Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 8



108 V 8

4. Urteil vom 2. April 1982 i.S. Gisin gegen Ausgleichskasse des Kantons
Solothurn und Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Regeste

    Art. 21 Abs. 2 IVG und Ziff. 2.01. HVI Anhang.

    - Die Heidelbergerschiene ist ein Beinapparat im Sinne der Ziff. 2.01
Anhang HVI (Erw. 2a).

    - Bei den nach Massgabe des Art. 21 Abs. 2 IVG im Anhang HVI
aufgeführten Hilfsmitteln ist die Kostenfrage im einzelnen Fall nicht
gesondert zu prüfen; die Kostspieligkeit ist mit der Aufnahme des
betreffenden Hilfsmittels in den Anhang HVI vorausgesetzt. Vorbehalten
bleibt die richterliche Überprüfung der betreffenden Bestimmung auf ihre
Gesetzmässigkeit (Erw. 2b).

Sachverhalt

         A.- Der 1922 geborene Alfred Gisin leidet u.a. an einer
schweren Polyneuropathie. Im Kantonsspital Basel stellten die Ärzte an
den Beinen "deutliche nach distal zunehmende Paresen fest, wobei die
Extensoren stärker betroffen waren als die Flexoren und vor allem beim
rechten Fuss ein ausgeprägter Fallfuss nachzuweisen war". Beim Austritt
aus dem Spital wurde Alfred Gisin rechts mit einer Heidelbergerschiene
versorgt. Mit Verfügung vom 29. Januar 1980 lehnte es die Ausgleichskasse
des Kantons Solothurn ab, die Kosten der Heidelbergerschiene (Fr. 208.--)
zu übernehmen, da diese kein Hilfsmittel im Sinne des Gesetzes über die
Invalidenversicherung sei.

    B.- Auf Beschwerde hin stellte das Versicherungsgericht des
Kantons Solothurn fest, dass die fragliche Schiene nicht als Stütz-
und Führungsapparat gemäss Ziff. 2.01 der Hilfsmittelliste gelten könne;
im übrigen seien angesichts des Preises die Voraussetzungen des Art. 21
Abs. 2 IVG nicht erfüllt. Mit Entscheid vom 22. Mai 1980 wies das Gericht
die Beschwerde ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der
Versicherte, dass die Invalidenversicherung die Heidelbergerschiene als
Hilfsmittel zu übernehmen habe. Zur Begründung führt er im wesentlichen
aus, die Schiene sei für sein Gehvermögen sehr wichtig, da er ohne sie
ständig Gefahr laufe zu stürzen.

    Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
enthält sich eines Antrags. Es führt in seiner Stellungnahme aus,
dass es eine Ermessensfrage sei, ob die Heidelbergerschiene als
Beinapparat gemäss Ziff. 2.01 der Hilfsmittelliste zu betrachten oder den
Schuheinlagen gleichzustellen sei. Indessen erfülle sie die Voraussetzung
der Kostspieligkeit nicht; allerdings könne man sich fragen, ob ein
Hilfsmittel, das zwar unter eine Ziff. der Hilfsmittelliste subsumiert
werden könne, aber nicht kostspielig sei, dennoch gestützt auf Art.
21 Abs. 2 IVG zugesprochen werden könne.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Gemäss Art. 21 Abs. 1 IVG hat der Versicherte im Rahmen einer
vom Bundesrat aufzustellenden Liste Anspruch auf jene Hilfsmittel,
deren er für die Ausübung der Erwerbstätigkeit oder der Tätigkeit in
seinem Aufgabenbereich, für die Schulung, die Ausbildung oder zum
Zwecke der funktionellen Anpassung bedarf. Ferner bestimmt Art. 21
Abs. 2 IVG, dass der Versicherte, der infolge seiner Invalidität für die
Fortbewegung, für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für
die Selbstsorge kostspieliger Geräte bedarf, im Rahmen einer vom Bundesrat
aufzustellenden Liste ohne Rücksicht auf die Erwerbsfähigkeit Anspruch auf
solche Hilfsmittel hat. Die Befugnis zur Aufstellung der Hilfsmittelliste
und zum Erlass ergänzender Vorschriften im Sinne des Art. 21 Abs. 4 IVG
hat der Bundesrat in Art. 14 IVV an das Eidgenössische Departement des
Innern übertragen. Diese Behörde hat am 29. November 1976 die Verordnung
über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI)
erlassen. Deren Art. 2 führt aus, dass im Rahmen der im Anhang aufgeführten
Liste Anspruch auf Hilfsmittel besteht, soweit diese für die Fortbewegung,
die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge
notwendig sind (Abs. 1), und dass der Anspruch auf die in dieser Liste mit
bezeichneten Hilfsmittel nur besteht, soweit diese für die Ausübung einer
Erwerbstätigkeit oder die Tätigkeit im Aufgabenbereich, für die Schulung,
die Ausbildung oder die funktionelle Anpassung notwendig sind (Abs. 2).

