Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IA 55



109 Ia 55

11. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom
16. Mai 1983 i.S. E. und Dr. E. gegen Dr. P., Obergericht (I. Zivilkammer)
und Kassationsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
Regeste

    Art. 59 BV; Gerichtsstandsklausel.

    Kriterien für die Beurteilung der Frage, ob ein gültiger Verzicht
auf den Wohnsitzrichter vorliegt. Es kann dabei nicht schlechthin
zwischen geschäftserfahrenen und rechtskundigen Personen einerseits,
nicht gewandten und rechtsunkundigen Personen anderseits unterschieden
werden (Präzisierung der Rechtsprechung, E. 3a).

    Gültigkeit der hier in Frage stehenden Gerichtsstandsvereinbarung
(E. 3b).

Sachverhalt

    A.- Rechtsanwalt Dr. P. erhob am 31. Oktober 1980 beim Bezirksgericht
Winterthur gegen Frau E. und deren Ehemann Dr. E. eine Forderungsklage
über den Betrag von Fr. 40'000.-- nebst Zins und Nebenkosten.
Bei der Forderung handelte es sich um eine solche betreffend das
Honorar für mehrere durch Dr. P. für Frau E. in Schaffhausen geführte
Prozesse in einer Erbschaftsstreitigkeit, abzüglich der geleisteten
Teilzahlungen. Die Zuständigkeit des Bezirksgerichtes Winterthur leitete
Dr. P. aus einer Gerichtsstandsklausel ab, die in der von Frau E. und
ihrem Ehemann am 2. Mai 1969 unterzeichneten Anwaltsvollmacht enthalten
war. Die nunmehr durch einen zürcherischen Anwalt vertretenen Eheleute
E. erhoben die Einrede der örtlichen Unzuständigkeit des Bezirksgerichtes
Winterthur. Dieses Gericht wies die Einrede mit Beschluss vom 3. April
1981 ab. Einen dagegen eingereichten Rekurs verwarf die I. Zivilkammer
des Obergerichtes des Kantons Zürich am 26. Juni 1981, und das
Kassationsgericht des Kantons Zürich wies am 12. Oktober 1981 eine gegen
den Entscheid des Obergerichtes gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde ab,
soweit es auf sie eintrat.

    Die Eheleute E. erhoben staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung
der Art. 59 und 4 BV. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, soweit
es darauf eintreten konnte.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Es bleibt die Frage zu erörtern, ob die in der Vollmacht für
Rechtsanwalt Dr. P. enthaltene Gerichtsstandsklausel den Anforderungen
von Art. 59 BV, wie sie durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtes
entwickelt worden sind, genüge.

    a) Nach dieser Rechtsprechung darf ein Verzicht auf den Richter des
eigenen Wohnortes nicht leichthin angenommen werden. Es bedarf dazu
einer ausdrücklichen Erklärung, deren Inhalt unmissverständlich ist
und die den Willen, einen anderen als den ordentlichen Gerichtsstand
zu begründen, klar und deutlich zum Ausdruck bringt. Befindet sich die
Gerichtsstandsvereinbarung in einem Formularvertrag, so ist erforderlich,
dass sie an gut sichtbarer Stelle angebracht ist und hervortritt. Beim
Entscheid darüber, ob diese Voraussetzungen erfüllt seien, hat das
Bundesgericht seit jeher auch die persönlichen Verhältnisse derjenigen
Partei mitberücksichtigt, die auf den Gerichtsstand nach Art. 59 BV
verzichtet. Es hat insbesondere unterschieden zwischen Personen, die
geschäftlich erfahren sind und über gewisse Rechtskenntnisse verfügen, und
solchen, welche in dieser Hinsicht über keinerlei Kenntnisse verfügen. Der
Grund für diese Rechtsprechung ist im Vertrauensprinzip zu suchen,
das auch bei der Auslegung von Verträgen prozessrechtlichen Inhaltes zu
berücksichtigen ist. Ob ein gültiger Verzicht auf den Wohnsitzrichter
vorliege, hängt demnach davon ab, ob der Vertragspartner des Verzichtenden
in guten Treuen annehmen durfte, sein Kontrahent habe mit der Annahme
des Vertrages auch der darin enthaltenen Gerichtsstandsvereinbarung
zugestimmt (BGE 104 Ia 280; 93 I 327 f. E. 5a; 91 I 14 E. 3). Es ist
jedoch zu beachten, dass nicht schlechthin zwischen geschäftserfahrenen und
rechtskundigen Personen einerseits und nicht gewandten und rechtsunkundigen
Personen anderseits unterschieden werden kann. Vielmehr bestehen in
dieser Hinsicht Zwischenstufen, für die je nach dem konkreten Stand der
Erfahrungen der betreffenden Person sowie nach dem Grad der formellen
Klarheit und der inhaltlichen Deutlichkeit der Klausel im Einzelfall die
Verbindlichkeit der Vereinbarung entweder zu bejahen oder zu verneinen
ist. In diesem Sinne sind die Ausführungen im Urteil vom 1. März 1978
(BGE 104 Ia 280/281) zu präzisieren.

    b) Die umstrittene Gerichtsstandsvereinbarung findet sich in einem
vorgedruckten Vollmachtsformular des Vereins zürcherischer Rechtsanwälte,
das um das Jahr 1969 herum im Kanton Zürich allgemein verwendet worden
zu sein scheint. Sie lautet wie folgt:

    "Für Erledigung von Streitigkeiten aus diesem Auftragsverhältnis
   [anerkennt der Auftraggeber die Gerichte am Geschäftssitz des

    Bevollmächtigten als zuständig] und das schweizerische Recht als
   anwendbar."

