Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 54



108 V 54

15. Auszug aus dem Urteil vom 20. August 1982 i.S. Ausgleichskasse
der Aargauischen Industrie- und Handelskammer gegen Fahrländer und
AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Art. 25 Abs. 2 AHVG. Zum Begriff der Ausbildung (Präzisierung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Die 1955 geborene Franziska Fahrländer bezog bis zum Abschluss
ihrer Ausbildung als Gymnastiklehrerin (August 1978) eine einfache
Waisenrente der AHV. Ab Dezember 1979 besuchte sie in Florenz einen
Keramikkurs und verlangte für die Zeit des Kursbesuches wiederum die
Gewährung der Waisenrente. Die Ausgleichskasse lehnte das Begehren ab,
die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich hiess es dem Grundsatze nach
gut. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Ausgleichskasse die
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Streitpunkt bildet die Frage, ob die Beschwerdegegnerin in bezug
auf den Keramikkurs, den sie seit anfangs Dezember 1979 besuchte, erneut
einen Anspruch auf AHV-Waisenrente erworben hat.

    Nach Art. 25 Abs. 2 zweiter Satz AHVG dauert der Rentenanspruch für
Kinder, deren leiblicher Vater gestorben ist (Abs. 1 erster Satz dieser
Bestimmung) und die noch in Ausbildung begriffen sind, "bis zum Abschluss
der Ausbildung, längstens aber bis zum vollendeten 25. Altersjahr".

    a) Zum Begriff der Ausbildung äusserte sich das
Eidg. Versicherungsgericht in BGE 106 V 149 Erw. 1 (in Übereinstimmung
mit BGE 104 V 66 Erw. 2, 102 V 163 Erw. 1 und dem dort zitierten
unveröffentlichten Urteil Götsch vom 30. August 1976 sowie ZAK 1975 S. 376
Erw. 2) folgendermassen:

    "Als in Ausbildung begriffen gelten Waisen, die während einer
   bestimmten Zeit Schulen oder Kurse besuchen oder der beruflichen
   Ausbildung obliegen. Unter beruflicher Ausbildung ist jede Tätigkeit
   zu verstehen, welche die systematische Vorbereitung auf eine künftige
   Erwerbstätigkeit zum Ziel hat und während welcher die Waise mit
   Rücksicht auf den vorherrschenden Ausbildungscharakter ein wesentlich
   geringeres

    Erwerbseinkommen erzielt, als ein Erwerbstätiger mit abgeschlossener

    Berufsbildung orts- und branchenüblich erzielen würde. Das
Arbeitsentgelt
   gilt dann als wesentlich geringer als dasjenige eines Vollausgebildeten,
   wenn es nach Abzug der besonderen Ausbildungskosten um mehr als 25%
   unter dem ortsüblichen Anfangslohn für voll ausgebildete Erwerbstätige
   der entsprechenden Branche liegt."

    Dieser Wortlaut scheint darauf hinzuweisen, dass das Gericht zwei
Ausbildungskategorien unterscheidet: einerseits Schul- oder Kursbesuch
und anderseits berufliche Ausbildung, welche ihrerseits noch näher
definiert wird. Die Unterscheidung dieser beiden Kategorien kommt
besonders deutlich zum Ausdruck im erwähnten Urteil Götsch. Hier wurde
die gleiche oben wiedergegebene Umschreibung verwendet mit dem Zusatz,
dass unter beruflicher Ausbildung "insbesondere" jede Tätigkeit zu
verstehen sei, welche die systematische Vorbereitung auf eine künftige
Erwerbstätigkeit zum Ziele habe (und des weiteren sich im erforderlichen
Mass auf das Erwerbseinkommen des Rentenansprechers auswirke).
   b) In BGE 102 V 210 Erw. 1 hielt das Gericht dagegen fest:

    "La jurisprudence constante, reprise par la pratique administrative, a
   conféré une acception large aux termes d'apprentissage ou d'études,
   les englobant dans la notion générale de formation professionnelle. Est
   considérée comme une telle formation toute préparation systématique
   tendant à donner des connaissances professionnelles déterminées,
   durant laquelle l'orphelin ne peut prétendre à aucun salaire ou qu'à
   un salaire sensiblement inférieur - soit inférieur de plus de 25% -
   à la rémunération initiale de celui qui possède une formation complète
   dans la branche en cause. Peut faire partie déjà de cette formation,
   le cas échéant, l'acquisition de connaissances préliminaires, en
   particulier de connaissances linguistiques (voir par exemple ATFA
   1960, p. 109 et 1958, p. 127, ainsi que les arrêts qui y sont cités;
   voir aussi les Directives concernant les rentes, nos 194 et 195)."

    In die gleiche Richtung deutet ferner der in ZAK 1974 S. 485
publizierte Entscheid. Der wesentliche Unterschied dieser beiden Urteile
gegenüber den erstgenannten Entscheiden (Erw. 1a hievor) besteht darin,
dass der Ausdruck "berufliche Ausbildung" generell als Oberbegriff für
den gesetzlichen Terminus der Ausbildung (Art. 25 Abs. 2 AHVG) verstanden
wird. Dies hat zur Folge, dass die besonderen Voraussetzungen, welche in
den zuerst zitierten Urteilen lediglich für den dort in einem engeren
Sinne verwendeten spezifischen Begriff der "beruflichen Ausbildung"
aufgestellt worden sind, auch für die daneben erwähnte Kategorie der
"Schulen und Kurse" Geltung haben. Die in Erw. 1a genannten Entscheide
subsumieren somit unter den gesetzlichen Begriff der "Ausbildung" nicht
nur die Berufsbildung, sondern auch die Bildung oder Allgemeinbildung
(Schulen und Kurse) schlechthin, wogegen BGE 102 V 210 Erw. 1 und ZAK 1974
S. 485 zum vornherein die Ausbildung auf ein bestimmtes Berufsziel hin
(Berufsbildung im engern Sinn) im Auge haben.