    Ziff. 2.01 der Hilfsmittelliste sieht vor, dass die
Invalidenversicherung Beinapparate als Hilfsmittel abgibt. Ferner folgt
aus Ziff. 4.03* ein Anspruch auf Schuheinlagen, sofern sie eine notwendige
Ergänzung einer medizinischen Eingliederungsmassnahme darstellen.

    b) Ob die hier streitige Heidelbergerschiene allenfalls
unter Ziff. 4.03 zu erfassen ist, wie dies das Bundesamt in seiner
Stellungnahme sowie auch die Vorinstanz in ihrem Entscheid andeuten,
kann offengelassen werden, da selbst bei Bejahung dieser Frage ein
Anspruch ohnehin zu verneinen wäre, sind doch aus den Akten keinerlei
Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass beim Beschwerdeführer medizinische
Eingliederungsmassnahmen durchgeführt werden. Zu prüfen ist somit allein,
ob der Beschwerdeführer unter dem Titel der Ziff. 2.01 anspruchsberechtigt
ist.

Erwägung 2

    2.- a) Ziff. 2.01 der Hilfsmittelliste spricht kurz und bündig
von "Beinapparaten". Auch aus den Verwaltungsweisungen ist nicht
ersichtlich, was darunter zu verstehen ist (vgl. Rz. 2.01.1 bis 2.01.3 der
bundesamtlichen Wegleitung über die Abgabe von Hilfsmitteln). Indessen
ist klar, dass Beinprothesen hievon nicht erfasst werden, da diese
in Ziff. 1.01 der Hilfsmittelliste gesondert geregelt sind. Anderseits
ergibt sich aus der Marginalie zu Ziff. 2.01, dass es sich um "Stütz- und
Führungsapparate für Gliedmassen" handelt (vgl. Ziff. 2). Dies lässt darauf
schliessen, dass es hier um technische Vorkehren geht, die beispielsweise
durch motorische Schwächen oder Lähmungen verursachte Funktionsausfälle
am Bein ausgleichen sollen.

    Aus den ärztlichen Unterlagen folgert das Bundesamt, dass beim
Beschwerdeführer eine nicht bloss vorübergehende Fussheberparese rechts
vorliegt. Sie ist eine der häufigsten neurologischen Ausfälle im Bereiche
der untern Extremitäten und in der Regel die Folge einer Funktionsstörung
der Wadenbeinnerven (Nervus peronaeus) und äussert sich darin, dass der
Betroffene bei jedem Schritt den Fuss höher als normal heben muss, da der
Vorderfuss schlaff herunterfällt und aktiv nicht zu heben ist, was ein
spezifisches Gangbild (Steppergang) zur Folge hat. Eines der Mittel, die
eine normale Fortbewegung ermöglichen, ist die Heidelbergerschiene. Sie
wird im Schuh und unter den Kleidern getragen und besteht aus einer
rechtwinklig gebogenen Schiene aus elastischem Material, deren kürzerer
Teil der Fusssohle wie eine Schuheinlage anliegt, während der längere
Teil am Unterschenkel dorsal befestigt wird. Sie bewirkt, dass der Fuss
beim Anheben immer in den rechten Winkel gebracht und damit das Steppen
vermieden wird. Insofern stützt und führt die Heidelbergerschiene eine von
einer Funktionsstörung betroffene Gliedmasse, weshalb sie als Beinapparat
im Sinne der Ziff. 2.01 der Hilfsmittelliste zu betrachten ist.

