Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IB 13



109 Ib 13

3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23.
Februar 1983 i.S. Einwohnergemeinde Bern gegen Ida Schenk-Käser und
Verwaltungsgericht des Kantons Bern (Verwaltungsgerichtsbeschwerde) Regeste

    Art. 5 Abs. 2 RPG, materielle Enteignung.

    1. Begriff der materiellen Enteignung (E. 2).

    2. Massgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage, ob eine
materielle Enteignung vorliege (E. 3).

    3. Nichteinzonung. Materielle Enteignung für einen Teil des
Grundstückes bejaht. Besondere Umstände (schon vorhandene Werkstatt
mit ausreichender Zufahrt; das Grundstück wurde später teilweise
in das generelle Kanalisationsprojekt einbezogen) lassen mit hoher
Wahrscheinlichkeit darauf schliessen, dass ca. 1/7 des Grundstückes im
massgebenden Zeitpunkt hätte überbaut werden können (E. 4-6).

Sachverhalt

    A.- Frau Ida Schenk-Käser ist Eigentümerin der Parzelle Nr.
846 des Kreises V im Halte von 21'663 m2 im sog. "Löchligut" in
Bern. Die Liegenschaft stösst im Westen an die Aare und im Osten
an die Worblaufenstrasse an. Auf der Südseite grenzt sie an eine
Familiengartenanlage der Stadt Bern sowie an die Überbauung Löchligut. Auf
der Parzelle befindet sich eine Autoreparaturwerkstätte. Das Grundstück
wird in seinem oberen Teil vom Löchligutweg, der in die Worblaufenstrasse
mündet, durchquert. Dieser asphaltierte Weg weist eine Breite von ca. 3,5
m auf.

    Das Löchligut war im städtischen Bauklassenplan 1955 der Bauklasse
II für zweigeschossige Bauten zugewiesen. Ausserdem befand sich das
Grundstück der Beschwerdegegnerin innerhalb des Schutzzonenperimeters
der Aaretalhänge.

    Zu Beginn der 70er Jahre beabsichtigte Ida Schenk, ihre grosse
Parzelle Nr. 846 der Überbauung zuzuführen. Der Gemeinderat der
Stadt Bern beschloss demgegenüber am 17. November 1971, die Parzelle
der Beschwerdegegnerin einer Grünzone zuzuweisen und mit ihr in
Landerwerbsverhandlungen zu treten. Diese führten zu keiner Einigung. Ein
gestelltes Baugesuch für die Erstellung von 72 Einfamilienhäusern und 4
unterirdischen Autoeinstellgaragen wurde am 5. September 1973 mangels
ausreichender Erschliessung abgewiesen. Ausserdem war die Parzelle
Nr. 846 bereits am 5. März 1973 gestützt auf den Bundesbeschluss über
dringliche Massnahmen auf dem Gebiete der Raumplanung vom 17. März 1972
(BMR) dem provisorischen Schutzgebiet I zugewiesen worden.

    Der städtische Nutzungszonenplan 1974 teilte die Parzelle Nr. 846 der
Zone zum Schutz des Landschafts- und Ortsbildes zu. In dieser Zone dürfen
offene Areale nicht überbaut werden. Nach der städtischen Bauordnung 1979
liegt die Parzelle im Aaretalschutzgebiet I.

    Zufolge des Ausschlusses der Überbaubarkeit gelangte Ida Schenk am 9.
September 1977 an die zuständige kantonale Enteignungs-Schätzungskommission
mit dem Begehren, es sei ihr eine Entschädigung aus materieller
Enteignung zuzusprechen. Die Kommission verneinte jedoch das Vorliegen
einer materiellen Enteignung. Auch das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern verneinte für den grössten Teil des Grundstücks Nr. 846 die
Baulandqualität. Es bejahte einzig die Möglichkeit der Bildung von
3 Bauplätzen zu je 1000 m2 im Bereiche des bestehenden, zum Abbruch
bestimmten Gebäudes. Für die entsprechende Fläche von 3000 m2 bejahte es
daher eine materielle Enteignung und wies die Streitsache zur Festsetzung
der von der Stadt Bern geschuldeten Enteignungsentschädigung an die
Enteignungskommission zurück. Die gegen diesen Entscheid erhobene
Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Stadt Bern weist das Bundesgericht ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Der Regierungsrat ist von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung
ausgegangen, wonach eine materielle Enteignung dann vorliegt, wenn einem
Eigentümer der bisherige oder ein voraussehbarer künftiger Gebrauch
seiner Sache untersagt oder besonders stark eingeschränkt wird, weil
dem Eigentümer eine wesentliche, aus dem Eigentum fliessende Befugnis
entzogen wird. Geht der Eingriff weniger weit, so wird gleichwohl eine
materielle Enteignung angenommen, falls ein einziger oder einzelne
Grundeigentümer so betroffen werden, dass ihr Opfer gegenüber der
Allgemeinheit unzumutbar erschiene und es mit der Rechtsgleichheit nicht
vereinbar wäre, wenn hiefür keine Entschädigung geleistet würde (BGE 107
Ib 383 E. 2 mit Hinweisen). In beiden Fällen ist die Möglichkeit einer
zukünftigen besseren Nutzung der Sache indessen nur zu berücksichtigen,
wenn im massgebenden Zeitpunkt anzunehmen war, sie lasse sich mit hoher
Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft verwirklichen (BGE 107 Ib 223 E. 2
mit Hinweisen). Unter besserer Nutzung eines Grundstücks ist in der Regel
die Möglichkeit seiner Überbauung zu verstehen.

    Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Grundstück sehr wahrscheinlich
in naher Zukunft besser hätte genutzt werden können, sind nach der Praxis
alle rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten zu berücksichtigen, welche
die Überbauungschance beeinflussen können. Dazu gehören die im fraglichen
Zeitpunkt geltenden kommunalen und kantonalen Bauvorschriften, die Lage
und Beschaffenheit des Grundstücks, die Erschliessungsverhältnisse, der
Stand der kommunalen und kantonalen Planung und die bauliche Entwicklung
in der Umgebung (BGE 106 Ia 373 E. 2b mit Hinweisen).

    Die verschiedenen Faktoren sind zu gewichten. Nur wo das Bauen rein
rechtlich zulässig und tatsächlich möglich sowie nach den Umständen
mit hoher Wahrscheinlichkeit in naher Zukunft zu erwarten gewesen wäre
(BGE 96 I 357 mit Hinweis), kann in der Eigentumsbeschränkung, welche
die Überbauung ausschliesst, ein besonders schwerer Eingriff gesehen
werden, der eine Entschädigungspflicht auslöst. Als Gründe dafür, dass
ein Grundstück nicht in verhältnismässig kurzer Zeit überbaut werden
kann, nannte das Bundesgericht zum Beispiel die Voraussetzung einer
Ausnahmebewilligung, die Notwendigkeit einer Änderung in der Zonenplanung,
das Erfordernis eines Erschliessungs-, Überbauungs- oder Gestaltungsplanes,
einer Baulandumlegung oder weitgehender Erschliessungsarbeiten (BGE
107 Ib 223 E. 3; 106 Ia 373 E. 2b und 376 f. E. 3d und e). Auch genügt
die Erschliessbarkeit einer Parzelle und unter Umständen selbst deren
Erschliessung nicht ohne weiteres, um die Überbaubarkeit in naher Zukunft
zu bejahen (BGE 103 Ib 222 E. 5b; 101 Ia 227 E. 4b).

Erwägung 3

    3.- Für die Beurteilung der Frage, ob eine materielle
Enteignung vorliege, hat die erste Instanz in Übereinstimmung
mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung auf die Verhältnisse im
Zeitpunkt der Rechtskraft des Nutzungszonenplanes 1974 der Stadt Bern,
somit auf den 10. Dezember 1976, abgestellt. Das Verwaltungsgericht
bezeichnet demgegenüber den Zeitpunkt der Rechtskraft der provisorischen
Schutzgebietanordnung, somit den 5. März 1973, als massgebend, weil die
definitive Planungsmassnahme des Nutzungszonenplanes die logische Folge
der Schutzgebietsbezeichnung bilde.

    Das Bundesgericht hat bereits in der nichtveröffentlichten Erwägung
2 seines Entscheides vom 10. November 1982 i.S. Einwohnergemeinde Wohlen
c. Ernst Bergmann und Konsorten zur Betrachtung des Verwaltungsgerichts
Stellung genommen. Es hat an seiner Auffassung festgehalten, dass als
massgebender Stichtag mit den sich hieraus ergebenden Konsequenzen
für die Anmeldung des Entschädigungsbegehrens, die Ermittlung des
Entschädigungsschuldners, die Höhe der Entschädigung, die Verjährung und
Verzinsung der Forderung die Rechtskraft der definitiven Planungsmassnahme
gelte; mit einer vorgängigen provisorischen Massnahme dürfe hingegen nicht
zum Nachteil des Betroffenen der Ausschluss der Entschädigungspflicht
begründet werden.

