Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 90



108 V 90

23. Urteil vom 10. September 1982 i.S. Dieterle gegen Bundesamt für
Militärversicherung und Versicherungsgericht des Kantons Zürich Regeste

    Art. 23 Abs. 1 und Art. 25 MVG. Erhebliche Beeinträchtigung der
körperlichen Integrität (Erw. 1).

    Art. 40bis Abs. 1 MVG. Voraussetzungen der Zusprechung einer Genugtuung
(Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der 1954 geborene Urs Dieterle zog sich am 8. Juni 1977 im
Militärdienst anlässlich einer Stosstruppübung wegen einer explodierenden
Petarde u.a. rechtsseitig eine tiefere Hornhautverletzung zu, indem ein
kleines Steinchen in das Auge eindrang. Die Militärversicherung gewährte
verschiedene Krankenpflege- und Krankengeldleistungen. Ende Januar 1978
konnte die ärztliche Behandlung abgeschlossen werden.

    Am 29. Juni 1979 schrieb Urs Dieterle der Militärversicherung, er
sei infolge der Unfallverletzung bei der Ausübung seines Berufes als
angehender Biologe stark beeinträchtigt. Nach Abklärung der Verhältnisse
erliess die Militärversicherung am 8. Juli 1980 eine Verfügung, in welcher
sie jegliche Rentenleistungen aus dem Unfall vom 8. Juni 1977 verweigerte
und überdies einen Genugtuungsanspruch verneinte.

    B.- Das Versicherungsgericht des Kantons Zürich wies die vom
Versicherten hiergegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 24. März
1981 ab.

    C.- Urs Dieterle lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit
dem Rechtsbegehren, es sei die Militärversicherung in Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheides zu verpflichten, ihm "eine angemessene
Rente für erhebliche Beeinträchtigung der Integrität im Sinne von Art. 25
MVG oder eine angemessene Genugtuung im Sinne von Art. 40bis Abs. 1 MVG
auszurichten". Auf die Begründung der Beschwerde wird, soweit erforderlich,
in den Erwägungen eingegangen.

    Die Militärversicherung lässt sich mit dem Antrag auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde vernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Hinterlässt der versicherte Schaden eine erhebliche
Beeinträchtigung der körperlichen oder psychischen Integrität, so
ist dem Versicherten gemäss Art. 23 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25
MVG eine Rente auszurichten, deren Höhe in Würdigung aller Umstände
nach billigem Ermessen zu bestimmen ist. Ein Integritätsschaden gibt
grundsätzlich dann Anspruch auf eine Rente der Militärversicherung, wenn
der Versicherte objektiverweise im Lebensgenuss erheblich eingeschränkt
ist. Rechtserheblich in diesem Sinne ist die Störung primärer
Lebensfunktionen, nicht auch die blosse Behinderung in der sonstigen
Lebensgestaltung wie beispielsweise beim Sport, bei der Teilnahme an
gesellschaftlichen Anlässen und dergleichen (BGE 96 V 112; EVGE 1968 S. 94,
1966 S. 150).

    b) Der Beschwerdeführer erblickt einen Integritätsschaden darin,
"dass als Folge des Unfalles durch eine Blutfüllung des Narbenpterygiums
am rechten Auge bei Nahsicht (insbesondere beim Mikroskopieren)
starke Übermüdung, Rötungen und Verschwimmung des Gesichtsfeldes
auftreten". Diese Sehstörungen wögen um so schwerer, als er im Hinblick
auf seine Berufstätigkeit als Pflanzenphysiologe gezwungen sei, oft und
langdauernd zu mikroskopieren. Dass er durch Zufall und Neigung in einem
Berufe tätig sei, in dem das Sehen und insbesondere das Mikroskopieren
eine besondere Rolle spiele, dürfe ihm nicht zum Nachteil gereichen.

    Im Bericht vom 14. Dezember 1979 erhob Prof. Dr. med. H. am linken
Auge normale und am rechten Auge folgende Befunde:

    "Visus Ferne mit Brille 1,0 knapp. Reizloser vorderer Bulbusabschnitt.

    Narbenpterygium von nasal unten nach Richtung 5 Uhr mit Überlappen über

    Cornea-Skleragrenze um ca. 1 1/2 bis 2 mm. Leichte Vaskularisation. Das

    Narbenpterygium bedeckt die frühere perforierende Hornhautnarbe bei

    5 Uhr limbusnahe. Vorderkammer ohne Entzündungszeichen. - Linse
intakt. -

    Normale Retinaverhältnisse. - Gesichtsfeld oB."

    Der Arzt beurteilte die Verhältnisse folgendermassen:

    "Patient klagt besonders beim Mikroskopieren über starke Ermüdung und

    Verschwimmen vor den Augen, insbesondere rechts. Die exakte Prüfung der
   binocularen Sehfunktionen ergibt normale Verhältnisse, insbesondere
   keine

    Anhaltspunkte für latente Schielstellung, noch für Konvergenzschwäche.

    Durch eine gewisse Blutfüllung des Narbenpterygiums am rechten Auge bei

    Nahesicht kann ein kleiner Teil der vom Patienten geklagten Beschwerden
und

    Behinderungen erklärt werden und somit ein kleiner Kausalzusammenhang
mit
   den versicherten Verletzungsfolgen konstruiert werden. Die objektiv
   erhobenen Befunde (siehe oben) erklären die Beschwerden jedoch nicht
   vollkommen und restlos. Versicherungstechnisch ist wegen des guten
   erhaltenen zentralen Visus die Behinderung durch das beschriebene

    Narbenpterygium kaum fassbar, es sei denn, man würde einen kosmetischen

    Defekt (höchstens 5% Invalidität) annehmen."

