Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 84



108 V 84

22. Urteil vom 21. Juni 1982 i.S. Schweizerische Unfallversicherungsanstalt
gegen Christen und Versicherungsgericht des Kantons Appenzell AR Regeste

    Art. 72 KUVG. Ausdrücklicher oder stillschweigender Verzicht auf
Versicherungsleistungen.

Sachverhalt

    A.- Der 1949 geborene Urs Christen arbeitete als gelernter
Schreiner bis April 1969 in verschiedenen Schreinereiwerkstätten. Nach
einer Aushilfstätigkeit als Buffetbursche, während der er bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) nicht versichert war,
vereinbarte er Mitte September 1969 mit der Firma V., einem der SUVA
unterstellten Betrieb, am 22. September 1969 als Schreiner-Maschinist
in diese Unternehmung einzutreten. Am vorgesehenen Datum erschien
er rechtzeitig vor Arbeitsbeginn in der Firma und ersuchte dort den
zuständigen Werkmeister, den Arbeitsbeginn aus familiären Gründen auf
den 24. September 1969 verschieben zu können, was ihm bewilligt wurde.

    In der Nacht vom 23. auf den 24. September 1969 ereignete sich in
der von Urs Christen belegten Mietwohnung ein Zimmerbrand, der dadurch
entstanden sein dürfte, dass Urs Christen sich mit einer brennenden
Zigarette zu Bett gelegt hatte und in der Folge eingeschlafen war. Durch
die beim Brand erlittenen Verletzungen musste ihm der linke Arm amputiert
werden.

    Mit Schreiben vom 28. November 1969 machte ein Verwandter des
Urs Christen, Dr. A., die Firma V. auf den erwähnten Brandunfall
aufmerksam. Die Firma bestätigte am 5. Februar 1970, dass zur Zeit des
Unfalles zwischen ihr und Urs Christen ein Arbeitsverhältnis bestanden
habe. Das Unfallereignis wurde der SUVA weder von der Firma noch sonst von
jemandem gemeldet. Erst am 9. Mai 1978 setzte sich der inzwischen durch
die Invalidenversicherung zum kaufmännischen Angestellten umgeschulte Urs
Christen mit der SUVA in Verbindung und verlangte die Ausrichtung der ihm
gesetzlich zustehenden Versicherungsleistungen. Die Anstalt lehnte indessen
am 7. Juni 1978 die Gewährung von Leistungen unter Hinweis auf Art. 62
Abs. 1 KUVG (mangelnde Versicherteneigenschaft) und sinngemäss auf Art.
70 Abs. 2 KUVG (Verletzung der Anzeigepflicht) verfügungsweise ab.

    B.- Mit Beschwerde liess Urs Christen die Aufhebung der Verfügung und
die Rückweisung der Sache an die SUVA zur Neubeurteilung und Ausrichtung
der gesetzlichen Versicherungsleistungen beantragen. Die Anstalt verlangte
die vollumfängliche Abweisung der Beschwerde.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Appenzell AR hiess durch Entscheid
vom 3. Oktober 1980 die Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung auf
und verpflichtete die SUVA, Urs Christen aufgrund des Unfalles vom 23./24.
September 1969 die gesetzlich vorgesehenen Leistungen zu erbringen.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die SUVA die
Aufhebung des kantonalen Entscheides; eventuell seien die zu gewährenden
Versicherungsleistungen gemäss Art. 98 Abs. 3 KUVG (grobfahrlässige
Herbeiführung des Unfalles) um 40% zu kürzen.

    Urs Christen schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
...

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wird ein Versicherter von einem Unfall betroffen, der eine
Krankheit oder Invalidität verursacht oder mutmasslich zur Folge haben
wird, so ist er verpflichtet, hiervon ohne Verzug den Betriebsinhaber
oder dessen Stellvertreter in Kenntnis zu setzen (Art. 69 Abs. 1 KUVG);
diesem obliegt die Unfallmeldung an die SUVA (Abs. 3). Der Versicherte
hat nicht dafür einzustehen, wenn der Betriebsinhaber die Unfallmeldung
nicht rechtzeitig an die SUVA weiterleitet (EVGE 1939 S. 113; nicht
veröffentlichtes Urteil Müller vom 23. September 1970; MAURER, Recht und
Praxis der Schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl.,
S. 167).

