Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IA 72



109 Ia 72

13. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 26. Mai 1983 i.S. X.
gegen X. (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 2 Üb.Best. BV, Art. 290 ZGB.

    Die in Art. 290 ZGB erwähnte kantonale Stelle ist unter anderem befugt,
im Namen des unterhaltsberechtigten Kindes ein Rechtsöffnungsbegehren
zu stellen. Tritt der Rechtsöffnungsrichter auf ein solches Begehren
nicht ein mit der Begründung, nach kantonalem Prozessrecht seien nur
Anwälte zur Prozessvertretung berechtigt, so verletzt er den Grundsatz
der derogatorischen Kraft des Bundesrechts (Art. 2 Üb.Best. BV).

Sachverhalt

    A.- Die durch ihre Mutter gesetzlich vertretene A. X. hat ihren Vater,
B. X., für Unterhaltsbeiträge, die ihr im Scheidungsurteil ihrer Eltern
zugesprochen worden waren, betrieben. In dieser Betreibung wird sie
durch das Jugendsekretariat des Bezirkes Zürich (Zürich-Land) vertreten.
Nachdem B. X. Rechtsvorschlag erhoben hatte, reichte das Jugendsekretariat
im Namen von A. X. beim Präsidium des Bezirksgerichtes Steckborn ein
Rechtsöffnungsbegehren ein. Mit Verfügung vom 9. Dezember 1982 entschied
das Bezirksgerichtspräsidium, auf das Begehren werde nicht eingetreten, da
das Jugendsekretariat zur Vertretung von A. X. nicht befugt sei. Es wurde
dabei auf § 42 der thurgauischen Zivilprozessordnung (ZPO) verwiesen,
wonach eine Partei die Prozessführung oder Verbeiständung im Prozess
nur dem Ehegatten, einem Verwandten der auf- oder absteigenden Linie,
Geschwistern, dem Schwiegervater, Schwiegersohn oder Schwager sowie
einem vom Obergericht zur Ausübung des Anwaltsberufes zugelassenen Anwalt
übertragen kann.

    Eine gegen den bezirksgerichtlichen Entscheid eingereichte Beschwerde
wies die Rekurs-Kommission des Obergerichts des Kantons Thurgau mit
Entscheid vom 20. Januar 1983 ab.

    Den obergerichtlichen Entscheid hat das Jugendsekretariat im
Namen von A. X. mit Nichtigkeitsbeschwerde gemäss Art. 68 OG beim
Bundesgericht angefochten, wobei darum ersucht wird, die Eingabe
allenfalls als staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4
BV entgegenzunehmen.

    Der Beschwerdegegner B. X. beantragt, auf die Beschwerde sei nicht
einzutreten, allenfalls sei sie abzuweisen.

    Die Rekurs-Kommission des Obergerichts des Kantons Thurgau stellt
den Antrag, auf die Nichtigkeitsbeschwerde sei nicht einzutreten bzw. die
staatsrechtliche Beschwerde sei abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Gegenstand des angefochtenen Entscheides ist nicht eine Zivilsache
im Sinne von Art. 68 Abs. 1 OG. Die Eingabe der Beschwerdeführerin kann
deshalb nicht als Nichtigkeitsbeschwerde entgegengenommen werden. Da sie
indessen den an eine staatsrechtliche Beschwerde gestellten Anforderungen
genügt, ist sie als solche zu behandeln.
   ...

Erwägung 3

    3.- Erfüllt der Vater oder die Mutter die Unterhaltspflicht gegenüber
einem Kind nicht, so hat die Vormundschaftsbehörde oder eine andere vom
kantonalen Recht bezeichnete Stelle auf Gesuch dem andern Elternteil
bei der Vollstreckung des Unterhaltsanspruches in geeigneter Weise
unentgeltlich zu helfen (Art. 290 ZGB). Nach Ansicht des Jugendsekretariats
erfasst die in Art. 290 ZGB erwähnte Hilfe auch die Vertretung in einem
allfälligen Rechtsöffnungsverfahren. Die obergerichtliche Rekurs-Kommission
hält demgegenüber dafür, Art. 290 ZGB gehe nicht so weit, dass bei einem
Rechtsöffnungsverfahren betreffend ausstehende Kinderunterhaltsbeiträge §
42 ZPO nicht zur Anwendung gelangen würde.

