hohe Wert einer anvertrauten Sache. Diese Pflicht des Gläubigers besteht
indes auch nach Becker nicht allgemein; sie setzt vielmehr voraus, dass
die Gefahr nur dem Gläubiger bekannt ist. Das lässt sich hier nach dem,
was in tatsächlicher Hinsicht feststeht, nicht sagen, erhellt doch aus
den Vorkehren des Beklagten und seinen Weisungen an Frau M., dass er
sich schon lange vor dem Eintreffen der Familie S. über die Gefahr, die
kostbaren Kleidungsstücken bei vollbesetztem Restaurant drohte, selber
Rechenschaft gegeben hat. Dadurch unterscheidet der vorliegende Fall
sich denn auch deutlich von dem in BGE 33 II 420 ff. veröffentlichten,
wo ein Ehepaar in einem Hotelzimmer zwei nicht als besonders wertvoll
erkennbare Ringe vergessen und den Portier ohne jede nähere Angabe am
Bahnhof gebeten hat, ihm die Ringe nachsenden zu lassen.

    Ebensowenig vermag der Beklagte mit dem Einwand, vom Inhaber eines
Restaurants in der Preiskategorie des seinigen dürfe nicht die Sorgfalt
eines Hotel- oder Theaterbesitzers verlangt werden, einen Teil seiner
Verantwortung auf die Klägerin abzuwälzen. Weder dem Bezirksgericht noch
dem Kantonsgericht ist entgangen, dass nur der Hotelier Gastwirt im Sinne
des Gesetzes ist und dem Gast gemäss Art. 487 OR für eingebrachte Sachen
haftet; im Normalfall geht es dabei zudem um Sachen, die der Gast nicht
zum Aufbewahren gibt, sondern in eigener Obhut behält. Im vorliegenden
Fall hat der Beklagte aber mit jedem Gast, der Kleidungsstücke abgeben
wollte, ohne Rücksicht auf deren Wert einen Hinterlegungsvertrag
geschlossen. Dieser Vertrag rechtfertigt hier angesichts der besonderen
Umstände, die den Beklagten am Silvesterabend 1977 zum Einrichten
einer zweiten Garderobe bewogen haben und die bei der Beurteilung der
gegenseitigen Verpflichtungen nach Treu und Glauben zu berücksichtigen
sind, keine Herabsetzung der Ersatzpflicht, zumal die Klägerin durch
Abschluss einer Diebstahlsversicherung zur Verminderung des Schadens
erheblich beigetragen hat.