Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IB 116



109 Ib 116

18. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 27. April 1983 i.S. Ruth Guler gegen Gemeinde Klosters-Serneus und
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
Regeste

    Art. 5 Abs. 2 RPG. Materielle Enteignung. Baulinien.

    Baulinien führen im allgemeinen nicht zu einem besonders schweren
Eingriff in das Eigentum (E. 3, 4).

    Fall einer Baulinie, die eine Parzelle in der Hälfte durchschneidet,
auf welcher ein modernisierungsbedürftiges Hotel steht. Die Erteilung
der Baubewilligung unter der Bedingung, einen Revers zu unterzeichnen,
wonach der durch den Einbau von Badezimmern entstehende Mehrwert im
Enteignungsfall nicht entschädigt wird, führt im vorliegenden Fall zu
keiner materiellen Enteignung (E. 5).

Sachverhalt

    A.- Ruth Guler ist Eigentümerin der an die Kantonsstrasse in Klosters
angrenzenden Parzellen Nrn. 432 und 433. Das Grundstück Nr. 432 dient
vorwiegend als Parkplatz. Die anschliessende Liegenschaft Nr. 433 stösst
als Eckparzelle auch an die Doggilochstrasse an und ist mit dem Hotel
Wynegg überbaut. Sie ist gemäss einem von der Gemeinde am 14. April
1981 erlassenen Baulinienplan für die Korrektion der Doggilochstrasse
mit einer Baulinie belastet, welche von der heutigen Strassengrenze
einen Abstand von 7 m einhält und das Hotelgebäude fast in der Mitte
durchschneidet. Bereits eine frühere Baulinie, die gegenüber der Strasse
einen Abstand von 4 m festsetzte, belastete das Hotelgebäude gemäss einem
Strassen- und Baulinienplan aus dem Jahre 1932.

    Am 5. Mai 1981 reichte die Beschwerdeführerin ein Baugesuch Nr. 41/81
für den Umbau einiger Hotel-Zimmer (Balkonausbau) und den Einbau von
Badezimmern und Duschen ein. Die approximativen Baukosten wurden
im Baugesuch mit Fr. 200'000.-- angegeben. Die Gemeinde erteilte
die Baubewilligung am 23. Juni 1981, unter der Bedingung, dass die
Beschwerdeführerin einen im Grundbuch anzumerkenden Revers unterzeichne,
wonach sie für den Fall der Strassenverbreiterung auf die Entschädigung
des mit dem Umbau geschaffenen Mehrwertes verzichte. Die Beschwerdeführerin
weigerte sich, diesen Revers zu unterzeichnen. Die Gemeinde verfügte daher
am 27. Oktober 1981 folgende Anmerkung im Grundbuch: "Strassenbaulinie;
Mehrwert gemäss Baugesuch Nr. 41/1981 innerhalb der Baulinie ohne
Vergütung im Enteignungsfall."

    Ruth Guler forderte hierauf bei der zuständigen Enteignungskommission
V eine Entschädigung aus materieller Enteignung. Da die Gemeinde einen
enteignungsgleichen Eingriff verneinte, überwies die Enteignungskommission
V die Sache gemäss Art. 22 Abs. 3 des kantonalen Enteignungsgesetzes an
das Verwaltungsgericht, welches die Klage abwies. Die dagegen von Ruth
Guler erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde weist das Bundesgericht ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Strassen- und Baulinien, welche das Strassenareal begrenzen
und die für die Erstellung von Gebäuden massgebenden Linien festlegen,
zählen zu dem im kantonalen Recht seit jeher bekannten unentbehrlichen
Instrumentarium zur Sicherstellung der geordneten baulichen
Entwicklung. Bereits in seiner frühesten Rechtsprechung hatte sich das
Bundesgericht wiederholt mit den Eigentumsbeschränkungen zu befassen,
die sich aus der Festlegung derartiger Linien ergeben. Es anerkannte das
Eigentum als verfassungsmässig garantiertes Recht, hielt jedoch fest,
dass die Gesetzgebung dessen Umfang und Inhalt bestimme und dass es
daher "den vom objektiven Rechte aufgestellten mitunter sehr intensiven
Beschränkungen" unterliege (BGE V (1879) S. 396 E. 4; II (1876) S. 97
E. 8).

