Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 222



108 V 222

49. Auszug aus dem Urteil vom 26. Oktober 1982 i.S. Schwyter gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV. Voraussetzungen des Anspruchs auf
Hilflosenentschädigung bei hochgradiger Sehschwäche.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Art. 36 IVV umschreibt in Absatz 1 die schwere, in Absatz 2
die mittelschwere und in Absatz 3 die leichte Hilflosigkeit. Gemäss
der seit 1. Januar 1979 in Kraft stehenden lit. d von Absatz 3 gilt
die Hilflosigkeit als leicht, wenn der Versicherte trotz der Abgabe
von Hilfsmitteln wegen einer schweren Sinnesschädigung oder eines
schweren körperlichen Gebrechens nur dank regelmässiger und erheblicher
Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte pflegen kann.

    Dazu führt das Bundesamt für Sozialversicherung in seiner Wegleitung
über Invalidität und Hilflosigkeit (gültig ab 1. Januar 1979) präzisierend
aus:

    "Wer trotz Abgabe von Hilfsmitteln wegen einer schweren

    Sinnesschädigung oder eines schweren körperlichen Gebrechens nur dank
   regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche

    Kontakte pflegen kann, gilt frühestens vom ersten Tag des der
Vollendung
   des 18. Altersjahres folgenden Monats an als leicht
   hilflos." (Rz. 325.11.)

    "Die Voraussetzungen gemäss Rz. 325.11 sind als erfüllt zu betrachten

    - bei Blinden und hochgradig Sehschwachen, die sich nicht ohne Hilfe
   ausserhalb der Wohnung fortbewegen können, sofern ihnen von der

    Invalidenversicherung kein Blindenhund abgegeben wurde;

    - ...

    - Für das Verfahren zur Abklärung der Hilflosigkeit von Blinden,
   hochgradig Sehschwachen und schwer Körperbehinderten siehe besondere

    Weisungen." (Rz. 325.12.)

    Im Kreisschreiben über das Verfahren zur Abklärung und Bemessung der
Hilflosigkeit in der IV und AHV vom 28. August 1979 hat das Bundesamt
für Sozialversicherung unter Hinweis auf die oben erwähnte Randziffer
der Wegleitung überdies ausgeführt:

    "Blinde und hochgradig Sehschwache sowie schwer Körperbehinderte haben
   ab 1. Januar 1979 Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung leichten
   Grades.

    Als "hochgradig sehschwach" gilt ein Versicherter, wenn ein
korrigierter

    Visus von beidseitig weniger als 0,2 vorliegt. Der Umstand, dass ein

    Langstock zugesprochen wurde, ist im Gegensatz zur Abgabe eines
Führhundes
   kein Grund, die Hilflosenentschädigung abzulehnen." (Ziff. 2.1.)

    Die in dieser Verwaltungsweisung festgesetzte Visus-Grenze, welche
die hochgradige Sehschwäche und damit die schwere Sinnesschädigung im
Verordnungssinne bestimmt, hat das Eidg. Versicherungsgericht in BGE 107
V 29 als praktikabel bezeichnet, dazu aber bemerkt, dass auch bei einem
Visus von 0,2 und mehr unter Umständen eine schwere Sinnesschädigung
anzunehmen sei, falls ausserdem Gesichtsfeldeinschränkungen bestehen.

Erwägung 2

    2.- Der kantonale Richter nimmt gestützt auf die medizinischen
Unterlagen einen korrigierten Visus von beidseitig weniger als 0,2 an
und bejaht damit eine hochgradige Sehschwäche. Diese Feststellung kann
in bezug auf die massgebenden Verhältnisse bei Verfügungserlass nicht
beanstandet werden, zumal ihr auch der ärztliche Dienst des Bundesamtes
für Sozialversicherung beipflichtet. Indes verneint die Vorinstanz,
dass die Beschwerdeführerin wegen der an und für sich gegebenen
schweren Sinnesschädigung tatsächlich nur dank regelmässiger und
erheblicher Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte pflegen
könne. Mangels Erfüllung dieser Voraussetzung entfalle der Anspruch auf
eine Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit.

