Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 229



108 V 229

51. Auszug aus dem Urteil vom 1. Dezember 1982 i.S. Mätzler gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 71 Abs. 1, 72 Abs. 3 IVV, Art. 13 Abs. 2 VwVG.  Unterlassen
die Parteien in einem Verfahren, das sie durch eigenes Begehren
einleiten oder in dem sie selbständige Begehren stellen können,
die notwendige und zumutbare Mitwirkung, so können die kantonalen
Ausgleichskassen und die Verbandsausgleichskassen bzw. die kantonalen
Invalidenversicherungs-Kommissionen, anstatt aufgrund der Akten
zu entscheiden (Art. 72 Abs. 3 IVV), im Sinne von Art. 13 Abs. 2 VwVG
vorgehen und einen Nichteintretensentscheid erlassen, sofern dies das
kantonale Recht oder die Praxis zulässt.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Gemäss Art. 71 Abs. 1 IVV haben der Versicherte und seine
Angehörigen über die für die Anspruchsberechtigung und die Festsetzung
der Leistung massgebenden Verhältnisse wahrheitsgetreu und unentgeltlich
Auskunft zu geben. Nach Art. 72 Abs. 1 IVV können auf Kosten der
Invalidenversicherung von Ärzten, medizinischen Hilfspersonen und andern
Fachleuten Gutachten, insbesondere über den Gesundheitszustand und
die Arbeitsfähigkeit des Versicherten sowie über die Zweckmässigkeit
bestimmter Eingliederungsmassnahmen, eingeholt werden. Macht die
Begutachtung des Versicherten dessen Einweisung in eine Kranken- oder
Heilanstalt oder in eine Eingliederungsstätte notwendig und leistet der
Versicherte dieser Einweisung ohne genügende Entschuldigung keine Folge,
so kann die Invalidenversicherungs-Kommission gemäss Art. 72 Abs. 3
IVV aufgrund der Akten beschliessen. Dieses Verfahren ist laut BGE 97
V 173 Erw. 4 auch in den Fällen von Art. 71 Abs. 1 IVV anwendbar. Nach
Art. 13 Abs. 2 VwVG brauchen dagegen die eidgenössischen Behörden in
einem Verfahren, das die Parteien durch eigenes Begehren einleiten oder
in dem sie selbständige Begehren stellen können (Art. 13 Abs. 1 lit. a
und b VwVG), auf das Begehren nicht einzutreten, wenn sie die notwendige
und zumutbare Mitwirkung verweigern.

    Während Art. 72 Abs. 3 IVV verfahrensrechtlich für alle
Ausgleichskassen und Invalidenversicherungs-Kommissionen gilt,
ist Art. 13 Abs. 2 VwVG direkt nur im Verfahren der Schweizerischen
Ausgleichskasse und der Eidgenössischen Ausgleichskasse sowie der
beiden Invalidenversicherungs-Kommissionen des Bundes anwendbar
(Art. 1 Abs. 2 lit. e/Art. 3 lit. a VwVG). Wenn und soweit aber
die kantonalen Ausgleichskassen oder die Verbandsausgleichskassen
bzw. die kantonalen Invalidenversicherungs-Kommissionen kraft der
für sie geltenden (nichtbundesrechtlichen) Bestimmungen oder auch nur
praxisgemäss im Sinne von Art. 13 Abs. 2 VwVG vorgehen, kann dies nicht
als bundesrechtswidrig bezeichnet werden. Art. 72 Abs. 3 IVV und Art. 13
Abs. 2 VwVG sind echte "Kann-Vorschriften" und schliessen sich gegenseitig
nicht aus. Unterlassen die Parteien in einem Verfahren, das sie durch
eigenes Begehren einleiten oder in dem sie selbständige Begehren stellen
können, die notwendige und zumutbare Mitwirkung, so können demnach die
Schweizerische Ausgleichskasse oder die Eidgenössische Ausgleichskasse
bzw. die beiden Invalidenversicherungs-Kommissionen des Bundes - statt
auf das Begehren nicht einzutreten - auch aufgrund der vorhandenen Akten
materiell entscheiden. Ebenso steht unter den erwähnten Voraussetzungen
den dem VwVG nicht unterstellten Ausgleichskassen und Kommissionen die
Möglichkeit offen, statt gemäss Art. 72 Abs. 3 IVV aufgrund der Akten
zu entscheiden, im Sinne von Art. 13 Abs. 2 VwVG vorzugehen und einen
Nichteintretensentscheid zu erlassen. Eine andere Lösung für diese Kassen
trüge nicht nur den Bedürfnissen der Praxis unzureichend Rechnung, sondern
würde auch ungleiches Verfahrensrecht mit Bezug auf gleiche Rechtsansprüche
schaffen. Die beiden Varianten - Nichteintreten/materieller Entscheid
aufgrund der Akten - haben unterschiedliche, je nach Fall entweder
begünstigende oder benachteiligende Auswirkungen auf die Rechtsstellung
des Versicherten oder Ansprechers; es würde zu einer ungerechtfertigten
rechtsungleichen Behandlung führen, wenn - je nachdem ein Versicherter der
Schweizerischen Ausgleichskasse bzw. der Eidgenössischen Ausgleichskasse
oder aber einer andern Ausgleichskasse unterstellt ist - nur die eine
oder andere Variante angewendet werden dürfte.

    Wann die Ausgleichskassen und Invalidenversicherungs-Kommissionen unter
den erwähnten Voraussetzungen bei schuldhafter Unterlassung der notwendigen
und zumutbaren Mitwirkung einen Nichteintretensentscheid bzw. einen
materiellen Entscheid aufgrund der vorhandenen Akten fällen können,
hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Lässt sich beispielsweise
der Sachverhalt ohne Schwierigkeiten und ohne besondern Aufwand abklären,
auch wenn der Gesuchsteller die Mitwirkung verweigert oder unterlässt,
so wird die Verwaltung die betreffenden Erhebungen zu tätigen und
anschliessend materiell zu entscheiden haben. Unter Umständen können
auch schützenswerte Interessen Dritter ein solches Vorgehen erfordern (so
etwa das Interesse der Ehefrau an der Invalidenrente des die Mitwirkung
verweigernden Ehemannes). Ebenso wird materiell zu entscheiden sein,
wenn die vorliegenden Akten einen Teilanspruch begründen (die Unterlagen
erlauben beispielsweise den Schluss auf eine halbe Rente, hinsichtlich der
ganzen Rente ist jedoch der Sachverhalt ungenügend erhellt). In Grenz- und
Zweifelsfällen ist die für den Gesuchsteller günstigere Variante zu wählen.