Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 217



108 V 217

47. Auszug aus dem Urteil vom 8. September 1982 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Lüssi und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 12 Abs. 1 IVG, Art. 2 Abs. 3 IVV.

    - Bei einem gelähmten Versicherten, der grundsätzlich die
Voraussetzungen von Art. 2 Abs. 3 IVV erfüllt, ist ambulante Physiotherapie
in der Regel die einfache und zweckmässige Massnahme zur Verbesserung
bzw. Erhaltung der Funktionstüchtigkeit, von der die Erwerbsfähigkeit
abhängt.

    - Stationäre Physiotherapie ist von der Invalidenversicherung nur dann
zu gewähren, wenn die ambulante Behandlung infolge spezieller Verhältnisse
des Versicherten nicht oder nur mit unverhältnismässig grossem Aufwand
durchgeführt werden kann oder wenn eine besonders intensive Therapie
erforderlich ist, welche den Rahmen der Möglichkeiten ambulanter Behandlung
qualitativ und quantitativ sprengt (Präzisierung der Rechtsprechung).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 12 Abs. 1 IVG hat der Versicherte Anspruch auf
medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich,
sondern unmittelbar auf die berufliche Eingliederung gerichtet und geeignet
sind, die Erwerbsfähigkeit dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor
wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren. Art. 12 Abs. 2 IVG erteilt dem
Bundesrat die Befugnis, die Massnahmen gemäss Abs. 1 von jenen, die auf
die Behandlung des Leidens an sich gerichtet sind, abzugrenzen. Gestützt
darauf wird in Art. 2 Abs. 3 IVV, der seit 1. Januar 1973 in Kraft steht,
angeordnet, dass bei Lähmungen und andern Ausfällen von motorischen
Funktionen Physiotherapie so lange weiter gewährt werden muss, "als
damit die Funktionstüchtigkeit, von der die Erwerbsfähigkeit abhängt,
offensichtlich verbessert oder erhalten werden kann".

    Voraussetzung zur Übernahme einer solchen Therapie ist, dass die
Massnahme unmittelbar auf die Beeinflussung der motorischen Funktionen
gerichtet ist und nicht auf die Behandlung eines auf die Lähmung
zurückgehenden sekundären Krankheitsgeschehens, wie beispielsweise
Zirkulationsstörungen, Skelettdeformitäten oder Kontrakturen. Verspricht
die physiotherapeutische Behandlung - dazu gehören stationäre und
ambulante Physiotherapie - nur labiles pathologisches Geschehen zu
mildern, so fällt sie nicht unter Art. 2 Abs. 3 IVV (BGE 100 V 39 Erw. 1c,
ZAK 1978 S. 463 und 1977 S. 230). Physiotherapeutische Vorkehren, die
sich lediglich auf die allgemeine Leistungsfähigkeit des Versicherten
auswirken, aber die gestörten motorischen Funktionen nicht oder nicht
massgeblich zu beeinflussen vermögen, gehen ebenfalls nicht zu Lasten
der Invalidenversicherung. Dies ergibt sich im übrigen aus dem Grundsatz,
dass Art. 12 Abs. 1 IVG - bei volljährigen Versicherten - keine umfassende
Invaliditätsprophylaxe gewährt (BGE 102 V 39 Erw. 2).

    b) Laut ständiger Rechtsprechung stellt ambulante Physiotherapie
in der Regel die einfache und zweckmässige Massnahme dar, wenn für
die Verbesserung bzw. Erhaltung der Funktionstüchtigkeit, von der die
Erwerbsfähigkeit abhängt, medizinische Vorkehren notwendig sind (ZAK
1977 S. 230). Dagegen hat die Invalidenversicherung nicht für stationäre
Physiotherapie aufzukommen, wenn eine fortgesetzte ambulante Physiotherapie
für sich allein schon die - nicht mehr weiter zu bessernden - motorischen
Funktionen zu erhalten verspricht. Im allgemeinen kann von regelmässiger,
stationär durchzuführender Physiotherapie nicht erwartet werden, dass
sie die Funktionstüchtigkeit, von der die Erwerbsfähigkeit abhängt,
offensichtlich zu verbessern oder zu erhalten vermag. Dies ergibt sich im
wesentlichen aus dem von Prof. Mumenthaler dem Eidg. Versicherungsgericht
am 12. September 1977 erstatteten einlässlichen Gutachten über die
Zweckmässigkeit jährlicher Badekuren bei Lähmungspatienten (ZAK 1978
S. 463). Die Rechtsprechung hat jedoch anerkannt, dass stationäre
Physiotherapie in gewissen Fällen von der Invalidenversicherung zu
übernehmen ist, wenn die ambulante Durchführung der Massnahme nicht
zumutbar wäre, weil eine besonders intensive ambulante Therapie
erforderlich ist oder die ambulante Behandlung infolge spezieller
Verhältnisse des Versicherten nicht durchgeführt werden kann (nicht
veröffentlichte Urteile Waldis vom 25. April 1980 und Dober vom 25. März
1980).

    c) Aufgrund dieser Erwägungen hat das Eidg. Versicherungsgericht
die bisherige Rechtsprechung dahin präzisiert, dass - beim Vorliegen der
für den Anspruch auf Physiotherapie erforderlichen Voraussetzungen des
Art. 2 Abs. 3 IVV - in der Regel ambulante Physiotherapie die einfache und
zweckmässige Massnahme im Sinne von Art. 2 Abs. 1 IVV darstellt, um die
motorische Funktionstüchtigkeit, von der die Erwerbsfähigkeit abhängt,
offensichtlich zu verbessern oder zu erhalten. Ein Abweichen von dieser
Regel rechtfertigt sich dann, wenn eine besonders intensive Therapie
erforderlich ist, welche den Rahmen der Möglichkeiten fortgesetzter
und regelmässiger ambulanter Behandlung qualitativ und quantitativ
sprengt. Dies ist nicht der Fall, wenn eine fortgesetzte ambulante
Physiotherapie für sich allein schon die - in der Regel nicht mehr
weiter zu bessernden - motorischen Funktionen zu erhalten verspricht. Ein
Abweichen rechtfertigt sich ferner dann, wenn die fortgesetzte ambulante
Behandlung infolge spezieller beruflicher oder persönlicher Verhältnisse
des Versicherten nicht oder nur mit unverhältnismässig grossem Aufwand
durchgeführt werden kann. Der Umstand allein, dass ein Versicherter an
den Rollstuhl gebunden ist und mithin für die ambulante Physiotherapie mit
erhöhtem Aufwand zu rechnen hat, rechtfertigt nicht von vornherein schon
ein Abgehen von der Regel. Denn sonst hätte die Invalidenversicherung
Versicherten, die auf den Rollstuhl angewiesen sind, bei Vorliegen der
Voraussetzungen des Art. 2 Abs. 3 IVV generell stationäre Physiotherapie
zu gewähren.