    Hievon ausgehend anerkannte das Bundesgericht die Verfassungsmässigkeit
einer gesetzlichen Regelung, die der im vorliegenden Fall zu beurteilenden
Rechtslage nahekommt. Das damals zu beurteilende Luzerner Gesetz sah
einerseits vor, dass der Eigentümer eines Bauwerks, welches über eine
Baulinie hinausreicht, das Recht verliert, Bauarbeiten auszuführen,
welche nicht zum blossen Unterhalt notwendig sind; anderseits ordnete
es an, dass die Entschädigung für das abzutretende Land erst bei der
Expropriation zu leisten ist (BGE V (1879) S. 538).

    In weiteren Fällen bestätigte das Gericht wiederholt, dass die
Belastung eines Grundstückes mit Baulinien grundsätzlich auch dann
entschädigungslos zu dulden ist, wenn sie auf unbestimmte Zeit gilt
(BGE II (1876) S. 97; XVII (1891) S. 59 f., E. 3). Es anerkannte,
dass ein Gesetz, das die mit der Festsetzung von Baulinien verbundenen
Eigentumsbeschränkungen zeitlich nicht beschränkt und das die Behörden
auch nicht verpflichtet, eine Strasse, für welche die Baulinien festgelegt
sind, innert bestimmter Frist auszuführen oder die Linien aufzuheben,
nicht gegen die Eigentumsgarantie verstösst (BGE XXXI/II (1905) S. 546
oben, S. 553 E. 2).

    b) Die neuere Praxis bestätigt, dass Baulinien im allgemeinen nicht
zu einem besonders schweren Eingriff in das Eigentum führen. Baulinien
beschränken das Grundeigentum in ähnlicher Weise wie dies der Grenz-
oder Gebäudeabstand tut, wofür auch keine Entschädigung beansprucht
werden kann (BGE 95 I 461, 93 I 343 mit Hinweisen). Soweit die Bau-
und Strassenlinien die Grob- und Feinerschliessung des Baugebiets und
die Korrektion solcher bestehender Strassen festsetzen (vgl. Art. 4 des
Wohnbau- und Eigentumsförderungsgesetzes, WEG, vom 4. Oktober 1974),
zählen sie zu den üblichen Eigentumsbeschränkungen (ARTHUR MEIER-HAYOZ,
Berner Kommentar zum Sachenrecht, Band IV, 1. Abteilung, 1. Teilband,
N. 669, S. 253). Die Eigentümer sind in der Regel an der Festsetzung dieser
Linien ebensosehr interessiert wie die Allgemeinheit. Diese Feststellung
trifft grundsätzlich auch für die Korrektion zu schmaler Strassen zu,
verbessert diese doch die Erschliessungsverhältnisse und erlaubt sie wegen
des grösseren Baulinienabstandes eine günstigere, möglicherweise höhere
Überbauung. Schliesslich können die Nachteile, die aus der Durchschneidung
von Parzellen mit Bau- und Strassenlinien entstehen, vielfach mit den
hiefür vorgesehenen Parzellordnungsmassnahmen, welche auch auf überbaute
Grundstücke anwendbar sind, behoben werden (vgl. Art. 7-11 WEG). Dennoch
ist im Einzelfall zu prüfen, ob nicht ausnahmsweise die sich aus einem
Baulinienplan ergebenden Beschränkungen den Eigentümer enteignungsähnlich
treffen (BGE 95 I 461 mit Hinweisen).

