Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IA 239



109 Ia 239

44. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 2. November 1983 i.S. Goetschy gegen Polizeigerichtspräsident und
Appellationsgericht (Ausschuss) des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    § 229 StPO/BS, Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK, Anspruch auf Verbeiständung
im Strafverfahren.

    § 229 StPO/BS ist insoweit mit Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK nicht
vereinbar, als das Recht des Angeschuldigten, sich im Verfahren auf
Verzeigung, d.h. vor dem Polizeirichter, durch einen Anwalt verbeiständen
zu lassen, von einschränkenden Voraussetzungen abhängig gemacht wird
(E. 4-6).

Sachverhalt

    A.- Erwin Goetschy wurde mit Strafbefehl vom 27. Oktober 1982 wegen
Verstosses gegen das Strassenverkehrsgesetz zu einer Busse von Fr. 100.--
verurteilt. Dagegen erhob er Einsprache. Sein Anwalt beantragte, es sei ihm
die Vertretung seines Mandanten in der Verhandlung vor Polizeigericht zu
bewilligen, was der Polizeigerichtspräsident mit Verfügung vom 3. Februar
1983 ablehnte. Der Ausschuss des Appellationsgerichtes des Kantons
Basel-Stadt bestätigte diesen Entscheid am 14. Februar 1983.

    Gegen dieses Urteil hat Erwin Goetschy staatsrechtliche Beschwerde
wegen Verletzung von Art. 4 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK eingereicht.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Kernpunkt des vorliegenden Beschwerdeverfahrens ist die Frage, ob §
229 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt (StPO/BS) insoweit, als
er in Übertretungssachen die Verbeiständung vor dem Richter ausschliesst
oder von besonderen Bedingungen abhängig macht, vor Art. 4 BV und Art. 6
Ziff. 3 lit. c der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) standhalte.

    a) Das Appellationsgericht hat seinen Standpunkt, wonach § 229
StPO/BS weder verfassungs- noch konventionswidrig sei, damit begründet,
diese Bestimmung bezwecke die Vereinfachung des polizeigerichtlichen
Verfahrens. Nur wer aus einem besonderen Grunde ausserstande sei,
seine Sache selbst zu führen, solle einen Rechtsbeistand beiziehen
können. Ein genereller Anspruch auf Verbeiständung im Verzeigungsverfahren
rechtfertige sich unter dem Gesichtswinkel der Prozessökonomie nicht. Das
Appellationsgericht hat sich in diesem Zusammenhang auf seine eigene
Rechtsprechung sowie auf zwei Urteile des Bundesgerichts berufen.

    Im einen Bundesgerichtsentscheid (BGE 105 Ia 288 ff.) ging es
jedoch nicht um ein Strafverfahren, sondern um einen Forderungsstreit
vor Arbeitsgericht. In Streitsachen dieser Art ist der Ausschluss
berufsmässiger Parteivertreter grundsätzlich zulässig, weil ein einfaches,
rasches und billiges Verfahren im Interesse beider Prozessparteien liegt,
was in einer Strafsache, in welcher der Angeschuldigte oft - wie z.B. hier
- nur dem Staat gegenübersteht, nicht gesagt werden kann. Im übrigen
ist das Beispiel auch deshalb schlecht gewählt, weil das Bundesgericht
jene Beschwerde aus hier nicht interessierenden Gründen gutgeheissen
hat. Im anderen Urteil (BGE 106 Ia 179 ff.) handelte es sich zwar um eine
Strafsache; streitig war jedoch, in welchen Fällen dem Angeschuldigten
ein amtlicher Verteidiger beigegeben werden muss. Das ist aber, wie in der
Beschwerde zutreffend ausgeführt wird, eine Frage, die mit derjenigen des
Ausschlusses eines freigewählten und privat honorierten Rechtsbeistandes
nichts gemeinsam hat.

