Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 109 IA 160



109 Ia 160

28. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 21.
September 1983 i.S. Erben S. gegen Z. und Obergericht (Kriminal- und
Anklagekommission) des Kantons Luzern (staatsrechtliche Beschwerde) Regeste

    Art. 6 Ziff. 2 EMRK; Kostenauflage bei Einstellung des Verfahrens.

    Darstellung der Praxis des Bundesgerichts in Fällen, in denen trotz
Einstellung des Verfahrens oder Freispruch dem Beschuldigten bzw. dessen
Erben Kosten auferlegt werden; Überprüfung der Rechtsprechung im Lichte
des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 25. März
1983 in Sachen Minelli (E. 4).

Sachverhalt

    A.- S. war von 1969 bis 1977 bei Z. auf Provisionsbasis im
Aussendienst tätig. Nach Auflösung des Vertragsverhältnisses leitete
er gegen diesen einen Forderungsprozess ein, der bis heute erst zu
einem Teil rechtskräftig entschieden ist. Im Rahmen dieses Verfahrens
liess Z. bei einem Treuhandunternehmen einen Prüfungsbericht erstellen,
wobei die noch vorhandenen Bestellscheindoppel überprüft und mit den
im Zivilprozess eingelegten Belegen verglichen wurden. Aufgrund dieser
Nachkontrolle soll sich ergeben haben, dass verschiedene von S. geltend
gemachte Forderungen unrichtig, teilweise sogar fingiert waren. Gestützt
auf den Prüfungsbericht reichte Z. beim Amtsstatthalteramt Sursee gegen
S. Strafklage ein wegen fortgesetzten Betrugs, Betrugsversuches sowie
wegen fortgesetzter Urkundenfälschung.

    Am 30. Juni 1982 wurde dem Amtsstatthalteramt mitgeteilt, S. sei
gestorben. Der Amtsstatthalter stellte daher die gegen ihn geführte
Strafuntersuchung ein und überband die Untersuchungskosten sowie die Hälfte
der klägerischen Anwaltskosten der Hinterlassenschaft des Verstorbenen.

    Einen von den Erben S. gegen die Kostenbelastung erhobenen Rekurs
wies die Kriminal- und Anklagekommission des Obergerichts des Kantons
Luzern am 12. Oktober 1982 ab.

    Das Bundesgericht heisst die von den Erben S. gegen diesen Entscheid
erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Zur Kostenauflage an die Erben des während des Strafverfahrens
verstorbenen S. führte der Amtsstatthalter aus, es sei nicht restlos
erstellt, inwieweit die Strafklage berechtigt gewesen sei. Jedenfalls
ergebe sich aber aus dem eingereichten Prüfungsbericht mit genügender
Klarheit, dass die Klagebegehren mindestens teilweise hätten
geschützt werden müssen. Es rechtfertige sich daher, die ergangenen
Untersuchungskosten und die Hälfte der klägerischen Parteikosten dem
Nachlass des Verstorbenen zu überbinden.

    Das Obergericht hielt fest, beim vorgelegten Prüfungsbericht handle
es sich um ein vom Privatkläger eingeholtes Privatgutachten. Dessen
Verfasser sei jedoch vom Amtsstatthalter eingehend als Zeuge über seine
Feststellungen und Schlussfolgerungen befragt worden. Der Zeuge, an dessen
Glaubwürdigkeit zu zweifeln kein Anlass bestehe, habe u.a. ausgesagt,
es habe sich anhand der von ihm vorgenommenen Sichtung und Nachkontrolle
ergeben, dass S. offensichtlich sogar fiktive Forderungen gestellt habe und
teils auch solche, die bereits beglichen worden seien. Bei dieser Sachlage
habe der Amtsstatthalter ohne Willkür davon ausgehen können, S. habe sich
nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv verdächtig verhalten, als er
seine Nachforderung gegenüber seinem früheren Arbeitgeber geltend gemacht
habe. Zu Recht seien daher dem Angeklagten bzw. gemäss § 283 Abs. 1 des
Gesetzes über die Strafprozessordnung des Kantons Luzern (StPO) den Erben
Kosten überbunden worden. Der vorinstanzliche Kostenentscheid sei somit
nicht zu beanstanden.

