Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 199



108 V 199

42. Urteil vom 3. November 1982 i.S. S. gegen Ausgleichskasse des Kantons
Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich Regeste

    Art. 52 AHVG.

    - Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers. In casu bejaht, weil keine
Rechtfertigungs- bzw. Exkulpationsgründe nachgewiesen (Erw. 1, 2).

    - Haftung der Organe einer Aktiengesellschaft (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Die Firma N. AG wurde am 13. Februar 1976 ins
Handelsregister des Kantons Zürich eingetragen. Zunächst
war Dr. X während einiger Tage einziges Mitglied des
Verwaltungsrates und einzelunterschriftsberechtigt. An seiner
Stelle wurde laut Handelsregistereintrag vom 26. Februar 1976
S. einziges Verwaltungsratsmitglied und neben seiner Ehefrau
einzelunterschriftsberechtigt. Bei der Gründung war vorerst auch
E. einzelunterschriftsberechtigt, nach Eintritt von S. jedoch nur noch
zusammen mit je einem der beiden einzelunterschriftsberechtigten Eheleute
S. zeichnungsberechtigt.

    Am 27. September 1977 wurde über die Aktiengesellschaft der
Konkurs eröffnet. In diesem Verfahren kam die Ausgleichskasse des
Kantons Zürich mit einer Forderung von Fr. 67'251.35, bestehend aus
Sozialversicherungsbeiträgen sowie Verwaltungskosten und Mahngebühren,
zu Verlust. Am 25. Oktober 1979 wurde der Konkurs geschlossen und in der
Folge die Firma im Handelsregister gelöscht.

    Gestützt auf Art. 52 AHVG machte die Ausgleichskasse den Betrag von Fr.
67'251.35 gegenüber E. und S. geltend (Verfügungen vom 18. Dezember 1979).

    B.- E. und S. erhoben gegen diese Verfügungen Einsprache. Daraufhin
reichte die Ausgleichskasse gegen S. Klage gemäss Art. 81 Abs. 3 AHVV ein.

    Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich hiess die Klage am 13. Juni
1980 gut, indem sie S. zur Bezahlung des Betrages von Fr. 67'251.35
verpflichtete.

    C.- S. lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Aufhebung
des Entscheides der Rekurskommission beantragen. Eventuell sei die Sache
zur Durchführung eines Beweisverfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Ausgleichskasse und das Bundesamt für Sozialversicherung beantragen
die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 52 AHVG hat ein Arbeitgeber, der durch absichtlich oder
grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden verschuldet,
diesen der Ausgleichskasse zu ersetzen.

    In seinem Urteil B. vom 28. Juni 1982 (BGE 108 V 183) hat das Eidg.
Versicherungsgericht seine bisherige Rechtsprechung zu dieser Bestimmung
wie folgt zusammengefasst und präzisiert:

    Die wesentliche Voraussetzung für die Schadenersatzpflicht besteht nach
dem Wortlaut des Art. 52 AHVG darin, dass der Arbeitgeber absichtlich
oder grobfahrlässig Vorschriften verletzt hat und dass durch diese
Missachtung ein Schaden verursacht worden ist. Absicht bzw. Vorsatz
und Fahrlässigkeit sind verschiedene Formen des Verschuldens. Art. 52
AHVG statuiert demnach eine Verschuldenshaftung, und zwar handelt
es sich um eine Verschuldenshaftung aus öffentlichem Recht. Die
Schadenersatzpflicht ist im konkreten Fall nur dann begründet, wenn nicht
Umstände gegeben sind, welche das fehlerhafte Verhalten des Arbeitgebers
als gerechtfertigt erscheinen lassen oder sein Verschulden im Sinne
von Absicht oder grober Fahrlässigkeit ausschliessen. In diesem Sinne
ist es denkbar, dass zwar ein Arbeitgeber in vorsätzlicher Missachtung
der AHV-Vorschriften der Ausgleichskasse einen Schaden zufügt, aber
trotzdem nicht schadenersatzpflichtig wird, wenn besondere Umstände die
Nichtbefolgung der einschlägigen Vorschriften als erlaubt oder nicht
schuldhaft erscheinen lassen.

