Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 50



108 V 50

14. Auszug aus dem Urteil vom 14. Juli 1982 i.S. Ausgleichskasse
für Gewerbe, Handel und Industrie in Graubünden gegen Jörg und
Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden Regeste

    Art. 82 Abs. 1 AHVV. Zeitpunkt der "Kenntnis des Schadens" im Konkurs
des Beitragsschuldners. Übersicht über die Entwicklung der Rechtsprechung.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach Art. 52 AHVG hat ein Arbeitgeber, der durch absichtliche oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden verursacht,
diesen der Ausgleichskasse zu ersetzen. Ist der Arbeitgeber eine
juristische Person, die zur Zeit der Geltendmachung der Haftung nicht
mehr besteht, so können gegebenenfalls die verantwortlichen Organe in
Anspruch genommen werden (BGE 103 V 122 und unveröffentlichtes Urteil
Müller und Nyffeler vom 21. November 1978; vgl. auch BGE 96 V 125).

Erwägung 4

    4.- Gemäss Art. 82 Abs. 1 AHVV verjährt die Schadenersatzforderung,
wenn sie nicht innert Jahresfrist seit Kenntnis des Schadens durch Erlass
einer Schadenersatzverfügung geltend gemacht wird, auf jeden Fall aber
mit Ablauf von fünf Jahren seit Eintritt des Schadens.

    Die Kasse beruft sich in diesem Zusammenhang auf Randziffer 502 der
Wegleitung über den Bezug der Beiträge, wo das Bundesamt mit dem Hinweis
auf das in ZAK 1973 S. 78 veröffentlichte Urteil erklärt, im Konkurs des
Arbeitgebers erhalte die Ausgleichskasse in dem Zeitpunkt Kenntnis vom
Schaden, in welchem der Verlust der Beitragsforderung amtlich festgestellt
werde. Diese amtliche Feststellung fällt nach Auffassung der Kasse mit der
Schliessung des Konkurses durch den Richter zusammen, weil das Ergebnis
jeden Konkursverfahrens so lange nicht zweifelsfrei feststehe, als der
Richter nicht nach sorgfältiger Prüfung des ihm von der Konkursverwaltung
unterbreiteten Berichtes das Konkursverfahren geschlossen habe.

    Das Bundesamt räumt ein, dass die Ausgleichskasse mit der Auflage von
Schlussrechnung und Verteilungsliste sowie nach Erhalt der die Forderung
der Kasse betreffenden Spezialanzeige samt Auszug aus der Verteilungsliste
vom 4. April 1978 zumindest mit grosser Wahrscheinlichkeit mit dem
Verlust ihrer Beitragsforderung habe rechnen müssen. Es pflichtet
jedoch der Auffassung der Ausgleichskasse bei, dass diese erst mit der
Beendigung des Konkursverfahrens durch den Konkursrichter die definitive
Höhe des Forderungsausfalles gekannt habe. An den Begriff der "Kenntnis
des Schadens" seien besonders hohe Anforderungen zu stellen, u. a. weil
die als Schadenersatz entrichteten Beiträge den individuellen Konten
der betroffenen Arbeitnehmer dann nicht gutgeschrieben würden, wenn die
Arbeitnehmerbeiträge seinerzeit vom Lohn nicht abgezogen worden seien
(Art. 138 Abs. 3 AHVV), so dass im Verjährungsfall nachteilige Auswirkungen
auf die Renten entstehen würden. Abgesehen davon habe der Gesetzgeber im
SchKG wohl mit guten Gründen die Beendigung des Konkursverfahrens durch
den Richter verlangt.

Erwägung 5

    5.- In EVGE 1957 S. 226 (= ZAK 1957 S. 459) hat das Eidg.
Versicherungsgericht den Grundsatz aufgestellt, dass eine Ausgleichskasse
erst in dem Zeitpunkt im Sinne von Art. 82 Abs. 1 AHVV Kenntnis des
Schadens habe, in dem sie unter Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit
und unter Berücksichtigung der allgemeinen Entwicklung der Praxis erkennen
muss, dass die tatsächlichen Gegebenheiten nicht mehr erlauben, die
Beiträge einzufordern, wohl aber eine Schadenersatzpflicht nach sich ziehen
können. Dass eine solche Annahme nur dann zulässig wäre, wenn der Verlust
durch einen formellen Akt einer das SchKG anwendenden Behörde festgestellt
worden ist, lässt sich dem zitierten Urteil nicht entnehmen. Es besteht
auch sonst kein Grund zur Annahme, dass für die Bestimmung des Zeitpunktes,
in welchem die Ausgleichskasse vom Schadenseintritt Kenntnis hat, irgendwie
von den allgemeinen Beweisregeln abgewichen werden müsste, wonach auf das
Ergebnis der Prüfung aller im konkreten Einzelfall erheblichen Umstände
abzustellen ist.