    Der kantonale Richter geht somit davon aus, dass die in Art. 36 Abs. 3
lit. d IVV genannten Voraussetzungen kumulativ zu verstehen sind. Dabei
kann er sich auf den Wortlaut der Bestimmung stützen. Dieser Auffassung
steht indes die - im vorinstanzlichen Entscheid unerwähnt gebliebene
- Ziff. 2.2 des oben genannten Kreisschreibens vom 28. August 1979
entgegen. Darin wird bezüglich der Behindertenkategorie mit einem
korrigierten Visus von beidseitig weniger als 0,2 u.a. folgendes
ausgeführt:

    "Wird im Anschluss an die Anmeldung auf dem "Fragebogen an den Arzt
   betreffend Hilflosigkeit" vom Arzt bestätigt, dass der Versicherte
   blind, in der angegebenen Weise sehschwach oder schwer körperbehindert
   ist ...  und fähig ist, den Kontakt mit der Umwelt zu pflegen, so
   sind die

    Voraussetzungen für einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung erfüllt,
   sofern von der Invalidenversicherung kein Blindenführhund bzw. Fahrzeug
   abgegeben wurde. Die Hilflosenentschädigung kann also in solchen Fällen
   ohne weitere Abklärungen ... zugesprochen werden."

    Darnach ist bei Vorliegen einer hochgradigen Sehschwäche
und damit einer schweren Sinnesschädigung nicht mehr besonders zu
prüfen, ob die Pflege gesellschaftlicher Kontakte dem Versicherten
nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter
möglich ist. In diesem Zusammenhang bedeutet es keinen Unterschied,
ob die schwere Sinnesschädigung gemäss Verwaltungspraxis wegen eines
Visus von weniger als 0,2 oder aber im Sinne der Rechtsprechung des
Eidg. Versicherungsgerichtes bei einem Visus von 0,2 oder mehr wegen
zusätzlicher Gesichtsfeldeinschränkungen anzunehmen ist.

    Es fragt sich aber, ob die Ziff. 2.2 des Kreisschreibens vor der
Bestimmung des Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV standhält. Das Bundesamt
für Sozialversicherung begründet im Vernehmlassungsverfahren seine
Verwaltungsweisung wie folgt:

    "Der Kreis der anspruchsberechtigten Sehschwachen musste näher
   umschrieben werden. Um eine möglichst rechtsgleiche Behandlung der

    Versicherten zu erreichen und um den
Invalidenversicherungs-Kommissionen
   die Durchführung zu erleichtern, wurde zusammen mit den interessierten

    Stellen die Ziff. 2.1 des Kreisschreibens vom 28. August 1979
erarbeitet.

    Man ist dabei zum Schluss gekommen, dass die mit der neuen

    Hilflosenentschädigung abzugeltenden Mehrkosten für die Kontaktnahme
mit
   der Umwelt erst ab einem Visus von beidseits weniger als 0,2 entstehen.

    Bei einem Visus von beidseits 0,2 und mehr wurde angenommen, die

    Kontaktnahme mit der Umwelt sei nicht in anspruchsbegründender Weise
   erschwert. Es wurde also die Vermutung aufgestellt, dass jeder
   Sehschwache mit einem Visus von beidseits weniger als 0,2
   nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter
   gesellschaftliche Kontakte pflegen kann, weshalb er Anspruch auf eine
   Hilflosenentschädigung für eine

    Hilflosigkeit leichten Grades hat."

    Aus der in Ziff. 2.1 des Kreisschreibens umschriebenen
hochgradigen Sehschwäche (bzw. Blindheit) wird somit direkt auf eine
invalidenversicherungsrechtlich relevante Hilflosigkeit geschlossen. Die
Schlussfolgerung des Bundesamtes für Sozialversicherung, wie sie in
Ziff. 2.2 des Kreisschreibens ihren Niederschlag findet, kann nicht als
unvernünftig oder wirklichkeitsfremd bezeichnet werden, zumal bei der
Festsetzung der leistungsbegründenden Visus-Grenze auf die gutachtliche
Meinungsäusserung sachkundiger Fachstellen abgestellt worden war. Nicht zu
übersehen ist dabei freilich ein gewisser Schematismus, weil der Anspruch
von einem masslichen Kriterium, dem Visus-Grenzwert, abhängt. Indes lässt
sich nicht beanstanden, dass das Bundesamt für Sozialversicherung für den
in Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV normierten Spezialfall eine im Interesse der
administrativen Vereinfachung liegende Regelung traf. Abgesehen davon
stellt die von der Verwaltungspraxis festgesetzte Visus-Grenze gemäss
der bereits erwähnten Rechtsprechung des Eidg. Versicherungsgerichtes ja
keine starre Grösse dar, sondern ist gegebenenfalls im Zusammenhang mit
weiteren medizinischen Umständen zu würdigen (BGE 107 V 33 Erw. 2). -
Aus dem Gesagten folgt, dass die Beschwerdeführerin nach den Bestimmungen
in Ziff. 2.1 und 2.2 des Kreisschreibens vom 28. August 1979 aufgrund
ihrer schweren Sinnesschädigung gemäss Art. 36 Abs. 3 lit. d IVV eine
Hilflosenentschädigung wegen leichter Hilflosigkeit beanspruchen kann.