Erwägung 3

    3.- Die Beschwerdeführer erheben u.a. die Rüge, durch die Anwendung
der §§ 277 bzw. 283 Abs. 2 StPO werde Art. 6 Ziff. 2 der Europäischen
Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt. Mit der Kostenauflage an
die Erben des verstorbenen Angeschuldigten werde eine Verdachtsstrafe
ausgesprochen, die einer strafrechtlichen Sanktion gleichkomme.

    Art. 6 Ziff. 2 EMRK hat folgenden Wortlaut:

    "Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der
   wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist."

    Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte kürzlich
in einer gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft gerichteten
Beschwerdesache eine Verletzung dieser Bestimmung fest (Urteil vom 25. März
1983 in Sachen Minelli, EuGRZ 1983 S. 475 ff.). Diesem Urteil lag -
kurz zusammengefasst - folgender Sachverhalt zugrunde: Ein Journalist war
wegen Ehrverletzung durch die Presse vor dem Zürcher Geschworenengericht
angeklagt. Dieses Privatstrafklageverfahren wurde bis zur Erledigung
eines gleichartigen Prozesses sistiert, und das Geschworenengericht liess
die Anklage schliesslich wegen Eintritts der absoluten Verjährung nicht
zu. Dagegen verpflichtete es den Journalisten zur Bezahlung von zwei
Dritteln der Verfahrenskosten und einer reduzierten Prozessentschädigung
an die beiden Ankläger mit der Begründung, bei Nichteintritt der Verjährung
hätte der eingeklagte Zeitungsartikel sehr wahrscheinlich zur Verurteilung
des Beschuldigten geführt. Eine von diesem erhobene Nichtigkeitsbeschwerde
wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich ab, ebenso das Bundesgericht
eine staatsrechtliche Beschwerde. Der Europäische Gerichtshof hielt Art. 6
Ziff. 2 EMRK deshalb für verletzt, weil sich aus den Urteilserwägungen
des Geschworenengerichts ergebe, dass dieses den Journalisten für schuldig
hielt, obschon das Verfahren materiell wegen Eintritts der Verjährung nicht
zu Ende geführt werden konnte. Das Bundesgericht habe diese Erwägungen wohl
präzisiert, ohne damit aber an deren Sinn und Tragweite etwas zu ändern.

Erwägung 4

    4.- Es besteht Anlass, im Anschluss an dieses Urteil des Europäischen
Gerichtshofes die Praxis des Bundesgerichts in Fällen, in denen trotz
Einstellung des Verfahrens oder Freispruch dem Beschuldigten Kosten
auferlegt werden, kurz darzustellen und zu prüfen, welche Auswirkungen
das Urteil in Sachen Minelli auf diese Rechtsprechung hat.

    a) Nach § 277 Abs. 1 der luzernischen Strafprozessordnung können dem
Angeschuldigten trotz Freispruch oder Einstellung des Verfahrens die
Kosten ganz oder teilweise auferlegt werden, wenn er dieses durch ein
verwerfliches, leichtfertiges oder verdächtiges Verhalten veranlasst
hat. Unter denselben Voraussetzungen können gemäss § 283 Abs. 2
StPO die Kosten beim Tod des Angeschuldigten seinen Erben auferlegt
werden. Wie sich aus BGE 107 Ia 166 f. ergibt, finden sich auch in
den meisten übrigen kantonalen Strafprozessordnungen gleichartige
oder ähnliche Bestimmungen. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem
Urteil in Sachen Minelli solche Vorschriften nicht als konventionswidrig
bezeichnet. Die Auffassung, dass nicht jede Kostenauflage ohne Verurteilung
konventionswidrig sei, wird auch in der Rechtslehre vertreten (STEFAN
TRECHSEL, Struktur und Funktion der Vermutung der Schuldlosigkeit, in: SJZ
77/1981, S. 339; JOCHEN FROWEIN, Zur Bedeutung der Unschuldsvermutung in
Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Festschrift
für Hans Huber zum 80. Geburtstag, Bern 1981, S. 559 f.). Es ist deshalb
an sich nicht unzulässig, einem Beschuldigten die Kosten auch bei
Freispruch oder Einstellung aufzuerlegen, wenn er das Verfahren durch
verwerfliches oder leichtfertiges Verhalten veranlasst oder verlängert
hat. Eine solche Kostenauflage hält aber vor der Verfassung und der EMRK
nur unter bestimmten Voraussetzungen stand.

