Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 232



108 V 232

52. Auszug aus dem Urteil vom 30. November 1982 i.S. Schweizerische
Ausgleichskasse gegen Binder und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich
Regeste

    Art. 91 Abs. 1 IVV. Das zivilrechtliche Formerfordernis, wonach die
Unterschrift am Ende der Urkunde stehen soll, ist für Rentenverfügungen
der Invalidenversicherung nicht Gültigkeitsvoraussetzung. Der anlässlich
einer revisionsweisen Rentenaufhebung erfolgte Entzug der aufschiebenden
Wirkung einer allfälligen Beschwerde ist rechtsgültig, auch wenn er
sich auf der Rückseite des - auf der Vorderseite unterzeichneten -
Verfügungsschreibens befindet.

Sachverhalt

    A.- Anlässlich eines Revisionsverfahrens hob die Schweizerische
Ausgleichskasse mit Verfügung vom 2. Dezember 1981 die ganze Invalidenrente
des Armando Binder auf, wobei einer allfälligen Beschwerde die
aufschiebende Wirkung entzogen wurde. Der Vermerk über den Entzug des
Suspensiveffektes befand sich auf der Rückseite des auf der Vorderseite
unterzeichneten Verfügungsschreibens.

    Auf Beschwerde des Versicherten hin stellte der Präsident der
AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich fest, die auf der Rückseite der
angefochtenen Kassenverfügung angeordnete Aberkennung der aufschiebenden
Wirkung sei nichtig (Entscheid vom 28. Mai 1982).

    Die Ausgleichskasse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, es sei in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides der
Entzug des Suspensiveffektes wiederherzustellen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- a) Die Vorinstanz ging bei ihrer Annahme, die Aberkennung des
Suspensiveffektes sei nichtig, im wesentlichen davon aus, der Entzug der
aufschiebenden Wirkung befinde sich auf der Rückseite der Verfügung, wo
sich auch im Vordruck die Rechtsmittelbelehrung befinde; lediglich ganz
zuunterst auf der Vorderseite stehe der ebenfalls formularmässige Vermerk
"siehe Rückseite"; der Entzug der aufschiebenden Wirkung sei somit durch
die auf der Vorderseite befindliche Unterschrift der Ausgleichskasse
nicht gedeckt. Nach herrschender Lehre und Praxis zum Allgemeinen Teil
des schweizerischen Obligationenrechts habe die Unterschrift aber den
Abschluss der Urkunde zu bilden und an deren Ende zu stehen; fehle es
hieran, sei Nichtigkeit die Folge. Diese Grundsätze hätten auch im
öffentlichen Recht Gültigkeit.

    b) Das Eidg. Versicherungsgericht hat in BGE 105 V 248 in bezug
auf Beitragsverfügungen der Ausgleichskassen die Unterschrift nicht
als Gültigkeitserfordernis betrachtet und in diesem Zusammenhang
u.a. festgehalten, dass eine analoge Anwendung der zivilrechtlichen
Bestimmungen über die Schriftform hier nicht angängig sei, da diese
Bestimmungen von ganz anderen Voraussetzungen ausgehen (BGE 105 V
253). Ähnliche Überlegungen verbieten es, das zivilrechtliche Erfordernis,
wonach die Unterschrift den Abschluss der Urkunde bilden soll, bei
Rentenverfügungen der Invalidenversicherung als Gültigkeitsvoraussetzung
zu betrachten. Gilt es nämlich bei Privatrechtsgeschäften Unklarheiten
darüber zu vermeiden, ob und in welchem Umfang schriftlich festgehaltene
Willenserklärungen dem Aussteller der Urkunde zuzurechnen sind - weshalb
die im Text enthaltene Erklärung schon der äusseren Erscheinung nach durch
die Unterschrift gedeckt sein soll -, entfällt bei Rentenverfügungen in
aller Regel diese Schwierigkeit; denn die von Art. 91 Abs. 1 IVV verlangte
Form der Schriftlichkeit bietet genügend Gewähr dafür, dass die verfügten
Anordnungen einer bestimmten Amtsstelle zugerechnet werden können.

    Näherer Prüfung bedarf bei Verfügungen dagegen die Frage, welche
der in einem Verwaltungsschreiben enthaltenen Erklärungen Teil des
Verfügungsdispositivs sind (und damit den Charakter einer verbindlichen
Anordnung aufweisen) und welchen Sinn die verfügten Anordnungen
haben. Diese Fragen sind durch Auslegung zu beantworten. Formellen
Gesichtspunkten kommt hierbei keine ausschlaggebende Bedeutung zu,
namentlich nicht bei der Bestimmung dessen, was das Dispositiv einer
Verfügung ausmacht (vgl. ARV 1977 Nr. 13 S. 47 unten). Vielmehr haben
nach dem Grundsatz von Treu und Glauben Verfügungen auf dem Gebiete
der Sozialversicherung so zu gelten, wie sie nach gemeinverständlichem
Wortlaut zu verstehen sind (BGE 100 V 157 Erw. 3a).

    Sodann ist vorliegend der kraft Art. 1 Abs. 2 lit. a VwVG in Verbindung
mit Art. 62 Abs. 2 AHVG und Art. 113 Abs. 1 AHVV im Verfahren vor der
Schweizerischen Ausgleichskasse anwendbare Art. 38 VwVG (vgl. BGE 104 V
154) zu beachten, wonach aus einer mangelhaften Eröffnung den Parteien
kein Nachteil erwachsen darf. Ob dies zutrifft, beurteilt sich wiederum
nach dem Grundsatz von Treu und Glauben, an welchem die Berufung auf
Formmängel in jedem Fall ihre Grenze findet (BGE 98 V 278 Erw. 1 in fine
mit Hinweisen, ZAK 1977 S. 156 Erw. 2c mit Hinweis).

    c) Im vorliegenden Fall hat die Schweizerische Ausgleichskasse
den Entzug der aufschiebenden Wirkung auf der Rückseite der Verfügung
aufgeführt, währenddem sich die Unterschrift und die als Dispositiv
hervorgehobene Textstelle ("Es wird deshalb verfügt: Die ganze
IV-Rente wird auf den 31.12.1981 eingestellt.") auf der Vorderseite
befinden. Gleichwohl konnten über die Tragweite des rückseitig angebrachten
Vermerks vernünftigerweise keine Zweifel aufkommen. Wie die rechtzeitig
erhobene Beschwerde beweist, hat der Beschwerdegegner denn auch verstanden,
dass die Ausgleichskasse den Entzug des Suspensiveffektes verbindlich
verfügte. Im übrigen ist ihm durch die Art, wie die Verwaltung die
verfügte Aberkennung der aufschiebenden Wirkung eröffnete, kein Nachteil
entstanden. Aus diesen Gründen kann weder von einem zur Anfechtbarkeit
führenden (SALADIN, Verwaltungsverfahrensrecht des Bundes, Basel 1979,
S. 146 ff.), geschweige denn von einem die Nichtigkeit bewirkenden (ZAK
1982 S. 84 Erw. 3 mit Hinweisen) Formfehler die Rede sein.