Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IA 183



109 Ia 183

35. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 2. November 1983 i.S.
Erbengemeinschaft Steiner gegen Frei und Kantonsgerichtspräsidium von
Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV. Kantonales Zivilprozessrecht, Postaufgabe zur Einhaltung
einer Rekursfrist.

    Es ist willkürlich, den Einwurf in einen Briefkasten der Übergabe an
eine Poststelle nicht gleichzusetzen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Gemäss Art. 74 Abs. 3 der bündnerischen Zivilprozessordnung
(ZPO) ist die Rekursfrist eingehalten, wenn die betreffende Eingabe am
letzten Tag der Frist einer Poststelle übergeben oder der zuständigen
Amtsstelle innerhalb der Bürozeit abgegeben worden ist. Die Rekursfrist
endete unbestrittenermassen am 7. Juli 1983. Die Rekurseingabe trägt
den Poststempel des 8. Juli, 10.00 Uhr. Auf dem Umschlag ist indessen
ein Vermerk von zwei Augenzeugen angebracht, wonach die Sendung am
7. Juli 1983 um 23.55 Uhr in den Briefkasten gelegt worden sei. Das
Kantonsgerichtspräsidium hielt das für belanglos, weil nach Art. 74
Abs. 3 ZPO die Sendung "einer Poststelle" übergeben werden müsse, der
ein Briefkasten nicht gleichzusetzen sei.

    Die Beschwerdeführer erblicken darin einen überspitzten Formalismus
und halten den Entscheid für willkürlich und rechtsungleich.

    a) In BGE 98 Ia 249 hat das Bundesgericht die Weigerung eines
waadtländischen Gerichts, den Einwurf in den Briefkasten einer "remise à
un bureau de poste suisse" gleichzustellen, als willkürlich bezeichnet,
jedenfalls soweit der Einwurf vor der letzten Leerung des Briefkastens
stattfinde. Ferner hat es in BGE 105 Ia 52 ff. mit Bezug auf die
Einforderung eines Kostenvorschusses entschieden, es sei willkürlich,
die an ein Postcheckamt abgesandte Zahlungsanweisung nicht gleich zu
behandeln wie die Einzahlung am Postschalter. Massgebend ist indessen,
wie das in diesen Entscheiden bereits zum Ausdruck gebracht worden
ist, dass die PTT-Betriebe selber den Einwurf eines Briefs in den
PTT-Briefkasten ebenso wie die Aufgabe am Postschalter als Aufgabe
bei der Post betrachten (Art. 135 Abs. 1 und 2 der Verordnung (1) zum
Postverkehrsgesetz vom 1. September 1967, SR 783.01; TUASON/ROMANENS,
PTT-Recht 3. Aufl. 1980 S. 70; RYCHNER, Wann ist ein Brief der Post
übergeben? SJZ 45/1949 S. 21). Für die vom Kantonsgericht getroffene
Unterscheidung zwischen Poststelle und Postbriefkasten gibt es deshalb
schlechterdings keine sachlichen Gründe. Es ist demnach unhaltbar, den
Einwurf in den Briefkasten nicht als Übergabe an eine Poststelle im Sinne
von Art. 74 Abs. 3 ZPO zu betrachten.

    b) Das Kantonsgerichtspräsidium appelliert in der Vernehmlassung an das
Bundesgericht, im Kampf gegen den prozessualen Formalismus die Proportionen
zu wahren und nicht nach der früheren Formstrenge nun plötzlich von den
Parteien nichts mehr und von den ohnehin überlasteten Gerichten alles
zu verlangen. Davon kann im vornherein nicht die Rede sein, wenn - wie
das Kantonsgericht annimmt -, lediglich eine Zeugenvernehmung erforderlich
ist, von der immerhin die Zulässigkeit eines Rechtsmittels abhängt. Wer
wie hier die Rechtzeitigkeit seiner Eingabe nicht mit dem Poststempel
beweisen kann, trägt auf jeden Fall schon das Beweisrisiko für die
effektive Postaufgabe (BGE 98 Ia 249, 97 III 15 f., 82 III 102). Ihm
mit Rücksicht auf die Belastung des Gerichts diesen Beweis überhaupt
abzuschneiden, ist unhaltbar.