    Einmal ist erforderlich, dass zwischen dem vorwerfbaren Verhalten
des Beschuldigten und den entstandenen Kosten ein Kausalzusammenhang
besteht. Die Haftung des Beschuldigten darf dabei nicht weiter gehen,
als der Kausalzusammenhang zwischen dem ihm vorgeworfenen fehlerhaften
Verhalten und den Kosten verursachenden behördlichen Handlungen reicht. Aus
dieser Überlegung heraus hat das Bundesgericht schon entschieden, es sei
zwar zulässig gewesen, dem Beschuldigten die Kosten der Voruntersuchung
aufzuerlegen, doch hätten ihm jene des Gerichtsverfahrens nicht überbunden
werden dürfen, da nach dem Ergebnis der Untersuchung kein hinreichender
Anlass bestanden habe, Anklage zu erheben (Urteil vom 4. Mai 1983
i.S. A.R.).

    Eine Kostenauflage ist sodann nur zulässig, wenn dem Beschuldigten
ein schuldhaftes Verhalten zur Last gelegt werden kann. Es genügt nicht,
dass er durch sein Verhalten objektiv zur Untersuchung oder Verlängerung
des Verfahrens Anlass gegeben hat. Die Kosten können bloss auferlegt
werden, wenn das Verhalten aufgrund zivilrechtlicher oder ethischer Regeln
vorwerfbar ist, und zwar unbekümmert darum, ob die betreffende kantonale
Strafprozessordnung ausdrücklich ein schuldhaftes Verhalten verlangt. Man
pflegt dabei von einer Haftung für prozessuales Verschulden oder, besser
ausgedrückt, von einer zivilrechtlichen Grundsätzen angenäherten Haftung
für ein fehlerhaftes Verhalten zu sprechen. Kommt es mangels Beweises
zu einer Einstellung des Verfahrens oder zu einem Freispruch, so dürfen
die Kosten nicht allein deswegen auferlegt werden, weil ein - allenfalls
schwerer - Tatverdacht weiterbesteht; das liefe auf eine unzulässige
Verdachtsstrafe hinaus.

    b) Im Zusammenhang mit der Kostenauflage bei Einstellung des Verfahrens
oder Freispruch lassen sich zwei Gruppen von Fällen unterscheiden:

    Es kann dem Beschuldigten ein prozessuales Verschulden im engeren
Sinn zur Last fallen. Das trifft etwa zu, wenn er die Untersuchung durch
wahrheitswidrige Angaben auf eine falsche Fährte führt oder das Verfahren
erschwert und verlängert, indem er nicht zu Verhandlungen erscheint. Soweit
durch solches Verhalten Kosten entstehen, können sie dem Beschuldigten
wegen prozessualen Verschuldens auferlegt werden.

    Die zweite Gruppe bilden die Fälle, in denen dem Beschuldigten wegen
des Verhaltens, das Gegenstand des Strafverfahrens war, die Kosten
auferlegt werden mit der Begründung, dieses Verhalten sei zwar nicht
strafbar, aber unter zivilrechtlichen oder ethischen Gesichtspunkten
vorwerfbar. Man kann dabei zum Beispiel an den Fall denken, in dem
jemand einen andern durch lügenhafte Angaben getäuscht und damit ein
Darlehen erwirkt hat, das wegen Betruges eingeleitete Strafverfahren
aber mit einem Freispruch endet, weil das Gericht das Tatbestandsmerkmal
der Arglist verneint mit der Begründung, es wäre dem Opfer ohne grosse
Mühe möglich gewesen, die täuschenden Angaben zu überprüfen. Aus der
bundesgerichtlichen Praxis sei der Fall erwähnt, in dem das zu einem
Kassenmanko führende Verhalten eines Buchhalters zwar strafrechtlich nicht
erfassbar war, dieser aber seine Buchführungspflicht grob vernachlässigt
hatte (nicht veröffentlichte Erwägungen zu BGE 107 Ia 166), oder der
Fall, in dem fremde Häuserfassaden mit Plakaten beklebt wurden, ohne
dass eine strafbare Sachbeschädigung gegeben war (Urteil vom 4. Mai
1983 i.S. A.R.). Weder das in der Sache Minelli ausgesprochene Urteil
noch andere Entscheide des Europäischen Gerichtshofs geben Anlass,
die bundesgerichtliche Rechtsprechung in dieser Hinsicht zu ändern. Der
Europäische Gerichtshof hielt im Urteil in Sachen Minelli im wesentlichen
fest, der Grundsatz der Unschuldsvermutung sei verletzt, wenn sich ohne
ein die strafrechtliche Schuld feststellendes Urteil aus dem Entscheid
ergebe, dass der Richter den Beschuldigten als schuldig betrachte. Das
treffe im Fall Minelli zu, da trotz Einstellung des Verfahrens gesagt
worden sei, er wäre "sehr wahrscheinlich" bestraft worden, wobei sich
aus allen schweizerischen Urteilen ergeben habe, dass die Richter den
Beschuldigten im Sinne des Strafrechts für schuldig gehalten hätten. Es
geht somit nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs in Sachen Minelli
nicht an, trotz Einstellung des Verfahrens oder Freispruch jemandem direkt
oder indirekt vorzuwerfen, er habe sich strafbar gemacht. Dagegen ist
es nicht ausgeschlossen, dass sich das fehlerhafte Verhalten, das Anlass
zur Kostenauflage gibt, sachlich mit dem Vorwurf deckt, der Gegenstand der
strafrechtlichen Anschuldigung war, wobei die rechtlichen Voraussetzungen
für eine Verurteilung nach dem entsprechenden Straftatbestand fehlten.