    b) Des weitern ist zu prüfen, welche Bedeutung dem Begriff der
Kostspieligkeit zukommt. Art. 21 Abs. 2 IVG besagt unter anderem, dass die
zur Erreichung eines der dort erwähnten Eingliederungsziele notwendigen
kostspieligen Geräte in einer Liste aufgeführt werden. Art. 1 Abs. 1
HVI hält fest, dass die Verordnung den Anspruch auf Hilfsmittel sowie
auf Ersatzleistungen nach den Art. 21 und 21bis IVG umschreibt. Art. 2
HVI verweist in Abs. 1 und 2 auf den Anhang zur HVI, wo - entsprechend
der Differenzierung in Art. 21 Abs. 1 und 2 IVG - die Hilfsmittel
mit bzw. ohne in einer Liste aufgeführt sind. Für die nicht mit einem
versehenen Hilfsmittel bestimmt Art. 2 Abs. 1 HVI im einzelnen folgendes:

    "Im Rahmen der im Anhang aufgeführten Liste besteht Anspruch auf

    Hilfsmittel, soweit diese für die Fortbewegung, die Herstellung des

    Kontaktes mit der Umwelt oder für die Selbstsorge notwendig sind."

    Diese Vorschrift enthält somit eine Wiederholung der schon in Art. 21
Abs. 2 IVG erwähnten Eingliederungsziele, während von Kostspieligkeit nicht
mehr die Rede ist. Daraus kann jedoch nicht gefolgert werden, dass die
Kostenfrage bei den in der Liste nicht mit einem versehenen Hilfsmitteln
keine Rolle spiele und dass die Verordnungsregelung diesbezüglich gegen
Art. 21 Abs. 2 IVG verstosse. Vielmehr ist davon auszugehen, dass nach
Massgabe des Art. 21 Abs. 2 IVG nur solche Hilfsmittel (ohne*) in die
Liste aufgenommen wurden, bei denen die Kostspieligkeit vorausgesetzt
ist. Mit andern Worten wurde die Kostenfrage bereits bei der Auswahl
der Geräte und deren Aufnahme in die Liste beantwortet. Daraus folgt,
dass im konkreten Fall nicht noch gesondert geprüft werden muss, ob ein
Gerät kostspielig ist, das unter eine nicht mit einem versehene Ziff.
der Hilfsmittelliste fällt; allerdings bleibt dabei die Prüfung durch den
Richter vorbehalten, ob die vom Bundesrat bzw. - kraft Subdelegation -
vom Departement getroffene Lösung gesetzmässig ist bzw. sich in den
Schranken der Delegationsnorm hält (BGE 105 V 27 Erw. 3b, 184 Erw. 2c
und 258 f. Erw. 2 und 3a). Eine einzige Ausnahme, die aber gerade für
die erwähnte Auslegung spricht, findet sich in Ziff. 4.02 der Liste, wo
ausdrücklich bestimmt wird, dass nicht alle, sondern nur "kostspielige
orthopädische Änderungen an Serienschuhen" von der Invalidenversicherung
übernommen werden; hier ist daher die Kostenfrage im konkreten Fall
jeweils zu prüfen (vgl. ZAK 1978 S. 253).

    Da einerseits die Heidelbergerschiene nach dem in Erw. 2a Gesagten
unter Ziff. 2.01 der Hilfsmittelliste fällt und anderseits nichts dafür
spricht, dass das Departement bei der Umschreibung dieser Ziffer nicht
im Rahmen seiner Kompetenzen gehandelt habe, ist davon auszugehen, dass
es sich um ein kostspieliges Hilfsmittel im Sinne des Art. 21 Abs. 2
IVG handelt.

    c) Aus den Akten geht hervor, dass der Beschwerdeführer zur
Fortbewegung auf die Heidelbergerschiene angewiesen ist und dass daher
auch eines der in Art. 21 Abs. 2 IVG genannten Eingliederungsziele
erfüllt ist. Demnach sind sämtliche Voraussetzungen gegeben, weshalb
die Invalidenversicherung die Kosten für die Heidelbergerschiene zu
übernehmen hat.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 22. Mai 1980 und
die Verfügung der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn vom 29. Januar
1980 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer
Anspruch auf Übernahme der Kosten für die Heidelbergerschiene durch die
Invalidenversicherung hat.