    Es fragt sich, ob diese Störung erheblich ist. Aus den Angaben
des Prof. Dr. med. H. ist ersichtlich, dass der Arzt bei seiner
Beurteilung der speziellen beruflichen Situation des Beschwerdeführers
bereits Rechnung trug. Des weiteren steht die ärztliche Schätzung einer
"Invalidität" von höchstens 5% ausdrücklich unter dem Vorbehalt, dass
ein kosmetischer Defekt angenommen würde. Ein solcher liegt jedoch nach
den zutreffenden Ausführungen des stellvertretenden Chefarztes der
Militärversicherung vom 8. Januar 1980 und in Anbetracht der bei den
Akten liegenden Farbaufnahmen nicht vor. Das vom Beschwerdeführer als
gravierend empfundene Beschwerdebild erfüllt in seiner Gesamtheit das
Erfordernis der Erheblichkeit nicht. Vorinstanz und Verwaltung haben
demzufolge den Anspruch auf eine Integritätsrente zu Recht verneint.

Erwägung 2

    2.- a) Nach Art. 40bis Abs. 1 MVG kann die Militärversicherung bei
Körperverletzung oder im Todesfall "unter Würdigung der besonderen
Umstände dem Verletzten oder den Angehörigen des Getöteten eine
angemessene Geldsumme als Genugtuung zusprechen". Gemäss dem Bericht der
Expertenkommission für die Revision des Militärversicherungsgesetzes vom
Dezember 1961 (S. 28 ff.) und der bundesrätlichen Botschaft betreffend
Änderung des Militärversicherungsgesetzes vom 26. März 1963 (BBl 1963 I
865/866) soll die Genugtuung im Militärversicherungsrecht nur als Ausnahme
und unter Berücksichtigung der besonderen Umstände sowie der Schwere des
immateriellen Schadens gewährt werden. Nach der Rechtsprechung setzt die
Genugtuung eine verhältnismässig schwere seelische Unbill oder mit anderen
Worten einen seelischen Schmerz voraus, der billigerweise durch einen
Geldbetrag gemildert werden soll (BGE 103 V 186, 96 V 113, vgl. auch 97 V
104 Erw. 2; EVGE 1966 S. 78). Dabei muss die Beurteilung des Schadens nach
objektiven Kriterien erfolgen, da nur auf diese Weise eine rechtsgleiche
Behandlung der Versicherten gewährleistet ist (vgl. BGE 96 V 113).

    b) Die beim Unfall vom 8. Juni 1977 erlittenen Gesundheitsschäden sind
in der Folge befriedigend und verhältnismässig rasch verheilt. Spätestens
im Januar 1978 konnte der Beschwerdeführer seine Studienarbeiten wieder
aufnehmen. Die körperlichen Beeinträchtigungen führten deshalb, entgegen
den Ausführungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, nicht zu einer
schweren seelischen Unbill im Sinne der Rechtsprechung, auch wenn die
momentane (angeblich 1 1/2 Wochen dauernde) fehlende Sehkraft des rechten
Auges berücksichtigt wird. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers macht
jedoch geltend, der behandelnde Arzt (Dr. med. F.) habe nach dem Unfall
erklärt, es sei nicht sicher, ob das Sehvermögen am rechten Auge wieder
erlangt werde; diese Prognose einer möglichen Erblindung (auch nur eines
Auges) sei bei jedem durchschnittlichen und normalen Menschen erstrangig
dazu geeignet, eine schwere seelische Erschütterung hervorzurufen. Indes
darf die Aussage des Arztes - sofern sie überhaupt abgegeben worden ist,
was sich heute kaum mehr überprüfen lässt - nicht aus dem Zusammenhang
gerissen, sondern nur unter Berücksichtigung der im Anschluss an den
Unfall herrschenden Verhältnisse gewürdigt werden. Diese zeichnen sich
dadurch aus, dass die erlittenen Verletzungen umgehend zuverlässig
diagnostiziert und einer optimalen Behandlung (Hospitalisation zum Zweck
der Fremdkörperentfernung unter Narkose) zugeführt werden konnten. Bereits
aufgrund der unmittelbar nach dem Unfall vorgenommenen medizinischen
Untersuchungen konnte eine bleibende Erblindung des rechten Auges praktisch
ausgeschlossen werden; zu rechnen war einzig mit einer länger dauernden
Photophobie (Lichtscheu). Es war dem Beschwerdeführer zuzumuten, sich
über die effektive Tragweite seiner keineswegs geringfügigen, aber doch
nicht irreversiblen Augenschädigung Kenntnis zu verschaffen. Da er dies
unterliess, hat er die aus der fraglichen ärztlichen Auskunft herrührende
seelische Bedrängnis selber zu verantworten. Eine schützenswerte schwere
seelische Unbill besteht bei den geschilderten Umständen jedenfalls nicht.

    Sämtliche weiteren in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhobenen
Einwände vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Insbesondere
kann dahingestellt bleiben, ob nach den zu Art. 47 OR entwickelten
Regeln im vorliegenden Fall eine Genugtuung geschuldet wäre; denn auch
wenn nach zivilrechtlicher Praxis bei leichteren bis mittelschweren
Augenverletzungen Schmerzensgeld bezahlt würde, hiesse das nicht, dass
die Militärversicherung in solchen Fällen ebenfalls zur Entrichtung
von Genugtuungssummen verpflichtet wäre (vgl. EVGE 1966 S. 77 Erw. 2
mit Hinweis).

Entscheid:

       Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.