    Gemäss Art. 70 Abs. 2 KUVG kann die SUVA jede Leistung verweigern,
wenn der Unfall infolge einer unentschuldbaren Versäumnis des Verletzten
der Anstalt nicht binnen drei Monaten angezeigt worden ist. Diese Frist
beginnt nicht etwa mit dem Eintritt des Versicherungsfalles, sondern erst
dann zu laufen, wenn die Anzeige nach den üblichen Regeln, besonders im
Hinblick auf die konkreten Umstände, zu erstatten gewesen wäre; es muss
mit andern Worten die unentschuldbare Verspätung drei Monate gedauert haben
(so das erwähnte Urteil Müller; MAURER, aaO, S. 167 a.E.).

Erwägung 2

    2.- a) Die SUVA macht geltend, es fehle an einer rechtzeitigen
Unfallmeldung an den Betriebsinhaber im Sinne von Art. 69 Abs. 1 KUVG,
weshalb allfällige Versicherungsansprüche aus dem Ereignis vom September
1969 gemäss Art. 70 Abs. 2 KUVG als verwirkt zu gelten hätten.

    Es ist unbestritten und steht nach den Akten fest, dass der
Beschwerdegegner den Unfall vom September 1969 der Firma V. nie
selber meldete, sondern sich erst am 9. Mai 1978 aufgrund eines damals
erschienenen SUVA-Bulletins an die Anstalt wandte. Darin liegt eine
unentschuldbare Versäumnis. Die Vorinstanz führt zwar aus, es sei
"einfühlbar, dass der Kläger persönlich infolge seines Unfalles,
durch welchen er einen Arm verloren hatte und der einen mehrmonatigen
Aufenthalt in der Milchsuppe in Basel nötig machte, nicht imstande war,
die im Gesetz erwähnte Anzeigefrist zu wahren". Indessen beginnt die
dreimonatige Frist nach dem in Erwägung 1 Gesagten dann zu laufen,
wenn die Anzeige nach den üblichen Regeln, besonders im Hinblick auf
die konkreten Umstände, zu erstatten gewesen wäre. Aus den beigezogenen
Akten der Invalidenversicherung ergibt sich, dass der Beschwerdegegner
am 12. November 1969 eine Anmeldung zum Leistungsbezug unterzeichnet
hatte. Unter Ziff. 25 wurde die Frage, ob er eine Leistung der SUVA
erhalte, mit "nein" beantwortet. Spätestens in diesem Zeitpunkt hätte
es dem Beschwerdegegner auffallen müssen, dass er unter Umständen
auch Ansprüche gegenüber der SUVA geltend machen konnte, dies um so
mehr, als er - gelernter Schreiner - früher in verschiedenen, der SUVA
unterstellten Betrieben gearbeitet hatte, so dass ihm die obligatorische
Unfallversicherung nicht unbekannt sein konnte. Entgegen der Ansicht
der Vorinstanz kann ihm in diesem Zusammenhang nicht zugutegehalten
werden, "dass er als in Versicherungsfragen unerfahrener junger
Mann das Nebeneinander verschiedener und zum Teil sich ergänzender
Sozialversicherungsinstitutionen nicht kannte". Schliesslich kann aus
dem Umstand, dass sich die Invalidenversicherung einschaltete, nicht
abgeleitet werden, dass er sich seiner Rechte gegenüber der SUVA nicht
bewusst gewesen sei.