    Die Ausgleichskasse, welche feststellt, dass sie einen durch
Missachtung von Vorschriften entstandenen Schaden erlitten hat, darf
davon ausgehen, dass der Arbeitgeber die Vorschriften absichtlich oder
mindestens grobfahrlässig verletzt hat, sofern keine Anhaltspunkte für die
Rechtmässigkeit des Handelns oder die Schuldlosigkeit des Arbeitgebers
bestehen. Gestützt darauf verfügt sie im Sinne von Art. 81 Abs. 1 AHVV
die Ersetzung des Schadens durch den Arbeitgeber. Diesem steht das
Recht zu, im Einspracheverfahren (Art. 81 Abs. 2 AHVV) Rechtfertigungs-
und Exkulpationsgründe geltend zu machen, für die er im Rahmen seiner
Mitwirkungspflicht den entsprechenden Nachweis zu erbringen hat. Die
Ausgleichskasse prüft in Anwendung der Untersuchungsmaxime die Einwände
des Arbeitgebers. Erachtet sie die vorgebrachten Rechtfertigungs-
oder Exkulpationsgründe als gegeben, so heisst sie die Einsprache
gut. Andernfalls hat sie gemäss Art. 81 Abs. 3 AHVV Klage zu erheben.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall steht fest, dass die Firma N. AG entgegen
der Vorschrift von Art. 14 Abs. 1 AHVG paritätische bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge sowie Verwaltungskosten und Mahngebühren
der Ausgleichskasse nicht bezahlt hat und dass dieser dadurch ein
Schaden erwachsen ist. Der Beschwerdeführer begründet dies damit,
dass er zwar der AHV-Abrechnung die nötige Aufmerksamkeit geschenkt und
anfangs 1977 auch festgestellt habe, dass die geschuldeten AHV-Beiträge
in einem wieder höheren Betrag unter den Kreditoren erschienen seien.
E. als Geschäftsführer der Firma habe ihm aber erklärt, dass mit der
Ausgleichskasse eine Zahlungsvereinbarung habe getroffen werden können. Der
Abschluss dieser Zahlungsvereinbarung schliesse Fahrlässigkeit, jedenfalls
grobe Fahrlässigkeit aus. Selbst wenn keine Zahlungsvereinbarung getroffen
worden wäre, so ergäbe sich daraus doch keine grobe Fahrlässigkeit
des Beschwerdeführers, weil dieser sich auf die Angaben des E. habe
verlassen dürfen. Ein besonderes Misstrauen diesem gegenüber habe sich
nicht aufgedrängt.

    Der Beschwerdeführer verneint also jegliches grobfahrlässige Verhalten
seinerseits mit dem Hinweis auf das Vorliegen einer mit der Ausgleichskasse
getroffenen Zahlungsvereinbarung. Über den Inhalt dieser Vereinbarung hat
er allerdings keine Angaben gemacht; seine Behauptung, es sei eine solche
Vereinbarung getroffen worden, ist von der Ausgleichskasse jedoch nie
bestritten worden. Es kann offenbleiben, wie es sich damit verhält, denn
der Auffassung, eine solche Zahlungsvereinbarung schliesse grundsätzlich
ein grobfahrlässiges Verhalten aus, kann ohnehin nicht beigepflichtet
werden. Der Firma wurde ja nicht zum voraus und generell eine Stundung
bewilligt. Vielmehr konnte in einem solchen Zahlungsaufschub bloss der
Versuch erblickt werden, den - bereits widerrechtlich eingetretenen -
Zahlungsrückstand der Firma nachträglich wieder in Ordnung zu bringen,
wobei es der Ausgleichskasse in erster Linie darum gehen musste, die
eingetretenen Rückstände ohne Verlust einbringen zu können. Eine solche
Massnahme an sich vermag die nicht rechtzeitige Bezahlung sowohl der
bereits verfallenen als auch der erst fällig werdenden Beiträge überhaupt
nicht zu entschuldigen bzw. zu rechtfertigen. Es fragt sich lediglich,
ob die Zahlungsrückstände, welche zur Stundung Anlass gegeben haben,
sich durch ein entschuldbares oder gerechtfertigtes Verhalten des
Beschwerdeführers begründen lassen.

