Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IA 76



109 Ia 76

14. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 23.
Februar 1983 i.S. Gemeinde Sumvitg/Somvix gegen Regierung des Kantons
Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Pilzsammelverbot; Art. 699 ZGB; Gemeindeautonomie.

    1. Das Aneignungsrecht nach Art. 699 ZGB kann durch kantonales
öffentliches Recht eingeschränkt werden, sofern ein hinreichendes
öffentliches Interesse gegeben ist und der Grundsatz der
Verhältnismässigkeit gewahrt wird (E. 3b).

    2. Beurteilung eines auf drei Jahre beschränkten, absoluten
Pilzsammelverbotes für das Gebiet einer ganzen Gemeinde (E. 3c und 3d).

Sachverhalt

    A.- Das Gesetz über den Schutz von Pflanzen und Pilzen des Kantons
Graubünden enthält folgende Bestimmungen über den Schutz und das Sammeln
von Pilzen:

    Pilzsammeln

    Art. 10. Das Sammeln in Gruppen von mehr als drei Personen, ausgenommen

    Familien und die vom Justiz- und Polizeidepartement bewilligten

    Exkursionen, ist verboten.

    Geschützte Pilze

    Art. 11. Das mutwillige Zerstören von Pilzen ist verboten.

    An Eierschwämmen (Cantharellus cibarius), Steinpilzen (Boletus edulis),

    Morcheln (Morchella) und Riesenschirmlingen (Lepiota procera) dürfen
je Tag
   und Person gesamthaft nur zwei Kilo gesammelt werden.

    Die Regierung kann diese Beschränkung ändern und auf andere Arten
   ausdehnen sowie für einzelne besonders gefährdete Pilzarten ein
   befristetes

    Sammelverbot für das ganze Kantonsgebiet oder für Teile desselben
erlassen.

    Schontage und Schutzgebiete

    Art. 12. Die Regierung legt für das ganze Kantonsgebiet einheitliche

    Schontage für das Sammeln von Pilzen fest und kann im Einvernehmen
mit der

    Gemeinde Pilzschutzgebiete bezeichnen, in welchen das Sammeln von
Pilzen
   aller Arten verboten ist.

    Geräte

    Art. 13. Der Gebrauch von Rechen, Hacken und anderen Geräten ist beim

    Pilzsammeln verboten.

    Gemeinden

    Art. 14. Die Gemeinden können zum Schutz der Pflanzen und Pilze
   weitergehende Vorschriften erlassen. Diese bedürfen der Genehmigung der

    Regierung.

    Aufsicht

    Art. 15. Polizeiorgane, Pilzkontrolleure, Forstbeamte, Wildhüter, Jagd-
   und Fischereiaufseher und Bergführer haben die Einhaltung der
   Bestimmungen zum Schutze der Pflanzen und Pilze zu überwachen und
   Übertretungen anzuzeigen.

    In besonders bedrohten Gebieten können Hilfsaufseher beigezogen werden.

    Die Regierung ordnet ihre Tätigkeit durch ein Reglement.

    Die Aufsichtsorgane werden auf ihre Aufgabe vorbereitet.

    Aufgrund von Art. 11 und Art. 12 dieses Gesetzes beschloss die
Regierung des Kantons Graubünden am 19. April 1982 weitergehende
Pilzschutzbestimmungen: Die Wochentage Montag, Dienstag, Mittwoch und
Freitag wurden als kantonale Schontage bezeichnet; das Sammeln von Pilzen
wurde zwischen 20.00 Uhr und 08.00 Uhr verboten; für die Jahre 1982-1984
wurde für die Dauer von April bis Oktober pro Monat jeweilen der 10. bis
20. als Schonzeit bestimmt.