    b) Der Beschwerdegegner beruft sich indessen auf das Schreiben
vom 28. November 1969, in welchem Dr. A. der Firma V. u.a. von seinem
"am 23. September 1969 schwer verunfallten Cousin, Urs Christen" und über
"die am 23. September erlittenen Verbrennungen sowie die anschliessende
Hospitalisierung (Amputation des Armes)" berichtete und eine Bestätigung
erbat, "dass Sie Herrn Christen damals angestellt hatten, d.h. dass
Sie ihn bis zum Zeitpunkt des Unfalles grundsätzlich als einen Ihrem
Betrieb verpflichteten Arbeiter betrachten konnten". Die SUVA hält dafür,
dieser Brief sei nicht als Unfallanzeige zu betrachten, da ihm nicht zu
entnehmen sei, ob eine Behandlung des Schadens durch die Anstalt bezweckt
werde. Vorinstanz und Beschwerdegegner sind der Ansicht, es genüge, wenn
der Betriebsinhaber einzig vom Unfallereignis in Kenntnis gesetzt werde.

    Ob das Schreiben des Dr. A. vom 28. November 1969, welches den
Unfall eher beiläufig erwähnte und in erster Linie verfasst wurde, um
eine im Rahmen der Eingliederungsabklärungen der Invalidenversicherung
bedeutsame Bestätigung zu erhalten, allein oder im Zusammenhang mit einem
anderen Brief des Dr. A. vom 26. Januar 1970 und, wie der Beschwerdegegner
behauptet, weiteren mündlichen Vorstössen des Dr. A. bei der Firma V. als
genügende Unfallanzeige zu betrachten ist, kann vorliegend offenbleiben;
ebensowenig braucht entschieden zu werden, ob die vom Beschwerdegegner
unter Hinweis auf das Legalitätsprinzip bestrittene Ansicht der SUVA,
"unter gewissen Umständen" dürfe "dem Versicherten zugemutet werden, selber
dafür zu sorgen, dass der Unfall der Anstalt gemeldet wird", zu einer
Änderung der in Erwägung 1 hiervor erwähnten Rechtsprechung Anlass gibt.

Erwägung 3

    3.- a) Im Urteil Aschkenasy vom 22. Juli 1981 (publiziert in RSKV
1982 Nr. 474, S. 26) hielt das Eidg. Versicherungsgericht zur Frage des
Verzichtes auf Versicherungsleistungen folgendes fest:

    "In EVGE 1955 S. 88 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht für
   den Bereich der Militärversicherung erklärt, es würde den Grundsätzen
   der Billigkeit und Rechtssicherheit widersprechen, wenn man einen

    - ausdrücklichen oder konkludenten - Verzicht auf
Versicherungsleistungen
   als rechtlich belanglos erachten wollte. In RSKV 1971 S. 165 hat es
   ferner festgehalten, dass es sich dabei um ein allgemeingültiges,
   somit auch im

    Krankenversicherungsrecht zu beachtendes Prinzip handle. Ferner
führt es
   in RSKV 1973 S. 186 aus, von einem Versicherten, der mit einem Entscheid
   nicht einverstanden ist, dürfe man in der Regel erwarten, dass er
   innerhalb angemessener Prüfungs- und Überlegungsfrist der Kasse seine
   Auffassung bekanntgebe. Schliesslich wird in BGE 101 V 174 präzisiert,
   dass an die

    Annahme eines stillschweigenden Verzichts auf Versicherungsleistungen
   strenge Anforderungen zu stellen sind und dass ein ausdrücklicher oder
   stillschweigender Verzicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit
   nachgewiesen sein muss. Ein stillschweigender Verzicht insbesondere
   ist regelmässig nur dann angenommen worden, wenn nach den konkreten
   Umständen besondere Gründe dafür vorhanden waren (RSKV 1981, S. 206)."
Soweit es nicht um verzichtsähnliche Tatbestände geht, für welche der
zweite Titel des KUVG eine spezielle Regelung vorsieht (vgl. Art. 95
Abs. 2 und 3, Art. 97 KUVG), haben diese Grundsätze auch auf dem Gebiet
der obligatorischen Unfallversicherung ihre Gültigkeit.