Erwägung 4

    4.- a) Die Korrektionslinie untersagt die bisherige Nutzung
der Häuser nicht. Auch ist ihr Unterhalt möglich, d.h. das Gebäude
darf in seiner derzeitigen inneren und äusseren Gestaltung, Form und
Zweckbestimmung bestehen bleiben. Dabei rechnet die kantonale Praxis
zum Teil auch bauliche Vorkehren, die nicht allein der Erhaltung,
sondern auch der Modernisierung dienen, zum Unterhalt, vorausgesetzt,
dass sie nicht bauliche Umgestaltungen zur Folge haben (ERICH ZIMMERLIN,
Kommentar zum Baugesetz des Kantons Aargau, N. 2b zu § 150, S. 416). Der
einwandfreie Unterhalt der von Baulinien angeschnittenen Häuser zieht im
Enteignungsfall keine Nachteile nach sich. Die Entschädigung bemisst sich
nach dem Verkehrswert des entsprechend gut unterhaltenen Gebäudes.

    b) Umgestaltungen oder Umbauten, mit denen die Substanz eines Gebäudes
verändert wird, sind hingegen gemäss der im kantonalen Recht allgemein
üblichen Regelung (vgl. ERICH ZIMMERLIN, aaO, N. 12 zu §§ 137-40, S. 377)
nur zulässig, wenn der Eigentümer einen Beseitigungs- oder Mehrwertrevers
unterzeichnet, in welchem er für den Enteignungsfall von vornherein auf
eine Entschädigung für die wertvermehrenden Investitionen verzichtet. Die
künftig mögliche Nutzung der mit Baulinien belasteten Liegenschaft ist
somit beschränkt, jedoch - entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin
- nicht besonders schwerwiegend im Sinne des Begriffs der materiellen
Enteignung.

    Es ist zu beachten, dass die blosse Zulässigkeit von Unterhaltsarbeiten
für alle bestehenden Bauten gilt, welche neuem Recht widersprechen. Die
mit Baulinien belasteten Liegenschaften befinden sich in dieser Hinsicht
in keiner andern Lage als die zahlreichen überbauten Grundstücke, deren
Bauten einer neuen Bau- oder Zonenordnung oder einer sonstigen seit ihrer
Erstellung eingetretenen Rechtsänderung widersprechen. Diese Bauten können
dank der Besitzstandsgarantie bestehen bleiben, doch darf in sie nicht
mehr investiert werden, als der Unterhalt erfordert. Die mit Baulinien
belasteten Gebäude befinden sich sogar in einer günstigeren Lage, da deren
Eigentümer gegen Revers auch wertvermehrende Investitionen tätigen dürfen,
wenn das kantonale Recht dies vorsieht.

Erwägung 5

    5.- Es ist daher im vorliegenden Falle einzig fraglich, ob besondere
Umstände vorliegen, die zur Folge haben, dass die Beschwerdeführerin
durch die Baulinie der Doggilochstrasse so betroffen wird, dass ihr
Opfer gegenüber der Allgemeinheit unzumutbar erschiene und es mit der
Rechtsgleichheit nicht vereinbar wäre, wenn hiefür keine Entschädigung
geleistet würde.

    a) Die Beschwerdeführerin macht in diesem Sinne geltend, der von
ihr verlangte Revers habe zur Folge, dass sie von den dringend nötigen
Investitionen absehen müsse, was zwangsläufig dazu führe, dass auf längere
Sicht die Bewirtschaftung des Hotelbetriebes nicht mehr möglich sei.

    Ihre Befürchtung, dass das Hotel ohne den Einbau von Badezimmern
und Duschen nicht mehr zeitgemäss und deshalb auch nicht mehr voll
konkurrenzfähig sei, ist verständlich. Doch übersieht sie, dass die
geplante Verbreiterung der Doggilochstrasse sie nicht anders trifft als
alle Eigentümer bebauter Liegenschaften, deren Häuser von Korrektionslinien
angeschnitten sind und die daher im Zeitpunkt der Ausführung der Korrektion
abgebrochen werden müssen. Die betroffenen Betriebsinhaber haben in einem
solchen Falle entweder einen Revers zu unterzeichnen oder weitergehende
Lösungen wie etwa die Errichtung eines Neubaues auf der Baulinie oder
eine Betriebsverlegung in Erwägung zu ziehen.