    b) Das Bundesgericht hatte indessen auch schon über die Tragweite
des Rechts des Angeschuldigten, sich frühzeitig durch einen Vertreter
verbeiständen zu lassen, entschieden und dabei ausgeführt, das Recht, sich
selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers eigener Wahl zu
erhalten, sei durch Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK nur alternativ gewährleistet
(BGE 102 Ia 200). Unter Zitierung dieses einen anderen Kanton betreffenden
Entscheides hat es sodann in einem nicht veröffentlichten Urteil (vom
18. Oktober 1978 in Sachen Y. und I. gegen Appellationsgericht des
Kantons Basel-Stadt) die Auffassung bestätigt, dass nach der Praxis der
Europäischen Kommission für Menschenrechte der Angeklagte nicht frei wählen
könne, ob er sich selber verteidigen oder durch einen Anwalt verbeiständen
lassen wolle; diese Frage werde vielmehr durch die Gesetzgebung der
einzelnen Staaten geregelt, welche das Recht des Angeklagten auf Beizug
eines Verteidigers seiner Wahl beschränken könnten. Gestützt hierauf
wurde die erwähnte Bestimmung von § 229 StPO/BS als mit der Verfassung
und mit der EMRK vereinbar erklärt.

Erwägung 5

    5.- a) Die massgebende Bestimmung der EMRK ist Art. 6 Ziff. 3 lit. c
EMRK. Sie lautet:

    "Jeder Angeklagte hat mindestens (englischer Text) insbesondere
   (französischer Text) die folgenden Rechte:

    ...

    c) sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers
   seiner Wahl zu erhalten und, falls er nicht über die Mittel zur
   Bezahlung eines Verteidigers verfügt, unentgeltlich den Beistand eines

    Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der
Rechtspflege
   erforderlich ist."

    Der Entscheid über die sich hier stellende Frage, ob jeder
Angeschuldigte sich in jeder Strafsache durch einen Verteidiger
verbeiständen lassen dürfe, hängt von der Auslegung dieser Bestimmung ab:
es geht darum, ob sich der letzte Satzteil ("... wenn dies im Interesse der
Rechtspflege erforderlich ist") auf den ganzen Abs., d.h. auf das Recht
zum Beizug eines Anwaltes überhaupt, beziehe, oder nur auf den letzten
Satzteil, der vom Recht auf einen amtlichen Verteidiger, d.h. von der
notwendigen Verteidigung, handelt. Der Wortlaut der Bestimmung spricht
bei unbefangenem Durchlesen für die zweite Variante: der letzte Satzteil
scheint in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Erfordernis der
Mittellosigkeit zu stehen, sich also allein auf die notwendige Verteidigung
zu beziehen. Die französische Fassung

    "Tout accusé a droit notamment à:

    ...

    c) se défendre lui-même ou avoir l'assistance d'un défenseur de son
   choix et, s'il n'a pas les moyens de rémunérer un défenseur, pouvoir
   être assisté gratuitement par un avocat d'office, lorsque les intérêts
   de la justice l'exigent",
legt die nämliche Auslegung nahe.

    Indessen hat die Europäische Kommission für Menschenrechte Entscheide
gefällt, die - wenn auch das hier erwähnte Auslegungsproblem nirgends in
klarer Form behandelt wird - den Eindruck aufkommen lassen mussten, die
Kommission beziehe die Wendung "wenn dies im Interesse der Rechtspflege
erforderlich ist" auf den gesamten Abs. c des Art. 6 Ziff. 3 EMRK,
lasse also Einschränkungen des Rechtes auf Beizug eines Anwaltes im
Strafverfahren zu, wenn dieses Erfordernis nicht gegeben sei (vgl. die
Entscheide Nr. 2645/65 vom 19. Juli 1968, Bd. 24, S. 60; Nr. 2676/65 vom 3.
April 1967, Bd. 23, S. 35; Nr. 722/60 vom 6. März 1962, Bd. 9, S. 3; in:
Recueil de décisions de la Commission européenne des Droits de l'Homme).
Ebenfalls in diesem Sinne musste ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes
für Menschenrechte verstanden werden (Urteil i.S. Engel und Mitbeteiligte
vom 8. Juni/23. November 1976 in: Publications de la Cour européenne des
Droits de l'Homme, Serie A Nr. 22, S. 38). Auf diese Entscheide stützte
sich das Bundesgericht im erwähnten Urteil BGE 102 Ia 200 und in demjenigen
vom 18. Oktober 1978 i.S. Y. und I. Auch den seither veröffentlichten
Entscheiden der Kommission scheint die Auffassung zugrunde zu liegen,
dass der Angeklagte nicht entscheiden könne, ob er sich selber verteidigen
oder einen Verteidiger beiziehen wolle (vgl. die Entscheide Nr. 5923/72 vom
30. Mai 1975, Bd. 3, S. 45; Nr. 7138/75 vom 5. Juli 1977, Bd. 9, S. 54/55;
Nrn. 7572/76, 7586/76 und 7587/76 vom 8. Juli 1978, Bd. 14, S. 90; in:
Commission européenne des Droits de l'Homme, Décisions et rapports).