    Die hier eingeklammerten Wörter sind im Original kursiv
gedruckt. Unmittelbar anschliessend folgen das Datum und die
Unterschriften.

    aa) Was die Form der Klausel anbelangt, so erscheinen hier
die Anforderungen, die das Bundesgericht an einen Verzicht auf den
Wohnsitzrichter stellt, als erfüllt. Im Unterschied zu dem in BGE 93 I 323
behandelten Fall befindet sich die Bestimmung auf dem von den Auftraggebern
unterzeichneten Formular selbst und nicht in der Beilage; im Unterschied
zu der in BGE 104 Ia 278 behandelten Sache ist sie nicht auf der Rückseite,
sondern auf der Vorderseite angebracht, d.h. das Formular umfasst überhaupt
nur eine Seite. Was die graphische Gestaltung betrifft, so liesse sich
allerdings eine etwas bessere Abhebung vom übrigen Text denken. Dem Anwalt
der Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass z.B. die Art, wie
er persönlich als Beauftragter die Gerichtsstandsvereinbarung und andere
Nebenbestimmungen zur Vollmacht darzustellen pflegt, gegenüber der hier
gewählten gewisse Vorteile aufweist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die
zu beurteilende Gerichtsstandsklausel wegen ungenügender formeller Klarheit
unbeachtlich wäre. Die Art des Druckes und die Anordnung unmittelbar über
dem für die Unterschrift und Datierung vorgesehenen Raum schliessen es aus,
dass der Unterzeichner, der das Formular auch nur mit durchschnittlicher
Sorgfalt liest, die Bestimmung übersehen könnte. Ein Vergleich des
vorliegenden Falles mit solchen, bei denen die Gerichtsstandsklausel
eine unter zahlreichen sogenannten "allgemeinen Geschäftsbedingungen"
darstellt, die meistens zwei oder mehr Seiten umfassen, ist angesichts
der Kürze des gesamten Textes nicht angängig.

    bb) Die Beschwerdeführer halten weiter dafür, die
Gerichtsstandsvereinbarung entspreche auch inhaltlich dem Gebot der
Klarheit nicht. Soweit sie in diesem Zusammenhang geltend machen,
sie hätten die Vollmacht überhaupt nur als ein für die Legitimation des
Anwaltes gegenüber den zuständigen Gerichten notwendiges Papier betrachtet
und ihr für das interne Verhältnis zwischen ihnen und dem Bevollmächtigten
keinerlei Bedeutung beigemessen, ist der Einwand offensichtlich
unbegründet. Schon der Titel "Vollmacht" sagt für jedermann erkennbar aus,
dass durch die Urkunde dem Beauftragten gewisse Rechte eingeräumt werden,
was automatisch auch gewisse Verpflichtungen des Vollmachtgebers in sich
schliesst. Worin diese Rechte und Pflichten im einzelnen bestehen, wird
in den wenigen Sätzen, die den Inhalt des Formulars bilden, des näheren
umschrieben. Auch der Umstand, dass der Ehegatte der als Prozesspartei
auftretenden Beschwerdeführerin 1 das Formular mit zu unterzeichnen hatte,
sprach für dessen verpflichtende Bedeutung.

    Die Beschwerdeführer wenden ein, die Gerichtsstandsvereinbarung
entbehre deshalb der erforderlichen Klarheit, weil der gewählte
Gerichtsstand nicht in Form eines Ortsnamens in der Klausel selbst
angeführt ist. Dass dies nicht der Fall ist, beruht offensichtlich auf dem
Umstand, dass der Verein zürcherischer Rechtsanwälte ein einheitliches
Formular schaffen wollte, das für alle in irgendwelchen Ortschaften des
Kantons Zürich praktizierenden Anwälte verwendbar sein sollte. Dieses Motiv
ändert selbstverständlich nichts daran, dass die Gerichtsstandsklausel für
den Klienten verständlich sein muss, d.h. dass er ohne langes Überlegen
muss erkennen können, wo er gegebenenfalls einen Rechtsstreit mit dem
Anwalt auszufechten hat. Hierüber konnte aber im vorliegenden Falle
keine Unklarheit bestehen. Als Gerichtsstand wird der "Geschäftssitz des
Bevollmächtigten" bezeichnet. Ein Rechtsanwalt hat - im Gegensatz etwa
zu einer Bank, vgl. BGE 93 I 329 - von vereinzelten Ausnahmen abgesehen
nur einen Geschäftssitz, und er wird diesen auch sozusagen immer während
der ganzen Dauer seiner Berufstätigkeit beibehalten, schon deshalb,
weil er auf engen Kontakt mit seiner ortsansässigen Klientschaft
angewiesen ist. Hinzu kommt, dass im vorliegenden Fall der Ort des
Geschäftssitzes des Beschwerdegegners in auffälligem Fettdruck im Kopf
des Vollmachtsformulars figuriert ("Rechtsanwalt Dr. P. in Winterthur"),
so dass ein Zweifel daran, was unter dem "Geschäftssitz" zu verstehen
sei, überhaupt nicht aufkommen konnte. Die Beschwerdeführer machen denn
auch selbst nicht geltend, sie hätten sich unter diesem "Geschäftssitz"
konkret etwas anderes als Winterthur vorgestellt. Die Einwendungen,
die sich auf die behauptete formelle und inhaltliche Unklarheit der
Gerichtsstandsvereinbarung stützen, erweisen sich somit als unbegründet.

