Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 183



108 V 183

40. Urteil vom 28. Juni 1982 i.S. B. gegen Ausgleichskasse AGRAPI und
Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft Regeste

    Art. 52 AHVG. Schadenersatzpflicht des Arbeitgebers. In casu verneint,
weil Rechtfertigungs- bzw. Exkulpationsgründe nachgewiesen.

Sachverhalt

    A.- B. war Verwaltungsratspräsident, Direktor und seit 1965
Alleinaktionär der Firma B. AG, Photolithos, über die am 18. Mai 1977 der
Konkurs eröffnet wurde. Mit Verlustschein vom 11. Juni 1979 teilte das
Konkursamt der Ausgleichskasse AGRAPI mit, dass ihre in der 2. Klasse
kollozierte Forderung im Restbetrag von Fr. 75'280.05, bestehend aus
paritätischen Sozialversicherungsbeiträgen, nicht befriedigt werden
könne. Gestützt darauf eröffnete die Ausgleichskasse dem B., dass er als
Präsident und Direktor der Firma B. AG für paritätische bundesrechtliche
Sozialversicherungsbeiträge von Fr. 73'936.90 und für die Verwaltungskosten
von Fr. 1'210.85, insgesamt somit für die Forderung von Fr. 75'147.75
hafte und diesen Betrag zu ersetzen habe (Verfügung vom 4. Juli 1979).

    B.- Gegen diese Verfügung erhob B. Einsprache mit der Begründung,
er habe nichts unversucht gelassen, um den Konkurs abzuwenden. Bei der
Konkurseröffnung sei die Gesellschaft buchmässig noch nicht überschuldet
gewesen. Er sei sogar eine persönliche Bürgschaftsschuld von Fr. 150'000.--
eingegangen und dafür belangt worden. Hätte die konkursamtliche Verwertung
der Liegenschaft auch nur annähernd den Buchwert erreicht, so hätten sogar
die in der 5. Klasse kollozierten Gläubiger noch weitgehend befriedigt
werden können. Daraufhin reichte die Ausgleichskasse Klage gemäss Art. 81
Abs. 3 AHVV ein.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Basel-Landschaft ging in seinem
Entscheid vom 21. August 1980 in Anwendung von Art. 52 AHVG davon aus, dass
der Arbeitgeber, der durch absichtliche oder grobfahrlässige Missachtung
von Vorschriften einen Schaden verursacht, diesen der Ausgleichskasse
ersetzen muss. B. sei sich über die Entrichtung der AHV-Beiträge im klaren
gewesen. Wenn er geltend mache, dass er sich bemüht habe, in erster Linie
die Löhne der Arbeitnehmer zu bezahlen, und dafür die Befriedigung anderer
Gläubiger unterlassen habe, so gebe er zu, dass er die Arbeitnehmerbeiträge
zweck- und treuwidrig verwendet habe. Unerheblich sei, dass die Beiträge
vorab zur Lohnzahlung verwendet worden seien in der Absicht, vorübergehende
Liquiditätsschwierigkeiten zu überbrücken. Sein Verhalten müsse mindestens
als grobfahrlässig qualifiziert werden. Das Schadenstotal belaufe sich auf
Fr. 75'147.75. In zeitlicher Hinsicht bestehe die Schadenersatzpflicht
für die in der Zeit vom 1. Juli 1976 bis 30. April 1977 aufgelaufenen
Arbeitnehmerbeiträge. Die Beiträge für die Monate Mai und Juni 1977 seien
erst mit der Konkurseröffnung am 18. Mai 1977 fällig geworden. Insoweit
könne B. kein Verschulden angelastet werden und sei er deshalb nicht
haftbar. In diesem Sinne hiess das kantonale Versicherungsgericht die
Klage gut.

    C.- B. lässt mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen, der
Entscheid des kantonalen Versicherungsgerichtes sei aufzuheben; eventuell
sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das
Vorliegen eines Schadens und die rechtswidrige Nichtbefolgung von
Vorschriften der AHV-Gesetzgebung werden zwar anerkannt. Dagegen werden das
Verschulden und das Bestehen eines adäquaten Kausalzusammenhanges zwischen
der rechtswidrigen Missachtung von Vorschriften und dem Schaden bestritten.

    Die Ausgleichskasse beantragt Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
erachtet den adäquaten Kausalzusammenhang als gegeben, weil die
Aktiengesellschaft Lohnbeiträge abgezogen, diese aber nicht an die
Ausgleichskasse weitergeleitet habe, und weil B. verantwortliches Organ
der Gesellschaft gewesen sei. Dadurch nämlich seien der Ausgleichskasse
Beiträge entgangen und somit ein Schaden erwachsen. Hinsichtlich
des Verschuldens verweist das Bundesamt auf die Rechtsprechung,
wonach grobe Fahrlässigkeit zu vermuten sei, wenn der Arbeitgeber
die Arbeitnehmerbeiträge vom Lohn abzieht, sie aber nicht an die
Ausgleichskasse weiterleitet. Um diese Vermutung umzustossen, müssten
ganz ausserordentliche Umstände vorliegen, welche beweisen würden, dass
B. sich in einer derartigen Zwangslage befunden habe, dass er nicht
anders hätte handeln können. Trotz der anerkennenswerten Beweggründe
müsse ihm grobe Fahrlässigkeit angelastet werden. Schliesslich wirft
das Bundesamt die Frage auf, ob der Begriff der groben Fahrlässigkeit
überhaupt so streng auszulegen sei, dass er in seinen Wirkungen einer
Kausalhaftung gleichkomme.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Nach Art. 52 AHVG hat ein Arbeitgeber, der durch absichtliche
oder grobfahrlässige Missachtung von Vorschriften einen Schaden
verschuldet, diesen der Ausgleichskasse zu ersetzen.