    c) Für beide Auffassungen lassen sich triftige Gründe anführen:
Einerseits liegt es im AHV/IV-Bereich nahe, den gesetzlichen Begriff
der Ausbildung im Sinne der beruflichen Ausbildung (1. Fallgruppe) zu
verstehen; anderseits geht es aber um Ausbildung auch dort, wo entweder
zum vornherein kein spezieller Berufsabschluss beabsichtigt und nur die
Ausübung des betreffenden Berufes angestrebt wird (2. Fallgruppe) oder wo
es sich um eine Ausbildung handelt, die vorerst nicht einem speziellen
Beruf dient (3. Fallgruppe), sei es, dass die fragliche Massnahme nur
die allgemeine Grundlage für eine Mehrzahl von Berufen bildet, sei es,
dass die anbegehrte Vorkehr überhaupt nur im Sinne der Allgemeinbildung
gedacht ist (z.B. Matura).

    Bezüglich der Berufsausbildung im engern Sinne (1. Fallgruppe)
ist an der letztmals in BGE 106 V 149 Erw. 1 verwendeten Umschreibung
festzuhalten; darüber hinaus sind als Ausbildung im Sinne von Art. 25
Abs. 2 AHVG die in jenem Urteil zusätzlich erwähnten "Schulen und Kurse"
nur anzuerkennen, wenn sie entweder dazu geeignet sind, als Vorbereitung
für eine Berufsausbildung im engeren Sinne (1. Fallgruppe) zu dienen -
ob eine solche dann folgt, ist ebensowenig von Bedeutung wie die Frage,
ob bei Erlernung eines Berufes auch wirklich die Absicht besteht, diesen
später effektiv auszuüben - oder wenn sie ganz einfach auf ein echtes
Bildungsziel im Sinne der 2. und 3. Fallgruppe gerichtet sind. Dabei ist
aber unter allen Umständen (und ganz besonders dort, wo es sich nicht um
eine eigentliche Berufsausbildung handelt) eine systematische Vorbereitung
auf eines der genannten Ziele (Berufsausübung ohne Abschluss gemäss der
2. Fallgruppe; berufsbezogene Vorkenntnisse oder Allgemeinbildung gemäss
der 3. Fallgruppe) hin erforderlich, und zwar auf der Grundlage eines
ordnungsgemässen, rechtlich oder zumindest faktisch anerkannten (üblichen)
Lehrganges. In allen Fällen muss sich sodann die strittige Vorkehr in
dem von der Rechtsprechung umschriebenen Masse auf die Erwerbseinkünfte
auswirken (vgl. BGE 106 V 149 Erw. 1 in fine mit Hinweis).

Erwägung 2

    2.- a) Nach Auffassung der Vorinstanz ist die Beschwerdegegnerin
während des Winterhalbjahres 1979/80 als "in Ausbildung begriffen" zu
betrachten, weil sie damals in Florenz ganztägig einen Kurs besucht habe,
wobei die Art des Kurses unerheblich sei. Dem kann nach dem Gesagten
nicht vorbehaltlos gefolgt werden.

    b) In ihrer Anmeldung bei der AHV vom 21. November 1979 hatte die
Beschwerdegegnerin u.a. ausgeführt, sie habe sich seit längerem mit
gestalterischer Keramik befasst und sich nun, auch unter dem Eindruck
ihrer Stellenlosigkeit, entschieden, "darin eine Ausbildung zu machen";
im weiteren sehe sie die Möglichkeit, die gestalterische Keramik später mit
der (erlernten) Gymnastik zu verbinden, z.B. in therapeutischer Richtung.

    Die Angaben der Beschwerdegegnerin lassen erkennen, dass sie sich
im Herbst 1979 über ihren weiteren beruflichen Werdegang nicht vollends
schlüssig war. Seither ist jedoch eine gewisse Klärung eingetreten;
denn sowohl in der vorinstanzlichen Beschwerdeschrift als auch in der
Vernehmlassung wird von seiten der Beschwerdegegnerin glaubwürdig
dargelegt, dass der Keramikkurs als Vorbereitung auf eine künftige
Ausbildung zur Heimerzieherin gedacht war. Es sind zudem konkrete
Schritte in dieser Richtung unternommen worden, indem der Stiefvater der
Beschwerdegegnerin sich anfangs 1980 bei der Schule für Soziale Arbeit,
Zürich, nach den Aufnahmevoraussetzungen erkundigte. Unter diesen Umständen
darf als - jedenfalls auf längere Sicht angestrebtes - Berufsziel der
Erwerb des Heimerzieherinnendiploms betrachtet werden. Diese Annahme
wird, entgegen der Ansicht der Ausgleichskasse, durch den Umstand,
dass die Beschwerdegegnerin sich nach Abschluss des Töpferkurses Ende
April 1980 nicht sogleich der Heimerzieherinnenausbildung widmete, nicht
widerlegt. Des weiteren kann nach den Angaben der Schule für Soziale
Arbeit vom 10. Januar 1980 nicht in Abrede gestellt werden, dass der
Besuch eines Keramikkurses eine sinnvolle und zweckmässige Vorbereitung
des geplanten Ausbildungsganges als Heimerzieherin darstellt.