Erwägung 3

    3.- a) Nicht jedes einer Firma als solcher anzulastende Verschulden
muss auch ein solches seiner sämtlichen Organe sein. Vielmehr hat man
abzuwägen, ob und inwieweit eine Handlung der Firma einem bestimmten Organ
im Hinblick auf dessen rechtliche und faktische Stellung innerhalb der
Firma zuzurechnen ist. Das Eidg. Versicherungsgericht hat in konstanter
Praxis ausgeführt, grobe Fahrlässigkeit sei gegeben, wenn ein Arbeitgeber
das ausser acht lasse, was jedem verständigen Menschen in gleicher Lage
und unter gleichen Umständen als beachtlich hätte einleuchten müssen (EVGE
1957 S. 219, 1961 S. 232, ZAK 1961 S. 448, 1972 S. 729). Das Mass der zu
verlangenden Sorgfalt ist abzustufen entsprechend der Sorgfaltspflicht,
die in den kaufmännischen Belangen jener Arbeitgeberkategorie, welcher der
Betreffende angehört, üblicherweise erwartet werden kann und muss. Dabei
sind an die Sorgfaltspflicht einer Aktiengesellschaft grundsätzlich
strenge Anforderungen zu stellen (vgl. ZAK 1972 S. 729). Eine ähnliche
Differenzierung ist auch notwendig, wenn es darum geht, die subsidiäre
Haftung der Organe eines Arbeitgebers zu ermitteln. Nach Art. 722
Abs. 1 Ziff. 3 OR hat die Verwaltung die mit der Geschäftsführung
beauftragten Personen zu überwachen und sich regelmässig über den
Geschäftsgang unterrichten zu lassen. Sie hat diese Pflicht nach
Massgabe der besonderen Umstände des Einzelfalles "mit aller Sorgfalt"
zu erfüllen. Das setzt u.a. voraus, dass der Verwaltungsrat die ihm
unterbreiteten Berichte kritisch liest, nötigenfalls ergänzende Auskünfte
verlangt und bei Irrtümern oder Unregelmässigkeiten einschreitet. Dabei
wird es aber einem Verwaltungsratspräsidenten einer Grossfirma nicht als
grobfahrlässiges Verschulden angerechnet werden können, wenn er nicht
jedes einzelne Geschäft, sondern nur die Tätigkeit der Geschäftsleitung
und den Geschäftsgang im allgemeinen überprüft (vgl. Mario M. Pedrazzini,
Gesellschaftsrechtliche Entscheide, Bern 1974, S. 127, mit Hinweis auf
BGE 97 II 403 und die Literatur) und daher beispielsweise nicht beachtet,
dass in Einzelfällen die Abrechnung über Lohnbeiträge nicht erfolgt
ist. Das Gegenstück wäre der Präsident des Verwaltungsrates einer Firma,
der faktisch das einzige ausführende Organ der Firma ist oder aber der
Verwaltungsratspräsident einer Firma, dem aus irgendwelchen Quellen
bekannt ist oder doch bekannt sein sollte, dass die Abrechnungspflicht
möglicherweise mangelhaft erfüllt wird (BGE 103 V 125).