    Strittig ist nach dem Gesagten, ob die Rekurs-Kommission in Missachtung
von Bundesrecht kantonales Recht angewendet habe, d.h. ob die kantonale
Instanz den in Art. 2 Üb.Best. BV verankerten Grundsatz der derogatorischen
Kraft des Bundesrechts verletzt habe. Die von der Beschwerdeführerin -
freilich mit dem unzutreffenden Rechtsmittel der Nichtigkeitsbeschwerde
- erhobene Rüge geht denn auch dahin, feststellen zu lassen, dass die
Rekurs-Kommission zu Unrecht kantonales statt eidgenössisches Recht
angewendet habe.

    Ob ein kantonaler Rechtssatz oder die ihm gegebene Auslegung mit dem
Bundesrecht vereinbar ist, prüft das Bundesgericht frei (BGE 102 Ia 155
E. 1 mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall hängt die Beantwortung dieser
Frage hauptsächlich von der Tragweite des Art. 290 ZGB ab.

Erwägung 4

    4.- Art. 290 ZGB verpflichtet die Kantone, für die Vollstreckung
von Unterhaltsansprüchen eines Kindes gegenüber einem Elternteil eine
Stelle zu bezeichnen, die dem andern Elternteil in geeigneter Weise
und unentgeltlich zu helfen hat. Eine solche Inkassohilfe ist nur
wirksam und somit im Sinne des Gesetzestextes "geeignet", wenn die von
den Kantonen bezeichneten Stellen sich nicht mit einer rein beratenden
Tätigkeit begnügen müssen, sondern wenn sie selber alle Schritte ergreifen
können, die zum Inkasso der Unterhaltsforderung notwendig sind (vgl. VALY
DEGOUMOIS, Pensions alimentaires, aide au recouvrement et avances, S. 29
f.). Dass eine kantonale Stelle der erwähnten Art die Gläubigerschaft
im Betreibungsverfahren als solchem zu vertreten befugt ist und demnach
beispielsweise das Betreibungs- oder das Fortsetzungsbegehren stellen
kann, dürfte unbestritten sein. Die Wirksamkeit der Inkassobemühungen
würde zu stark beeinträchtigt, wenn die Möglichkeit der Vertretung nicht
auch in betreibungsrechtlichen Zwischenverfahren wie der Rechtsöffnung
bestünde. Der Gläubiger hätte die Hilfe gerade dann zu entbehren, wenn er
sie am nötigsten hätte. Wohl liesse sich denken, dass die kantonale Stelle
ein Rechtsöffnungsgesuch vom Gläubiger selbst bzw. vom gesetzlichen
Vertreter unterzeichnen lassen würde. Der Gedanke einer wirksamen
Inkassohilfe verlangt aber auch, dass die erwähnte Stelle den Gläubiger in
einer Rechtsöffnungsverhandlung vertreten kann. Da die fraglichen Instanzen
über Spezialkenntnisse im Inkassowesen verfügen, ist nicht zu befürchten,
dass sich aus einer solchen Vertretung Unzulänglichkeiten ergeben könnten.

    Aus dem Gesagten erhellt, dass das Jugendsekretariat gestützt
auf Art. 290 ZGB zur Stellung des Rechtsöffnungsbegehrens im Namen der
Beschwerdeführerin befugt war. Indem die kantonalen Instanzen unter Hinweis
auf § 42 ZPO auf das Begehren nicht eintraten, haben sie den Grundsatz
der derogatorischen Kraft des Bundesrechts verletzt. Die staatsrechtliche
Beschwerde ist deshalb gutzuheissen.

    ...