Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 210



108 V 210

45. Auszug aus dem Urteil vom 12. November 1982 i.S. Bundesamt für
Sozialversicherung gegen Kügel und Versicherungsgericht des Kantons
Basel-Landschaft Regeste

    Art. 5 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 2, 17 IVG.

    - Der Begriff der Erwerbsfähigkeit in Art. 8 Abs. 1 IVG und derjenige
des Erwerbslebens in Art. 8 Abs. 2 IVG sind in einem weiten Sinn zu
verstehen; sie erfassen auch die Betätigung in einem Aufgabenbereich
gemäss Art. 5 Abs. 1 IVG (Erw. 1c).

    - Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen können grundsätzlich auch
Bezüger einer Invalidenrente haben (Erw. 1d).

    - Der vor Eintritt der Invalidität voll erwerbstätig gewesene
Bezüger einer ganzen Invalidenrente hat weder aufgrund von Art. 17
IVG noch sonstwie Anspruch auf Umschulungsmassnahmen, wenn mit den
Rehabilitationsmassnahmen weder die Befähigung zu einer auf Erwerb
gerichteten Tätigkeit noch die Betätigung in einem Aufgabenbereich
gemäss Art. 5 Abs. 1 IVG ermöglicht werden kann und soll. Eine
"Sozialrehabilitation" kennt das IVG nicht (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Der 1921 geborene Hugo Kügel arbeitete bis Mitte Februar
1979 als Revisor bei einer Versicherungsgesellschaft. Wegen seiner
schweren Sehbehinderung liess er sich auf Ende März 1979 vorzeitig
pensionieren. Seit dem 1. Mai 1979 bezieht er eine Entschädigung für
Hilflosigkeit leichten Grades und seit 1. Februar 1980 eine ganze Rente
der Invalidenversicherung. Am 28. Januar 1981 stellte er das Gesuch um
Kostenübernahme für einen Aufenthalt in der Sozialrehabilitationsstätte
für Sehbehinderte in Basel. Mit Verfügung vom 23. März 1981 wies
die Ausgleichskasse "Versicherung" das Begehren ab. Sie begründete
ihren Entscheid damit, dass sich mit der fraglichen Massnahme eine
Wiedereingliederung des Versicherten nicht erzielen lasse.

    B.- Hugo Kügel führte Beschwerde und verlangte sinngemäss die
Übernahme der Kosten für den Rehabilitationsaufenthalt durch die
Invalidenversicherung. Die Eingliederungsvorkehr sei erforderlich, damit
er wieder im Haushalt mitwirken könne, wie er dies früher auch getan
habe. Zudem könne er damit von der Hilfe von Drittpersonen möglichst
unabhängig gemacht werden. Da die Invalidenversicherung für Hausfrauen
die Kosten der sozialen Rehabilitation übernehme, sei ihm entsprechend
dem Grundsatz der Gleichbehandlung das gleiche zuzubilligen.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft erkannte,
dass dem Begehren im Hinblick auf die berufliche Eingliederung nicht
entsprochen werden könne. Hingegen sei dem Gesuch unter dem Gesichtspunkt
der Sozialrehabilitation stattzugeben. Da die Invalidenversicherung
für die Kosten der sozialen Rehabilitation von Hausfrauen aufkomme,
sei das entsprechend dem verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz
der Gleichbehandlung von Mann und Frau auch dem Versicherten in seiner
Eigenschaft als "Hausmann" zu gewähren.

    C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung führt
Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, in Aufhebung des kantonalen
Entscheides sei die Kassenverfügung zu bestätigen. Der Versicherte hat
sich nicht vernehmen lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- a) Invalide oder von Invalidität unmittelbar bedrohte Versicherte
haben Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und
geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit wieder herzustellen, zu verbessern, zu
erhalten oder ihre Verwertung zu fördern (Art. 8 Abs. 1 IVG). Hinsichtlich
der Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG), der Sonderschulung und
Betreuung hilfloser Minderjähriger (Art. 19 und 20 IVG) und der Hilfsmittel
(Art. 21 IVG) besteht gemäss Art. 8 Abs. 2 IVG der Anspruch auf Leistungen
unabhängig von der Möglichkeit der Eingliederung ins Erwerbsleben.