    Auch der vorliegende Fall gibt zu keiner anderen Betrachtungsweise
Anlass. Massgebend für die Beurteilung der Frage, ob eine materielle
Enteignung vorliege, sind somit die Verhältnisse im Zeitpunkt der
Rechtskraft des städtischen Nutzungszonenplanes am 10. Dezember 1976.

Erwägung 4

    4.- Die Beurteilung der umstrittenen Entschädigungsfrage nach den
dargelegten Kriterien führt zu folgenden Ergebnissen:

    a) Das Verwaltungsgericht stellt zutreffend fest, dass der
frühere Bauklassenplan der Stadt Bern aus dem Jahre 1955 keine
Baugebietsausscheidung im Sinne einer raumplanerischen Massnahme
vorgenommen hatte. Der Plan stellt daher keinen Zonenplan im Sinne des
Art. 14 des Baugesetzes des Kantons Bern vom 7. Juni 1970 dar, der das
Baugebiet vom übrigen Gemeindegebiet abzugrenzen hat. Die Auswirkungen der
im Nutzungszonenplan von 1974 erstmals vorgenommenen Baugebietsausscheidung
sind daher nicht unter dem Gesichtspunkt der Auszonung, sondern unter
demjenigen der Nichteinzonung zu beurteilen. Im übrigen käme man - wie
sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt - zu keinem andern Ergebnis,
wenn man den vorliegenden Sachverhalt als Auszonung betrachten wollte.

    b) Gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts kann die
Auszonung oder die Nichteinzonung einen Eigentümer ausnahmsweise
enteignungsähnlich treffen. Im Falle der Auszonung kann diese Folge
etwa eintreten, wenn baureifes oder grob erschlossenes Land, für
dessen Erschliessung und Überbauung der Eigentümer bereits erhebliche
Kosten aufgewendet hat, betroffen wird. Auch für den Fall einer
Nichteinzonung entsprechenden Landes, das im Bereich eines mit den
Anforderungen der Gewässerschutzgesetzgebung übereinstimmenden generellen
Kanalisationsprojekts liegt, ist eine enteignungsähnliche Wirkung nicht
von vornherein auszuschliessen (BGE 105 Ia 338 E. 3d). In einem solchen
Fall können Umstände vorliegen, welche die Einzonung des Landes geboten
hätten. Trifft dies zu, so ist die Frage, ob am massgebenden Stichtag
mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer Überbauung hätte gerechnet werden
dürfen, zu bejahen (BGE 107 Ib 225 E. 3d; 106 Ia 189 E. 4c).

    c) Bei dieser Rechtslage ist für die Beurteilung der Frage, ob die
umstrittene Fläche von 3000 m2 des Grundstücks der Beschwerdegegnerin
zur Zeit der Rechtskraft des städtischen Nutzungszonenplanes sehr
wahrscheinlich in naher Zukunft hätte überbaut werden können, wenn
sie nicht einer Schutzzone zugewiesen worden wäre, massgebend auf die
gewässerschutzrechtliche Situation abzustellen. Dabei darf die Dauer des
provisorischen Bauverbots gemäss der Schutzgebietszuweisung nicht zum
Nachteil der Beschwerdegegnerin berücksichtigt werden.