    b) Es ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin bereits im
Jahre 1981 Duschen und Badezimmer für rund Fr. 200'000.-- eingerichtet
hat. Die Gemeinde wiederholt auch im bundesgerichtlichen Verfahren ihre
Zusicherung, sie werde in den nächsten zehn Jahren keine Enteignung
für die Verbreiterung der Doggilochstrasse durchführen. Sie bestätigt
ausdrücklich, sie sei selbstverständlich entgegen der Meinung der
Beschwerdeführerin an diese Zusicherung gebunden. Die Beschwerdeführerin
legt nicht dar, warum diese Bindung nicht bestehen soll. Wohl sieht Art. 44
des Gemeindebaugesetzes nicht vor, dass der Gemeinderat eine Terminierung
des Reverses, wie sie in andern kantonalen Rechten bekannt ist (vgl. etwa
Basel-Stadt, Strassengesetz vom 14. Januar 1937, § 22), zubilligen
kann. Doch wäre die vorbehaltlose im gerichtlichen Verfahren gegebene
Zusicherung in einem Enteignungsverfahren nicht unbeachtlich, falls
etwa die Gemeindeversammlung entgegen der Auffassung des Gemeinderates
in einem früheren Zeitpunkt die Verbreiterung der Doggilochstrasse
beschliessen sollte. Kann somit die Beschwerdeführerin damit rechnen,
dass ihr jedenfalls zehn Jahre für die Amortisation ihrer Investition zur
Verfügung stehen, so wird ihr mit der Forderung eines Mehrwertreverses
kein Sonderopfer zugemutet.

    c) Das Verwaltungsgericht weist sodann zutreffend darauf hin, dass die
angrenzende Parzelle Nr. 432 mit dem Hotelgrundstück Nr. 433 wirtschaftlich
eine Einheit bildet. Die Beschwerdeführerin bestreitet dies nicht, meint
jedoch, ein Ausweichen auf die benachbarte Parzelle Nr. 432 führe lediglich
dazu, die Rechtsnachteile der materiellen Enteignung auf ein anderes
Grundstück zu übertragen. Dieser Einwand ist nicht stichhaltig. Da sie
die Möglichkeit hat, ihre Parzelle zu vereinigen und alsdann in Beachtung
der Baulinie einen Neubau zu errichten, kann von vornherein nicht gesagt
werden, die Baulinie treffe die Beschwerdeführerin gegenüber den übrigen
betroffenen Eigentümer in besonders stossender ungleicher Weise. Diese
Möglichkeit hat vielmehr zur Folge, dass die Beschwerdeführerin weniger
schwer betroffen ist als der Eigentümer einer Liegenschaft, auf welcher
ohne Durchführung einer Umlegung oder Grenzbereinigung mit andern
Eigentümern auf der Baulinie nicht neu gebaut werden könnte. Im übrigen
entspricht die von der Beschwerdeführerin beanstandete Folge - der Verlust
wertvermehrender Investitionen - dem Zweck der Baulinie; diese will im
Interesse der geplanten Strassenkorrektion die Erstellung von Neubauten
auf der Baulinie fördern. Das Grundstück der Beschwerdeführerin wird
somit durch den Baulinienplan vom 14. April 1981 nicht enteignungsähnlich
getroffen.

    d) Im übrigen scheint es angebracht zu sein, im Hinblick auf die
besonders starke Abnützung und Beschädigung von Hoteleinrichtungen bei
der Festsetzung des Mehrwertes aufgrund der Bauabrechnung den Anteil am
"normalen Unterhalt" grosszügig zu bemessen. Damit ist einem allfällig
künftigen Entscheid über die Enteignungsentschädigung wegen formeller
Enteignung nicht vorgegriffen.