    Als Invalidität im Sinne des IVG gilt die durch einen körperlichen oder
geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit
oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit
dauernde Erwerbsunfähigkeit (Art. 4 Abs. 1 IVG). War ein Versicherter
vor Eintritt der Invalidität nicht erwerbstätig und kann ihm die Aufnahme
einer Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden, so wird die Unmöglichkeit,
sich im bisherigen Aufgabenbereich zu betätigen, der Erwerbsunfähigkeit
gleichgestellt (Art. 5 Abs. 1 IVG).

    b) Der Versicherte hat Anspruch auf Umschulung auf eine neue
Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist
und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder wesentlich
verbessert werden kann (Art. 17 Abs. 1 IVG). Der Umschulung auf eine
neue Erwerbstätigkeit ist die Wiedereingliederung in den bisherigen Beruf
gleichgestellt (Art. 17 Abs. 2 IVG).

    c) Der Begriff Erwerbsfähigkeit in Art. 8 Abs. 1 und Art. 17 Abs. 1
IVG ist in einem weiten Sinne zu verstehen; er erfasst gegebenenfalls
auch die Eingliederung in den bisherigen Aufgabenbereich gemäss Art. 5
Abs. 1 IVG (EVGE 1964 S. 239; nicht veröffentlichtes Urteil Jeanmaire
vom 6. September 1977). Ebenso verhält es sich bezüglich des Begriffes
Erwerbsleben in Art. 8 Abs. 2 IVG. Eingliederungsmassnahmen können
demzufolge auch für Betätigungen nach Art. 5 Abs. 1 IVG gewährt werden.

    d) Der Umstand, dass das Gesetz den Eingliederungsmassnahmen
die Priorität vor den Rentenleistungen zuerkennt, bedeutet nicht,
dass die Ausrichtung einer Rente die zusätzliche Gewährung von
Eingliederungsvorkehren ausschliesse. Selbst die Eingliederung eines
vor Eintritt der Invalidität erwerbstätig gewesenen Versicherten in
eine nicht auf Erwerb gerichtete Tätigkeit ist nicht von vorneherein
ausgeschlossen. Immerhin muss aber ein angemessenes Verhältnis zwischen
den Kosten und dem praktischen Nutzen der Massnahme gegeben sein. So
steht praxisgemäss die Tatsache, dass eine versicherte Frau für die
Belange der Invaliditätsschätzung als Erwerbstätige behandelt worden ist,
der Gewährung einer Umschulung oder eines Hilfsmittels zur Eingliederung
in den hausfraulichen Aufgabenbereich nicht entgegen; denn Art. 8 Abs. 1
IVG erfasst auch die Rehabilitation im Beruf als Hausfrau, und überdies
setzt die Zusprechung einer Eingliederungsmassnahme nicht voraus, dass
diese den für den Rentenanspruch massgebenden Invaliditätsgrad beeinflusst
(EVGE 1964 S. 238; ZAK 1964 S. 493; nicht veröffentlichte Urteile Prezzi
vom 3. Juni 1982, Leuthard vom 13. März 1981, Fuhrimann vom 11. Dezember
1981, Feucht vom 5. Juni 1978 und Jeanmaire vom 6. September 1977).

Erwägung 2

    2.- Es ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner durch den Aufenthalt
in der Sozialrehabilitationsstätte für Sehbehinderte nicht mehr in eine auf
die Erzielung eines Erwerbseinkommens ausgerichtete Tätigkeit eingegliedert
werden kann, was er im übrigen offenbar auch nicht beabsichtigte.
Daher ist zunächst zu prüfen, ob er - analog einer vor Eintritt der
Invalidität voll erwerbstätig gewesenen und nunmehr im Genusse einer
Invalidenrente stehenden Frau, die gegebenenfalls Eingliederungsmassnahmen
als Hausfrau erhält - von der Invalidenversicherung die Eingliederung
in den Aufgabenbereich eines Hausmannes beanspruchen kann. Ein solcher
Anspruch setzt aber definitionsgemäss voraus, dass das eigentliche
Eingliederungsziel - hier die Betätigung als Hausmann - auch tatsächlich
angestrebt wird und mit den verlangten Massnahmen als erreichbar erscheint.