    Am 26. März 1982 beschloss die Gemeindeversammlung der Gemeinde
Sumvitg/Somvix, das Sammeln von Pilzen auf dem gesamten Gemeindegebiet
für die Dauer von drei Jahren vollständig zu verbieten. Die Regierung des
Kantons Graubünden verweigerte die Genehmigung dieses Beschlusses. Dagegen
erhob die Gemeinde Sumvitg/Somvix staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung der Gemeindeautonomie. Das Bundesgericht wies die Beschwerde
im Sinne der Erwägungen ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                  Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Die Beschwerdeführerin begründet das dreijährige generelle
Pilzsammelverbot damit, auf dem Gebiete der Gemeinde werde an Pilzen
Raubbau betrieben. Insbesondere ausländische Pilzsucher suchten die
Waldflächen in organisierter und systematischer Weise nach Pilzen ab,
um diese im Handel zu vertreiben. Dabei würden die Pilze regelmässig samt
den Wurzeln ausgerissen. Dieses Vorgehen führe in naher Zukunft zu einem
Aussterben aller Pilze. Die bisher getroffenen Massnahmen hätten zu einem
effektiven Schutz der Pilze nicht beigetragen. Um der Gefahr, dass Pilze
gänzlich aussterben, zu begegnen, sei ein allgemeines Pilzsammelverbot
notwendig.

    Im angefochtenen Beschluss der Regierung wird ausgeführt, das auf
die ganze Fläche der Gemeinde Sumvitg/Somvix ausgedehnte Pilzsammelverbot
stehe mit der Bestimmung von Art. 699 Abs. 1 ZGB in Widerspruch, wonach
nur lokal begrenzte Verbote zulässig seien. In ihrer Vernehmlassung
unterstreicht die Regierung die Auffassung, dass das für die ganze Gemeinde
beschlossene Sammelverbot dem durch Art. 699 ZGB garantierten Recht der
Aneignung wildwachsender Pilze widerspreche. Im übrigen weist sie darauf
hin, dass die kantonalen Pilzschutzbestimmungen die Situation im Kanton
bereits verbessert hätten und ein kommunales Verbot die Gefährdung der
Pilzkulturen lediglich auf andere Gemeinden verlagere.

    b) Nach Art. 699 Abs. 1 ZGB sind das Betreten von Wald und Weide und
die Aneignung wildwachsender Beeren, Pilze und dergleichen im ortsüblichen
Umfange jedermann gestattet, soweit nicht im Interesse der Kulturen
seitens der zuständigen Behörde einzelne, bestimmt umgrenzte Verbote
erlassen werden. Das Bundesgericht hat diese Bestimmung als sogenannte
Doppelnorm mit zugleich privatrechtlichem und öffentlichrechtlichem
Inhalt qualifiziert (BGE 96 I 98 E. 2). Danach regelt Art. 699 Abs. 1
ZGB als privatrechtliche Eigentumsbeschränkung die Beziehungen zwischen
dem Eigentümer und Spaziergängern, Beeren- und Pilzsammlern. Aufgrund
des öffentlichrechtlichen Inhalts dieser Bestimmung sind die Behörden
ermächtigt, von Amtes wegen über den freien Zutritt zu Wald und Weide und
über die freie Aneignung von Beeren und Pilzen zu wachen. Das Bundesgericht
hat trotz der in der Literatur geübten Kritik daran festgehalten, dass
Art. 699 Abs. 1 ZGB als Doppelnorm zu qualifizieren ist (BGE 106 Ib 48
E. 4a, 106 Ia 86 E. 3a, 105 Ib 274 E. 1a).

