Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IA 166



109 Ia 166

29. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 30.
November 1983 i.S. W. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich
und Obergericht (I. Strafkammer) des Kantons Zürich (staatsrechtliche
Beschwerde) Regeste

    Art. 4 BV, Art. 6 EMRK; Kostenauflage bei Einstellung des Verfahrens.

    Da der Beschuldigte im Strafverfahren gemäss Rechtsprechung nicht zur
Aussage verpflichtet ist, kann im blossen Umstand, dass er die Aussage
verweigert hat, in der Regel kein schuldhaftes Erschweren des Verfahrens
erblickt werden. Vorbehalten bleiben Fälle von Rechtsmissbrauch.

Sachverhalt

    A.- Die Bezirksanwaltschaft Zürich stellte am 7. November 1980 eine
Strafuntersuchung ein, die sie gegen W. angehoben hatte, und auferlegte
diesem die Untersuchungskosten. Auf dessen Begehren um gerichtliche
Beurteilung bestätigte der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes
Zürich den Kostenentscheid. W. erhob gegen die Verfügung des Einzelrichters
Rekurs, den das Obergericht des Kantons Zürich als Nichtigkeitsbeschwerde
behandelte und am 24. September 1981 teilweise guthiess; die Kosten der
eingestellten Untersuchung sowie jene vor Bezirksgericht wurden zu zwei
Dritteln W. auferlegt und zu einem Drittel auf die Staatskasse genommen.

    Die von W. gegen den Beschluss des Obergerichts erhobene
staatsrechtliche Beschwerde heisst das Bundesgericht gut, soweit es
darauf eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Der Beschwerdeführer beanstandet als willkürlich und als
Verletzung von Art. 6 EMRK, dass ihm das Obergericht einen Teil der
Kosten auferlegt habe, weil er zu Beginn der Untersuchung jede Aussage
verweigert habe.

    Die Kostenauflage an den Beschwerdeführer stützt sich auf § 42 Abs. 1
der zürcherischen Strafprozessordnung (StPO). Nach dieser Vorschrift
können die Kosten einer eingestellten Untersuchung dem Angeschuldigten
ganz oder teilweise auferlegt werden, wenn er die Untersuchung durch
ein verwerfliches oder leichtfertiges Benehmen verursacht oder wenn er
die Durchführung der Untersuchung erschwert hat. Auch die Kostenauflage
im letzteren Fall setzt ein schuldhaftes, kausales Verhalten voraus;
sie stellt eine Haftung prozessualer Natur für die dadurch veranlasste
Mehrbeanspruchung der Untersuchungsorgane und die entsprechenden Kosten
dar (ALEX ZINDEL, Kosten- und Entschädigungsfolgen im Strafverfahren des
Kantons Zürich, Diss. Zürich 1972, S. 31).

    b) Nach allgemeinen Grundsätzen des Strafprozessrechts ist der
in einem Strafverfahren Beschuldigte nicht zu Aussagen verpflichtet,
sondern kann frei entscheiden, ob er schweigen oder reden will (BGE
106 Ia 8 E. 4, 103 IV 10, 98 Ia 252; ROBERT HAUSER, Kurzlehrbuch des
schweizerischen Strafprozessrechts, Basel 1978, S. 150; H. F. PFENNINGER,
Die Wahrheitspflicht des Beschuldigten im schweizerischen Strafverfahren,
SJZ 53/1957, S. 150). Der eigentliche Sinn des Aussageverweigerungsrechts
besteht dabei darin, dass sich der Beschuldigte durch seine Aussagen
nicht selbst belasten muss. Der Beschwerdeführer weist indes mit Recht
darauf hin, dass auch derjenige nicht zum Reden verpflichtet sein kann,
der möglicherweise entlastende Tatsachen angeben könnte, ansonsten
die Verweigerung der Aussage von vornherein zu einem belastenden Indiz
würde. Grundsätzlich kann es folglich nicht darauf ankommen, aus welchen
Gründen die Aussage verweigert wird. Wird aber eine Aussagepflicht
gemäss Rechtsprechung und überwiegender Lehrmeinung verneint, so kann
im blossen Umstand, dass ein Beschuldigter die Aussage verweigert hat,
in der Regel kein schuldhaftes Erschweren des Verfahrens erblickt werden
(vgl. HANS WALDER, Die Vernehmung des Beschuldigten, Hamburg 1965,
S. 215, Anm. 3 a.E.). Unter dem Vorbehalt des Rechtsmissbrauchs kann
einem Beschuldigten, der sich eines ihm zustehenden Rechts bedient, kein
schuldhaftes Verhalten vorgeworfen werden. Wie die Aussageverweigerung
die Anrechnung der Untersuchungshaft nicht auszuschliessen vermag (BGE
103 IV 10), so kann blosses Schweigen somit grundsätzlich auch keine
Kostenpflicht des Beschuldigten nach sich ziehen. Allein damit kann
im übrigen verhindert werden, dass durch eine mögliche und drohende
Kostenauflage ein unerwünschter Druck auf das Ob und Wie der Einlassung
des Beschuldigten ausgeübt wird (WALDER, aaO, S. 215). Beigefügt sei,
dass die Dinge anders liegen, wenn der Beschuldigte nicht die Aussage
verweigert, sondern durch lügenhaftes Verhalten die Durchführung der
Untersuchung erschwert hat.

    Der Beschwerdeführer hat am 30. August 1980 um 20.50 Uhr auf
der Stadtpolizei Zürich sowie am folgenden Tage um 03.00 Uhr bei der
Einvernahme durch den Bezirksanwalt jede Aussage verweigert. Bereits am
2. September 1980 hat der Beschwerdeführer jedoch seine Sachdarstellung
ausführlich zu Protokoll gegeben und erklärt, er könne es sich heute
selbst nicht mehr erklären, warum er nach der Verhaftung am 30. August
1980 die Aussage verweigert habe, es müsse wohl auf die Schockwirkung
zurückzuführen gewesen sein. Mag das Verhalten des Beschwerdeführers,
wie das Obergericht ausführt, auch nur schwer einfühlbar sein, so ist
doch keineswegs erwiesen, dass er von seinem Aussageverweigerungsrecht
in rechtsmissbräuchlicher Weise Gebrauch gemacht habe, zumal es an sich
nicht Sache des Beschuldigten ist, seine Unschuld darzutun. Die Annahme des
Obergerichts, der Beschwerdeführer habe mit der Verweigerung der Aussage
die Untersuchung schuldhaft erschwert, lässt sich daher mit Art. 4 BV
und mit Art. 6 EMRK nicht vereinbaren. Dies muss zur Gutheissung der
Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses führen.