    b) Diese Rechtsprechung ist in der Lehre auf sozusagen einhellige
Kritik gestossen (vgl. WOLFGANG PEUKERT, Die Garantie des "fair trial"
in der Strassburger Rechtsprechung, in: EuGRZ 1980 S. 265/266, MARTIN
SCHUBARTH, Die Art. 5 und 6 der Konvention, insbesondere im Hinblick
auf das schweizerische Strafprozessrecht, in: ZSR 94/1975 I S. 507;
TRIFTERER/BINNER, Kommentar und Kritik zur Einschränkbarkeit der
Menschenrechte und zur Anwendung strafprozessualer Verfahrensgarantien,
in: EuGRZ 1977 S. 143; STEFAN TRECHSEL, Die Verteidigungsrechte
in der Praxis der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: ZStrR
96/1979, S. 355-357, ROLAND WINIGER, Das solothurnische Strafprozess-
und Gerichtsorganisationsrecht im Lichte der EMRK, in: Festschrift 500
Jahre Solothurn im Bund, S. 443/444). Die Einwände dieser Autoren haben
zweifellos Gewicht. Vor allem fällt auf, dass der Anspruch auf notwendige
Verteidigung - der zweifellos auch nach der strengsten Auslegung der EMRK
nicht in jedem Straffall gegeben ist - und derjenige auf Verteidigung
überhaupt in ungenügender Weise voneinander abgegrenzt worden sind, so dass
der Eindruck entstehen konnte, dort, wo der Angeklagte nicht verteidigt
sein müsse, dürfe ihm auch das Recht, sich freiwillig verteidigen zu
lassen, abgesprochen werden. Eine solche Auslegung der umstrittenen
Bestimmung von Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK scheint mit dem Grundcharakter
der Konvention nicht leicht vereinbar zu sein. Einwenden liesse sich
höchstens, dass die von den genannten Autoren vertretene weitherzigere
Auslegung dem Begüterten in Straffällen von geringerer Tragweite eine
Verteidigungsmöglichkeit öffnet, die dem Unbemittelten nicht zur Verfügung
steht. Die EMRK wollte jedoch nicht alle Ungleichheiten beseitigen,
sondern lediglich jedermann bestimmte Mindestrechte einräumen. TRECHSEL
bemerkt hiezu, eine Herstellung von "Rechtsgleichheit nach unten" liege
nicht im Sinne der liberalen EMRK (aaO, S. 357). Indessen braucht über
diese Fragen nicht oder doch nicht mehr abschliessend befunden zu werden,
da durch einen neuesten Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte über die Auslegung von Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK Klarheit
geschaffen worden ist.
   c) Der Gerichtshof hat in diesem Entscheid folgendes ausgeführt:

    "Art. 6 Abs. 3 garantiert dem Angeklagten drei Rechte: Sich
   selbst zu verteidigen, den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu
   erhalten und, unter bestimmten Bedingungen, unentgeltlich den Beistand
   eines Pflichtverteidigers zu erhalten.