    Das ist unter den Umständen des vorliegenden Falles zu
verneinen. Der Beschwerdegegner hat sein Gesuch damit begründet, dass
der Rehabilitationsaufenthalt ihn in die Lage versetze, "wieder im
Haushalt mitwirken zu können, wie er dies früher auch getan habe",
und dass er ihm ermögliche, die Abhängigkeit von Drittpersonen zu
vermindern. Das zeigt mit hinreichender Wahrscheinlichkeit, dass sich
die angestrebte Tätigkeit im bescheidenen Rahmen dessen hält, was der
Beschwerdegegner vor der gesundheitsbedingten Aufgabe seiner vollamtlichen
Erwerbstätigkeit an Mithilfe im Haushalt geleistet hatte, ohne dass dabei
von einer eigentlichen - ganzen oder auch nur teilweisen - Haushaltführung
gesprochen werden könnte. Eine solche nach Ziel und Umfang beschränkte
Beschäftigung kann nicht als Tätigkeit in einem Aufgabenbereich gemäss
Art. 5 Abs. 1 IVG gewertet werden; sie fällt vielmehr in den Bereich der
Betreuung der eigenen Person bzw. der eigenen Familie durch sinnvolle
Gestaltung der freien Zeit. In den Schreiben der Beratungsstelle für
Sehbehinderte Basel-Stadt und Basel-Land vom 28. Januar 1981 und vom
14. April 1981 an die Invalidenversicherungs-Kommission des Kantons
Basel-Landschaft wird bei der Darlegung der Rehabilitationsziele denn auch
nirgends von der Umschulung in eine bestimmte oder spezielle Tätigkeit
gesprochen. Ebensowenig liegen Anhaltspunkte für eine wirtschaftlich oder
anderweitig begründete Notwendigkeit der Einschulung zum eigentlichen
Hausmann vor, dies beispielsweise zum Zwecke, dadurch der Ehegattin die
Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu ermöglichen. Von einer Eingliederung
des Beschwerdegegners zum Hausmann kann unter diesen Umständen nicht die
Rede sein.

    Da die hier streitige Rehabilitation somit nicht als Vorkehr
zur Eingliederung in den Aufgabenbereich eines Hausmannes gemäss
Art. 5 Abs. 1 IVG qualifiziert werden kann, besteht kein Anspruch auf
Umschulungsmassnahmen nach Art. 17 IVG; denn diese Bestimmung setzt voraus,
dass die Umschulung oder Wiedereinschulung in eine auf Erwerb oder auf
die Erfüllung eines Aufgabenbereichs gemäss Art. 5 Abs. 1 IVG gerichtete
Betätigung abzielt, was beides hier nicht zutrifft.

    Eine Leistungspflicht der Invalidenversicherung für
Rehabilitationsmassnahmen unabhängig von der Möglichkeit der Eingliederung
ins Erwerbsleben oder in einen speziellen Aufgabenbereich ist grundsätzlich
lediglich in den in Art. 8 Abs. 2 IVG aufgeführten Fällen gegeben
(siehe Erwägung 1a). Ein Anwendungsfall des Art. 8 Abs. 2 IVG liegt
hier nicht vor. Daher genügt es für die Begründung der Leistungspflicht
der Invalidenversicherung nicht, dass die streitigen Massnahmen den
Beschwerdegegner im wesentlichen befähigen sollen, das Leben als schwer
Sehbehinderter durch möglichst grosse Unabhängigkeit in der Fortbewegung
und durch einen verbesserten Kontakt mit der Umwelt sinnerfüllend zu
gestalten, um sich so bestmöglich in die Gesellschaft zu integrieren
(von der Beratungsstelle für Sehbehinderte und vom Beschwerdegegner als
"Sozialrehabilitation" bezeichnet). Eine spezielle "Sozialrehabilitation"
für Hausfrauen - die aus Gründen der Gleichberechtigung auch den Männern
zuzugestehen wäre - kennt entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners
und offenbar auch der Vorinstanz das IVG nicht. Die Ablehnung der
Kostenübernahme in der Verfügung vom 23. März 1981 erfolgte demnach
zu Recht.