    Das Prinzip von Treu und Glauben prägt die Beziehungen zwischen
Verwaltung und Bürger (BGE 107 V 160 E. 2 a.A.); es gilt insbesondere
auch im Sozialversicherungsrecht (vgl. z.B. BGE 106 V 33 E. 4 a.A.). Der
Grundsatz ist Richtschnur einerseits für die Behörde, andererseits für
den einzelnen (IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
5. Aufl., Bd. I, S. 458), somit auch für den Leistungsansprecher in
der Sozialversicherung. Aus dem Grundsatz von Treu und Glauben fliessen
u.a. das Verbot widerspruchsvollen oder rechtsmissbräuchlichen Handelns und
das Vertrauensschutzprinzip (IMBODEN/RHINOW, aaO, S. 458 und 462). Daraus
folgt, dass das Verhalten (Willenserklärungen, faktische Handlungsweisen,
Stillschweigen) desjenigen, welcher von einem Sozialversicherer Leistungen
beansprucht, so aufzufassen ist, wie sie dieser in guten Treuen verstehen
durfte und verstehen musste (GUHL/MERZ/KUMMER, OR, 7. Aufl., S. 91 mit
Hinweisen auf die Rechtsprechung).

    b) In Erwägung 2a hievor wurde dargelegt, dass der Beschwerdegegner
spätestens im November 1969, als er anlässlich der Anmeldung bei der
Invalidenversicherung mit den Leistungen der SUVA konfrontiert war, um
die Möglichkeit, von der obligatorischen Unfallversicherung Leistungen zu
erhalten, aller Wahrscheinlichkeit nach wusste oder dass zumindest diese
Kenntnis von ihm verlangt werden durfte. Wenn der Beschwerdegegner, wie er
betont, durch die Vorkehren des Dr. A. der unfallversicherungsrechtlichen
Anzeigepflicht genügt haben will, wäre es - da die SUVA nie etwas von
sich hören liess - ihm (oder seinem Vertreter) zumutbar gewesen, sich nach
einiger Zeit um den Stand der Dinge zu erkundigen. Der Beschwerdegegner hat
aber während fast 9 Jahren jede solche Anfrage unterlassen, sich während
dieser Zeit für die Befriedigung seiner Ansprüche ausschliesslich an die
Invalidenversicherung gehalten und damit bekundet, dass er die SUVA nicht
in Anspruch nehmen wollte; auf seinen inneren Willen kommt es in diesem
Zusammenhang nicht an. Die Anstalt anderseits gab dem Beschwerdegegner nie
Anlass, ihr gegenüber von der Verfolgung allfälliger Versicherungsansprüche
abzusehen. Bei dieser Sachlage ist das Verhalten des Beschwerdegegners
als stillschweigender Verzicht auf Leistungen der SUVA zu betrachten.

    Soweit der Beschwerdegegner mit seinem Schreiben vom 9. Mai 1978
den Verzicht rückgängig machen wollte, müsste ein solcher Widerruf
als rechtsmissbräuchlich bezeichnet werden. Eine "unredliche Absicht"
ist hiefür, entgegen den Einwendungen in der Vernehmlassung, nicht
Voraussetzung; massgeblich ist vielmehr der objektive Sachverhalt
(IMBODEN/RHINOW, aaO, S. 483). Dieser zeichnet sich vorliegend dadurch
aus, dass mit der Anerkennung des Widerrufs die Rechtsstellung der
SUVA, namentlich unter dem Blickwinkel einer zuverlässigen Abklärung
der formellen und materiellen Voraussetzungen ihrer Leistungspflicht, in
schwerwiegender Weise beeinträchtigt würde, ohne dass der Beschwerdegegner
für seine späte Rechtsverfolgung zureichende Gründe geltend machen
könnte ...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Appenzell AR vom 3. Oktober 1980
aufgehoben.