    Um die entsprechenden Satzteile miteinander zu verbinden, verwendet die
   englische Fassung jedesmal die Konjunktion "oder" (or); die französische

    Fassung hingegen den entsprechenden Ausdruck - "ou" - nur zwischen den

    Satzteilen, die das erste und das zweite Recht beinhalten; danach
verwendet
   die französische Fassung die kumulative Konjunktion "et" (und).

    Die Travaux Préparatoires erklären diesen sprachlichen Unterschied
kaum.

    Aus ihnen geht hervor, dass anlässlich einer letzten Prüfung des

    Konventionsentwurfs am Vorabend der Unterzeichnung ein
Expertenausschuss

    "einige Korrekturen bezüglich der Form oder der Übersetzung" angebracht
   hat, darunter auch die Ersetzung von "and" (und) durch "or" (oder)
   in der englischen Fassung von Art. 6 Abs. 3 c (Recueil des Travaux

    Préparatoires, Bd. IV, S. 1010).

    Angesichts des Ziels und Zwecks der vorliegenden Bestimmung, die einen
   effektiven Schutz der Verteidigungsrechte gewährleisten soll (Urteil

    Artico, oben zitiert, Serie A Nr. 37, S. 16, Ziff. 33 - EuGRZ 1980,

    644; siehe auch, mutatis mutandis, die Urteile Adolf vom 26. März 1982,

    Serie A Nr. 49, S. 15, Ziff. 30 - EuGRZ 1982, 301 und Sunday Times
   vom 26. April 1979, Serie A Nr. 30, S. 30, Ziff. 48 - EuGRZ 1979,

    387), liefert im vorliegenden Fall der französische Text eine
   zuverlässigere Orientierung; in diesem Punkt stimmt der Gerichtshof
   mit der

    Kommission überein.

    Folglich muss ein "Angeklagter", der sich nicht selber verteidigen
möchte,
   die Möglichkeit haben, auf den Beistand eines Verteidigers seiner
   Wahl zurückzugreifen; wenn er nicht über die Mittel verfügt, einen
   Verteidiger zu bezahlen, so erkennt die Konvention ihm das Recht zu,
   unentgeltlichen

    Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im
Interesse der

    Rechtspflege erforderlich ist (Deutsche Übersetzung des Urteils i.S.

    Pakelli gegen Bundesrepublik Deutschland vom 25. April 1983,
Publications
   de la Cour européenne des Droits de l'Homme, Serie A, Nr. 64, S. 15,
   in: EuGRZ 1983,

    S. 346/347.)."

    Mit diesem Urteil ist klargestellt, dass sich die einschränkende
Wendung "wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist" nur
auf die Frage der unentgeltlichen Verteidigung bezieht und nicht auf das
Recht, sich im Strafverfahren verbeiständen zu lassen, als solches. Die
Kommissionsentscheide sind dadurch überholt, soweit sie den Eindruck
erweckten, auf einer anderen Auslegung des Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK zu
beruhen. Der Entscheid des Gerichtshofes ist zu berücksichtigen, obschon
er erst nach dem angefochtenen kantonalen Urteil ergangen ist; denn das
Bundesgericht hat in Fällen der vorliegenden Art das Recht von Amtes
wegen anzuwenden. Von der Lösung des Gerichtshofes abzuweichen besteht
um so weniger Anlass, als sie, wie dargelegt, durchaus auf der Linie der
neueren Literatur zu der streitigen Frage liegt. Offen bleiben kann bei
dieser Sachlage, ob auch unter dem Gesichtswinkel des rechtlichen Gehörs
im Sinne von Art. 4 BV Anlass bestanden hätte, die bisherige Rechtsprechung
des Bundesgerichtes neu zu überdenken.

Erwägung 6

    6.- Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich, dass § 229
StPO/BS mit Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK insoweit nicht vereinbar ist,
als er das Recht des Angeschuldigten, sich im Verfahren auf Verzeigung,
d.h. vor dem Polizeirichter, durch einen Anwalt verbeiständen zu lassen,
von einschränkenden Voraussetzungen abhängig macht. Demgemäss ist die
vorliegende Beschwerde gutzuheissen, soweit auf sie eingetreten werden
kann.