    b) Bei der Firma N. AG handelte es sich um ein kleines Unternehmen
mit sehr einfacher Verwaltungsstruktur: das Aktienkapital belief
sich auf Fr. 50'000.--; der Beschwerdeführer war einziger und
einzelzeichnungsberechtigter Verwaltungsrat neben seiner ebenfalls
einzelzeichnungsberechtigten Ehefrau und dem von ihm als Geschäftsführer
bezeichneten E., der seinerseits nur mit dem Beschwerdeführer oder dessen
Ehefrau kollektivzeichnungsberechtigt war. Bei derart einfachen und
leicht überschaubaren Verhältnissen muss vom einzigen Verwaltungsrat einer
Aktiengesellschaft, der als solcher die Verwaltung der Aktiengesellschaft
als einzige Person in Organstellung zu besorgen hat, der Überblick
über alle wesentlichen Belange der Firma selbst dann verlangt werden,
wenn er seine Befugnisse weitgehend an einen Geschäftsführer delegiert
hat. Er kann mit der Delegation der Geschäftsführung nicht zugleich auch
seine Verantwortung als einziges Verwaltungsorgan an den Geschäftsführer
delegieren. Es liegt hier kein Sonderfall eines Grossunternehmens im Sinne
von BGE 103 V 125 vor, wo eine weitgehende Aufteilung der Funktionen
unter mehrere Verwaltungsräte bzw. die Delegation an angestellte
Geschäftsführer unerlässlich ist und wo dem Verwaltungsrat nicht als
grobfahrlässiges Verschulden angerechnet werden kann, "wenn er nicht jedes
einzelne Geschäft, sondern nur die Tätigkeit der Geschäftsleitung und den
Geschäftsgang im allgemeinen überprüft... und daher beispielsweise nicht
beachtet, dass in Einzelfällen die Abrechnung über Lohnbeiträge nicht
erfolgt ist". Vor allem aber fällt im vorliegenden Fall in Betracht, dass
der Beschwerdeführer schon allein aufgrund seiner eigenen Sachdarstellung
auch rein faktisch von der Nichterfüllung der Beitragspflicht Kenntnis
gehabt haben muss. Zum gleichen Ergebnis gelangt man aufgrund der Tatsache,
dass der Beschwerdeführer am 21. Februar 1977 eine Beitragsabrechnung und
eine Lohnbescheinigung für die Ausgleichskasse persönlich unterzeichnet
und darin ausdrücklich auf die Mahnung der Kasse für die Beitragsperiode
Oktober bis Dezember 1976 Bezug genommen hat. Es ist ihm daher mindestens
als Grobfahrlässigkeit anzurechnen, wenn ihm die Nichterfüllung der
Beitragspflicht gleichwohl entgangen sein sollte. Sodann zeigt die Regelung
der Zeichnungsberechtigung, dass der Geschäftsführer E. keine umfassende
Selbständigkeit besass. Seine Zeichnungsberechtigung, die nur kollektiv
mit je einem der beiden Einzelzeichnungsberechtigten, d.h. mit dem
Beschwerdeführer selber oder mit dessen Ehefrau, ausgeübt werden konnte,
hatte praktisch überhaupt keine Kompetenz zum Inhalt, weil ja jeweils
schon die Unterschrift des andern einzelzeichnungsberechtigten Partners
genügte, während E. seinerseits ohne einen dieser beiden Partner nicht
rechtsgültig unterzeichnen konnte. Mit dieser Kompetenzeinschränkung
wollte der Beschwerdeführer nach seiner eigenen Darstellung in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde "einer Sorgfaltspflicht als Verwaltungsrat
besonders Genüge tun, nämlich verhindern, dass die Mittel unter Missachtung
seiner Entscheide ausgegeben oder gar verschleudert würden". Er hat also
mindestens bezüglich der Ausgaben eine sehr strenge und detaillierte
Kontrolle geführt, während anderseits der Geschäftsführer E. wegen der
speziellen Regelung der Zeichnungsberechtigung auch keine anderweitigen
Geschäfte selbständig, ohne Wissen und Einverständnis des Beschwerdeführers
oder dessen Ehefrau, tätigen konnte. Unter diesen Umständen muss
vorausgesetzt werden, dass sich der Beschwerdeführer faktisch um alle
Geschäftsvorfälle kümmerte, welche für die Firma irgendwie von Belang
waren, wozu selbstverständlich auch die Verpflichtungen, insbesondere
die zunehmende Verschuldung, gehörten. Es wird denn auch ausdrücklich
anerkannt, dass er jedenfalls grundsätzlich über die Beitragsschulden
gegenüber der Ausgleichskasse orientiert war. Selbst wenn der Firma
Zahlungserleichterungen gewährt worden sein sollten, musste ihm bewusst
sein, dass er es gar nicht so weit hätte kommen lassen dürfen und dass
er nicht weiterhin von den Löhnen paritätische Beiträge abziehen durfte,
ohne diese - zusammen mit den Arbeitgeberbeiträgen - der Ausgleichskasse
zu überweisen.

    Ebenso musste er wissen, dass es sich bei diesen Beiträgen um
privilegierte Forderungen der Ausgleichskasse handelte, dass die
Zweckentfremdung der vom Lohn abgezogenen Beiträge einen Straftatbestand
bildet (Art. 87 Abs. 3 AHVG) und dass er in Anbetracht der zunehmenden
Verschuldung der Firma erst recht für die Bezahlung dieser Beiträge hätte
sorgen müssen. Indem der Beschwerdeführer diese seine Sorgfaltspflicht
missachtete, hat er das ausser acht gelassen, "was jedem verständigen
Menschen in gleicher Lage und unter gleichen Umständen als beachtlich
hätte einleuchten müssen". Es sind weder Umstände dargetan worden, welche
sein Verhalten als berechtigt oder entschuldbar erscheinen liessen,
noch ergeben sich hierfür irgendwelche Anhaltspunkte aus den Akten...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.