    In dem in ZAK 1973 S. 78 publizierten Urteil hat das Gericht den
im Jahre 1957 aufgestellten Grundsatz ausdrücklich bestätigt mit der
Bemerkung, es sei "im vorliegenden Fall" der Schaden in dem Zeitpunkt als
eingetreten zu betrachten, in welchem amtlich festgestellt wurde, dass der
Konkurs fruchtlos geblieben war. Das Gericht betrachtete in diesem Fall den
massgebenden Zeitpunkt als mit der Einstellung des Konkurses identisch. Im
gleichen Sinne äusserte sich das Eidg. Versicherungsgericht in BGE 103
V 122. Damit wurde zwar auf einen formellen Akt des Konkursrichters
abgestellt, der das Konkursverfahren abgeschlossen hatte. Entscheidend
daran war aber nicht die Tatsache, dass mit diesem Akt der Konkursrichter
das Konkursverfahren beendet hatte, sondern dass damit feststand, es gebe
"weder etwas zu verwerten noch zu verteilen" (FRITZSCHE, Schuldbetreibung
und Konkurs II, 2. Aufl., S. 112), woraus der Verlust der Beitragsforderung
der Ausgleichskasse resultiere. In die nämliche Richtung weist auch das
unveröffentlichte Urteil Müller und Nyffeler vom 21. November 1978, worin
nicht etwa der Schluss des Konkursverfahrens durch den Konkursrichter als
für den Schadenseintritt massgeblicher Zeitpunkt genannt wird, sondern
die zeitlich frühere Ausstellung des Konkursverlustscheines.

    Zusammengefasst ergibt sich aus der bisherigen Rechtsprechung des Eidg.
Versicherungsgerichtes, dass die Kenntnis des Schadenseintritts zwar
mit derjenigen vom Schluss des Konkursverfahrens zusammenfallen kann -
wie im Falle der Einstellung des Konkurses mangels Aktiven -, es aber
nicht notwendigerweise muss, wenn der Verlust der Beitragsforderung bei
Beachtung der zumutbaren Aufmerksamkeit bereits vorher feststellbar war,
wie beispielsweise bei Erhalt des Verlustscheines. Es kann also der These
der Ausgleichskasse und des Bundesamtes nicht gefolgt werden, dass ein
Beitragsverlust im Konkursverfahren eines Beitragsschuldners allgemein erst
mit dem Schluss des Konkursverfahrens durch den Konkursrichter feststehe.

Erwägung 6

    6.- Im vorliegenden Falle hat die Konkursverwaltung keine
Verlustscheine ausgestellt, wie der Spezialanzeige vom 4. April 1978
entnommen werden muss. Die Konkursverwaltung hat aber der Ausgleichskasse
mit eben dieser Spezialanzeige mitgeteilt, dass die Verteilungsliste bis
zum 14. April 1978 zur Einsichtnahme aufliege und Beschwerden dagegen
innert 10 Tagen bei der Aufsichtsbehörde einzureichen seien. Ferner hat
sie in dieser Anzeige festgestellt, dass selbst die (in der ersten Klasse
kollozierten) Lohnforderungen nur mit 22,79% befriedigt werden könnten
und sogar die Pfandgläubiger Verluste hätten hinnehmen müssen. Für die
in der II. Klasse kollozierte Forderung der Ausgleichskasse im Betrage
von Fr. 74'574.70 ergebe sich demnach in vollem Umfang ein Verlust.

    Der Kollokationsplan wurde von der Ausgleichskasse nicht
angefochten. Ob andere Gläubiger sich rechtzeitig dagegen beschwert
haben, kann offen bleiben. Jedenfalls wäre es der Ausgleichskasse
zuzumuten gewesen, nach Ablauf der Beschwerdefrist sich innerhalb
nützlicher Frist über den endgültigen Charakter der Verteilungsliste zu
erkundigen. Keinesfalls durfte sie damit ein halbes Jahr, vom April bis
zum Oktober 1978, zuwarten. Als sie am 4. Oktober 1979 gegenüber X Jörg
die Schadenersatzverfügung erliess, war die einjährige Verjährungsfrist
des Art. 82 Abs. 1 AHVV abgelaufen gewesen. Somit erweist sich die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde als unbegründet.