    c) Es ergibt sich aus dem Gesagten, dass Vorschriften wie diejenigen
des § 277 Abs. 1 und des § 283 Abs. 2 der luzernischen Strafprozessordnung
als solche nicht gegen den in Art. 6 Ziff. 2 EMRK verankerten Grundsatz
der Unschuldsvermutung verstossen.

    Die kantonalen Instanzen haben im vorliegenden Fall die erwähnten
Vorschriften jedoch in einer Weise angewandt, die sich mit Art. 6
Ziff. 2 EMRK nicht vereinbaren lässt. Indem der Amtsstatthalter
die Kosten des eingestellten Verfahrens den Erben des verstorbenen
Beschuldigten mit der Begründung überband, es sei rechtsgenüglich
erstellt, dass die Begehren der Strafklage mindestens teilweise hätten
geschützt werden müssen, hat er den Beschuldigten für schuldig erachtet,
strafbare Handlungen begangen zu haben. Das Obergericht hat sich in
seinem Entscheid wohl etwas anders ausgedrückt, ohne sich aber von der
Begründung des Amtsstatthalters zu distanzieren. Obwohl S. nicht durch
ein im ordentlichen Verfahren zustandegekommenes Strafurteil schuldig
erklärt worden war, warfen ihm die luzernischen Behörden mehr oder weniger
direkt vor, sich (teilweise) strafbar gemacht zu haben. Dies lässt der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gestützt auf Art. 6 Ziff. 2
EMRK nicht zu, und in dieser Hinsicht wird das Bundesgericht kantonale
Entscheide kritischer zu prüfen haben und hat es der strengen Praxis
des europäischen Gerichts Rechnung zu tragen. Hinzugefügt sei, dass bei
der Prüfung der Gründe für die Kostenauflage stets auch darauf zu achten
ist, dass durch die Auferlegung von Kosten an einen nicht strafrechtlich
verurteilten Beschuldigten nicht etwa Freiheitsrechte, namentlich die
Meinungsäusserungsfreiheit, beeinträchtigt werden (vgl. Bericht der
Europäischen Menschenrechtskommission i.S. Geerk, Decisions and Reports
12, 103).

    Es verletzt den Grundsatz der Unschuldsvermutung, jemanden trotz
Freispruch oder Einstellung des Verfahrens ausdrücklich oder sinngemäss als
strafbar zu erklären, und der Kostenauflage kommt in einem solchen Fall
sozusagen die Wirkung einer Strafe zu (vgl. BGE 109 Ia 87 E. 2b). Gleich
verhält es sich, wenn jemand in der erwähnten Art als strafbar bezeichnet
und verpflichtet wird, an den Strafkläger eine Parteientschädigung zu
bezahlen. Die Beschwerde ist somit wegen Verletzung von Art. 6 Ziff. 2
EMRK gutzuheissen, und der angefochtene Entscheid ist auf der ganzen Linie
(Gerichtskosten und Parteientschädigung) aufzuheben.