    Die privatrechtliche Eigentumsbeschränkung zugunsten der Allgemeinheit
gilt nicht schrankenlos. Das Zutritts- und Aneignungsrecht findet
privatrechtlich seine Grenze dort, wo es nicht ohne Schädigung ausgeübt
wird und damit mit den Interessen des Grundeigentümers nicht mehr
vereinbar ist, ferner im Ortsgebrauch und in räumlich und zeitlich genau
umgrenzten Verboten zum Schutz von Kulturen wie Baum- und Pflanzschulen
(PETER LIVER, Schweizerisches Privatrecht, Band V/1, S. 282 f.; ARTHUR
MEIER-HAYOZ, Berner Kommentar, Band IV, 3. Aufl. 1975, N. 29 ff. und
35 ff. zu Art. 699 ZGB; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL, Zürcher Kommentar,
2. Aufl. 1977, N. 9 zu Art. 699 ZGB). Darüber hinaus kann das Zutritts-
und Aneignungsrecht durch kantonale öffentlichrechtliche Bestimmungen
eingeschränkt werden. Hierfür ist es notwendig, dass ein hinreichendes
öffentliches Interesse an der Einschränkung gegeben ist und die Massnahmen
den Grundsatz der Verhältnismässigkeit wahren (vgl. MEIER-HAYOZ, aaO,
N. 39 ff. zu Art. 699 ZGB; LIVER, aaO, S. 283; HAAB/SIMONIUS/SCHERRER/ZOBL,
aaO, N. 10 zu Art. 699 ZGB).

    An den Voraussetzungen für eine öffentlichrechtliche Beschränkung
fehlte es in zwei vom Bundesgericht vor langem beurteilten Fällen: Das
Verbot, im Kanton Zug an Sonntagvormittagen Beeren zu sammeln, konnte
nicht damit begründet werden, dass die Störung der Nachtruhe vom Samstag
auf den Sonntag, sittlich anstössiges Handeln, Sachbeschädigungen und
Belästigungen durch "hergelaufene kantonsfremde Leute" verhindert werden
sollten (BGE 43 I 285 E. 2). Eine Vorschrift des Kantons Uri, wonach
an Sonn- und Feiertagen das Sammeln von Beeren mit Körben, Gefässen,
Säcken und dergleichen zum Fortschaffen untersagt war, konnte nicht auf
eine Bestimmung des Sonntagsruhegesetzes gestützt werden (BGE 58 I 177
E. 4). In beiden Fällen verneinte das Bundesgericht haltbare Gründe des
öffentlichen Interesses an einer Einschränkung des durch Art. 699 Abs. 1
ZGB garantierten Aneignungsrechts und erachtete die Verbote daher als
bundesrechtswidrig.

    c) Unter den genannten Voraussetzungen des hinreichenden öffentlichen
Interesses und der Wahrung des Grundsatzes der Verhältnissmässigkeit sind
Einschränkungen des Zutritts- und Aneignungsrechts an sich zulässig. Sie
stehen nicht zum vornherein im Widerspruch zu Art. 699 Abs. 1 ZGB,
sondern vermögen vielmehr Pflanzen- und Pilzbestände auf längere Sicht zu
schützen und damit die Möglichkeit der Aneignung zu erhalten (vgl. VPB
39/1975 Nr. 62 S. 50). Als Massnahmen kommen Mengenbeschränkungen, das
Verbot des organisierten Sammelns und der Verwendung bestimmter Geräte,
die Bezeichnung von Schongebieten und die Bestimmung von Schonzeiten in
Frage, wie dies bereits im kantonalen Gesetz über den Schutz von Pflanzen
und Pilzen vorgesehen ist. Im vorliegenden Fall steht ein auf drei Jahre
beschränktes, absolutes Pilzsammelverbot für das Gebiet einer ganzen
Gemeinde in Frage. Auch eine solche Massnahme kann unter Umständen
zulässig sein. Erforderlich hierfür wäre etwa, dass das öffentliche
Interesse an einem derart weitgehenden Verbot mit der drohenden Gefahr der
Ausrottung und des Aussterbens ganzer Pilzkulturen belegt werden kann. Es
müsste weiter dargetan werden können, dass die Massnahme geeignet und im
Ausmass (Pilzsammelverbot für alle Sorten, Dauer) erforderlich ist, um zum
notwendigen Nachwachsen oder Überleben der Pilzkulturen beizutragen. Unter
solchen oder ähnlichen Voraussetzungen liesse sich auch ein dreijähriges,
absolutes Pilzpflückverbot für das Gebiet einer ganzen Gemeinde mit
Art. 699 Abs. 1 ZGB vereinbaren. Aus diesen Gründen kann an der Auffassung
der Regierung, das Pilzsammelverbot der Gemeinde Sumvitg/Somvix verstosse
zum vornherein gegen Art. 699 ZGB, nicht festgehalten werden.