    c) Die Beschwerdeführer wenden weiter ein, sie seien beide
geschäftlich unerfahren und rechtsunkundig, weshalb nach dem
Vertrauensgrundsatz nicht habe angenommen werden dürfen, sie hätten
bewusst auf den Gerichtsstand ihres Wohnortes verzichtet. Sie berufen
sich in diesem Zusammenhang vor allem auf das Urteil BGE 104 Ia 278
ff. Indessen besteht in tatsächlicher Hinsicht zwischen jenem Fall
und dem heute zu beurteilenden ein entscheidender Unterschied. Dort
ging es um einen Beschwerdeführer, der knapp 2 1/2 Jahre vor der
Unterzeichnung des Vertrages mit Gerichtsstandsklausel als Flüchtling aus
einem osteuropäischen Staat in die Schweiz eingereist war, über dessen
Deutschkenntnisse keine Klarheit bestand und von dem auch abgesehen von
diesem rein sprachlichen Moment die Gegenpartei nicht in guten Treuen
annehmen durfte, er könne die Tragweite einer Klausel der fraglichen Art
nach schweizerischem Recht ermessen. Hier liegen die Dinge anders. Das
Obergericht hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die Beschwerdeführerin
1 schon vor der Unterzeichnung der streitigen Vollmacht in Rechtshändel
verwickelt war, zu deren Regelung sie den Beschwerdegegner beigezogen
hatte. Auch verfügte sie über eine gewisse kaufmännische Ausbildung
und Praxis, wobei es für die Beurteilung der Frage, ob sie den Sinn
einer Gerichtsstandsvereinbarung zu erkennen vermocht habe, nicht darauf
ankommt, dass die Ausbildung wohl eher oberflächlich war und dass sie nie
eine verantwortungsvolle Stelle bekleidet haben will. Schliesslich darf
nicht nur die geschäftliche Erfahrung der Beschwerdeführerin 1, sondern
es muss auch diejenige des Beschwerdeführers 2 berücksichtigt werden, da
nach der Lebenserfahrung anzunehmen ist, die beiden Ehegatten hätten das
Formular gemeinsam gelesen und ungefähr gleichzeitig unterzeichnet. Der
Beschwerdeführer 2 ist ein schweizerischer Akademiker und stand zur
Zeit der Unterzeichnung der Vollmacht im 65. Lebensjahr. Auch wenn man
die Darstellung in der Beschwerdeschrift, wonach er nie eine haupt-
oder nebenberufliche Tätigkeit ausgeübt habe, die einen Schluss auf
Geschäftserfahrenheit oder Rechtskunde zuliesse, nicht in Zweifel zieht,
ist es äusserst unwahrscheinlich, dass er nicht im privaten Bereich das
eine oder andere Mal mit Vertragsformularen, Vollmachten usw. in Berührung
gekommen sein sollte. Es fällt übrigens auf, dass in der Beschwerde
sämtliche positiven Angaben über den Lebenslauf des Beschwerdeführers 2
fehlen. Hierüber wären detaillierte Angaben erforderlich gewesen, wenn
man dartun wollte, er habe entgegen der allgemeinen Erfahrung in seinem
langen Leben als Akademiker überhaupt keinerlei Kenntnisse über rechtliche
Vorgänge erworben. Ob der Beschwerdeführer passivlegitimiert sei, ist
eine Frage, die im Hauptprozess zu klären sein wird; im Zusammenhang mit
der hier zu beurteilenden Gerichtsstandsklausel genügt es, dass er die
Vollmacht mitunterzeichnet hat. Im übrigen ist auf die Ausführungen in
E. 3a zu verweisen, aus denen sich ergibt, dass es für die Verbindlichkeit
einer Gerichtsstandsklausel nicht des Nachweises einer besonderen
geschäftlichen oder juristischen Erfahrung bedarf. Ist die Klausel klar
und eindeutig, wie dies hier zutrifft, so muss nach dem Vertrauensprinzip
auch die Erfahrung eines durchschnittlich gebildeten Bürgers genügen.