Erwägung 5

    5.- a) Gemäss dem am 1. Juli 1972 in Kraft getretenen Eidgenössischen
Gewässerschutzgesetz (Art. 19 und 20 in der bis Ende 1979 geltenden
Fassung) dürfen Baubewilligungen ausserhalb der Bauzonen bzw. des im
generellen Kanalisationsprojekt abgegrenzten Gebietes nur erteilt werden,
sofern der Gesuchsteller ein sachlich begründetes Bedürfnis nachweist. Da
die Stadt Bern über keinen Zonenplan mit Baugebietsabgrenzung und im
Jahre 1972 auch nicht über ein generelles Kanalisationsprojekt verfügte,
hätte der Beschwerdegegnerin jedenfalls für eine grössere Überbauung keine
Bewilligung erteilt werden können, wie dies auch das Verwaltungsgericht
zufolge der fehlenden Erschliessung mit Recht angenommen hat. Eine
bescheidene Überbauung hätte hingegen kaum aus gewässerschutzrechtlichen
Gründen verweigert werden dürfen, hat doch die Stadt Bern den Löchligutweg
auch für das vorhandene zweistöckige Haus als ausreichend erachtet
(vgl. Art. 28 Allgemeine Gewässerschutzverordnung). Auch wäre dessen
Ausbau - etwa durch Anlegung eines Kehrplatzes - mit wirtschaftlich
vertretbarem Aufwand zweifellos möglich gewesen, wie dies der Augenschein
gezeigt hat. Das Werkstattgebäude ist zwar noch nicht an die Kanalisation
angeschlossen, doch ist ein Anschluss ohne besonderen Aufwand möglich
und wird von der Stadt Bern auch verfügt werden, wie sich aus der vom
Bundesgericht eingeholten Auskunft des städtischen Tiefbauamtes vom
15. November 1982 ergibt.
   b) Die Stadt Bern hat sodann Anfang 1977 ein generelles
Kanalisationsprojekt aufgestellt, das am 23. Mai 1977 von der
kantonalen Direktion für Verkehr, Energie und Wasserwirtschaft des
Kantons Bern genehmigt wurde. Die umstrittene Fläche ist im Bereich des
bestehenden Gebäudes in das generelle Kanalisationsprojekt einbezogen
worden. Dieser Einbezug spricht für die Richtigkeit der Annahme des
Verwaltungsgerichts, eine bescheidene teilweise Überbauung hätte sich
westlich des Löchligutweges im Anschluss an das Siedlungsgebiet sowie um
und anstelle des vorbestehenden Gebäudes verwirklichen lassen. Wenn die
vom Verwaltungsgericht als überbaubar bezeichnete Fläche die Grenze des
generellen Kanalisationsprojektes überschreitet, so liegt diese Abweichung
innerhalb des vom Bundesgericht den kantonalen Instanzen zuzubilligenden
Beurteilungsspielraumes. Das Verwaltungsgericht hat im übrigen einzig das
Ausmass der Fläche bezeichnet, welche nach seiner Ansicht Baulandqualität
aufweist. Diese Fläche umfasst auch den zu Wohnbauten gehörenden Umschwung
wie Gartenareal, welches ohne die Baulandqualität zu verlieren, ausserhalb
der Begrenzung des GKP liegen kann.

    c) Wenn im übrigen das Verwaltungsgericht von der Möglichkeit von
Terrassenhäusern gesprochen hat, so handelt es sich bei der entsprechenden
Erwägung lediglich um einen unverbindlichen Hinweis. Entsprechend der
Überbauung des bestehenden Löchligutes wäre zweifellos auch eine Überbauung
denkbar, die nicht den Erlass von Sonderbauvorschriften bedingen würde,
allerdings wohl bei verminderter Rendite. Dass der Anschluss der Bauten
an die Kanalisation einen besonders hohen Aufwand bedingen würde, ist
aufgrund des Augenscheines kaum anzunehmen. Im übrigen werden diese Fragen
bei der Ermittlung der Höhe der Entschädigung zu berücksichtigen sein.

    d) Auch die von der Stadt Bern vorgebrachten Einwendungen in bezug auf
die Lärmimmissionen von Bahn und Strasse sind nicht stichhaltig. Diese
Immissionen sind keineswegs derart stark, dass sie einer bescheidenen
Überbauung entgegenstehen würden. Dies bestätigt auch die vorhandene
Löchligutüberbauung.

Erwägung 6

    6.- Bei dieser Sach- und Rechtslage durfte das Verwaltungsgericht zu
Recht annehmen, eine Überbauung des Abschnittes von 3000 m2 hätte sich
im massgebenden Zeitpunkt mit hoher Wahrscheinlichkeit verwirklichen
lassen. Die besonderen Umstände, welche im Sinne der bundesgerichtlichen
Rechtsprechung diese Annahme rechtfertigen (BGE 105 Ia 338 E. 3d),
liegen im vorhandenen bestehenden Werkstatthaus, für welches der
Löchligutweg als ausreichend erachtet wurde, und der Begrenzung des
generellen Kanalisationsprojektes. Wäre die entsprechende Fläche im
Nutzungszonenplan der Stadt Bern von 1974 nicht der Zone zum Schutz
des Landschafts- und Ortsbildes zugewiesen worden, so hätte sie von der
Beschwerdegegnerin, die den Willen zur besseren baulichen Nutzung ihres
zum Teil bereits baulich genutzten Areals besass, der Überbauung zugeführt
werden können. Die Einwendungen der Stadt Bern erweisen sich somit als
unbegründet, weshalb die Beschwerde abzuweisen ist.