    d) Im folgenden bleibt zu prüfen, ob sich der Beschluss der Regierung,
das Pilzsammelverbot der Gemeinde Sumvitg/Somvix nicht zu genehmigen,
auf sachliche Gründe stützen lässt.

    Die Beschwerdeführerin hat im vorliegenden Fall weder im Antrag an
die Regierung noch im bundesgerichtlichen Verfahren ein hinreichendes
öffentliches Interesse an einem dreijährigen, absoluten Verbot
dargetan. Sie hat sich damit begnügt, in genereller Weise darauf
hinzuweisen, dass Gefahr der Ausrottung besteht, wenn mit dem Raubbau
fortgefahren würde. Sie hat nicht dargetan, dass die Ausrottung alle
Pilzsorten bedrohe und daher ein absolutes Pilzsammelverbot notwendig
sei. In ihrer staatsrechtlichen Beschwerde hat sie auch keine nähere
Ausführungen zur Frage gemacht, weshalb die neuen, strengeren Vorschriften
der Regierung für den Pilzschutz ungenügend seien und daher darüber
hinausgehende Schutzmassnahmen für das Gebiet der Gemeinde Sumvitg/Somvix
notwendig seien. Bei der Überprüfung des Regierungsbeschlusses darf
weiter in Betracht gezogen werden, dass eine gewisse Koordination der
Pilzschutzbestimmungen innerhalb des Kantons als wünschbar erscheint,
damit nicht Raubbau betreibende Pilzsucher von Gemeinden mit strengeren
Vorschriften in Gemeinden mit weniger weit gehenden abwandern. Dem
Anliegen der Koordination mag allenfalls ein kleineres Gewicht zukommen,
wenn es sich um ein Gemeindegebiet handelt, das geographisch und unter
dem Gesichtswinkel der Pilzkulturen weitgehend abgeschlossen ist; dies
wird von der Beschwerdeführerin nicht behauptet. Schliesslich ist die
Kompetenz der Regierung von Bedeutung, aufgrund von Art. 11 und Art. 12
des Gesetzes selber für einzelne, besonders gefährdete Pilzarten ein
befristetes Sammelverbot für das ganze Kantonsgebiet anzuordnen, sowie
im Einvernehmen mit den Gemeinden Pilzschutzgebiete zu bezeichnen,
in welchen das Sammeln von Pilzen aller Art verboten ist. Von dieser
Kompetenz kann die Regierung jederzeit Gebrauch machen, wenn solche
zusätzliche Schutzmassnahmen sich als notwendig erweisen. Da die Regierung
mit der Nichtgenehmigung des absoluten, dreijährigen Pilzsammelverbotes
zu weniger weit gehenden Massnahmen nicht Stellung genommen hat, steht
der Beschwerdeführerin die Möglichkeit offen, solche bei der Regierung
zu beantragen. Bei dieser Sachlage lässt sich der angefochtene Beschluss
der Regierung mit sachlichen Gründen vertreten. Ist sie demnach nicht
in Willkür verfallen, so hat sie mit ihrem Beschluss auch nicht in den
Autonomiebereich der Gemeinde Sumvitg/Somvix eingegriffen.

    Aus diesen Gründen erweist sich die Rüge der Verletzung der
Gemeindeautonomie als unbegründet. Die Beschwerde ist daher im Sinne
der Erwägungen abzuweisen. Nach ständiger Rechtsprechung sind in
Beschwerdesachen wegen Verletzung der Gemeindeautonomie in Anwendung von
Art. 156 Abs. 2 OG keine Kosten zu erheben.