    Art. 14 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 34 f. AHVV schreibt vor,
dass der Arbeitgeber bei jeder Lohnzahlung die Arbeitnehmerbeiträge
in Abzug zu bringen und zusammen mit den Arbeitgeberbeiträgen
der Ausgleichskasse zu entrichten hat. Die Arbeitgeber haben den
Ausgleichskassen periodisch Abrechnungsunterlagen über die von ihnen an
ihre Arbeitnehmer ausbezahlten Löhne zuzustellen, damit die entsprechenden
paritätischen Beiträge ermittelt und verfügt werden können. Die Beitrags-
und Abrechnungspflicht des Arbeitgebers ist eine gesetzlich vorgeschriebene
öffentlichrechtliche Aufgabe. Dazu hat das Eidg. Versicherungsgericht
wiederholt erklärt, dass die Nichterfüllung dieser öffentlichrechtlichen
Aufgabe eine Missachtung von Vorschriften im Sinne von Art. 52 AHVG bedeute
und die volle Schadendeckung nach sich ziehe (BGE 103 V 122, EVGE 1961
S. 230). Anderseits bejahte das Gericht die Schadenersatzpflicht des
Arbeitgebers ausdrücklich nur für jene Fälle, in denen der Schaden auf
eine absichtliche oder grobfahrlässige Verletzung von Vorschriften der
AHV-Gesetzgebung zurückgeführt werden müsse (BGE 103 V 124 Erw. 6, 98 V 29
Erw. 6). Dabei sind sowohl grobe Fahrlässigkeit als auch Absicht verneint
worden, wenn der Arbeitgeber aus Mangel an Mitteln es unterlassen hat, die
paritätischen Beiträge der Ausgleichskasse zu bezahlen (ZAK 1970 S. 105).

    b) Die bisherige Praxis lässt nicht klar erkennen, ob die Haftbarkeit
des Arbeitgebers nach Art. 52 AHVG allenfalls aus Gründen, welche die
Missachtung von Vorschriften als rechtmässig erscheinen lassen oder ein
schuldhaftes Verhalten ausschliessen würden, verneint werden könnte. Das
Gesamtgericht, das sich erneut mit der Frage befasste, gelangte zu
folgenden Schlüssen:

    Die wesentliche Voraussetzung für die Schadenersatzpflicht besteht nach
dem Wortlaut des Art. 52 AHVG darin, dass der Arbeitgeber absichtlich
oder grobfahrlässig Vorschriften verletzt hat und dass durch diese
Missachtung ein Schaden verursacht worden ist. Absicht bzw. Vorsatz
und Fahrlässigkeit sind verschiedene Formen des Verschuldens. Art. 52
AHVG statuiert demnach eine Verschuldenshaftung, und zwar handelt
es sich um eine Verschuldenshaftung aus öffentlichem Recht. Die
Schadenersatzpflicht ist im konkreten Fall nur dann begründet, wenn nicht
Umstände gegeben sind, welche das fehlerhafte Verhalten des Arbeitgebers
als gerechtfertigt erscheinen lassen oder sein Verschulden im Sinne
von Absicht oder grober Fahrlässigkeit ausschliessen. In diesem Sinne
ist es denkbar, dass zwar ein Arbeitgeber in vorsätzlicher Missachtung
der AHV-Vorschriften der Ausgleichskasse einen Schaden zufügt, aber
trotzdem nicht schadenersatzpflichtig wird, wenn besondere Umstände die
Nichtbefolgung der einschlägigen Vorschriften als erlaubt oder nicht
schuldhaft erscheinen lassen.

    Die Ausgleichskasse, welche feststellt, dass sie einen durch
Missachtung von Vorschriften entstandenen Schaden erlitten hat, darf
davon ausgehen, dass der Arbeitgeber die Vorschriften absichtlich oder
mindestens grobfahrlässig verletzt hat, sofern keine Anhaltspunkte für die
Rechtmässigkeit des Handelns oder die Schuldlosigkeit des Arbeitgebers
bestehen. Gestützt darauf verfügt sie im Sinne von Art. 81 Abs. 1 AHVV
die Ersetzung des Schadens durch den Arbeitgeber. Diesem steht das
Recht zu, im Einspracheverfahren (Art. 81 Abs. 2 AHVV) Rechtfertigungs-
und Exkulpationsgründe geltend zu machen, für die er im Rahmen seiner
Mitwirkungspflicht den entsprechenden Nachweis zu erbringen hat. Die
Ausgleichskasse prüft in Anwendung der Untersuchungsmaxime die Einwände
des Arbeitgebers. Erachtet sie die vorgebrachten Rechtfertigungs-
oder Exkulpationsgründe als gegeben, so heisst sie die Einsprache
gut. Andernfalls hat sie gemäss Art. 81 Abs. 3 AHVV Klage zu erheben.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer die
paritätischen Beiträge und Verwaltungskosten von rund Fr. 75'000.--
absichtlich nicht termingemäss der Ausgleichskasse bezahlt hat und
dass dieser dadurch ein Schaden erwachsen ist. Der Beschwerdeführer
begründet dieses fehlbare Verhalten damit, dass er sich angesichts
der Liquiditätsschwierigkeiten der Firma B. AG bemüht habe, mit den
zur Verfügung gestandenen knappen Mitteln deren "lebenswichtige
Verpflichtungen", nämlich die Lohnzahlungen und die Befriedigung
gewisser Lieferanten, zu erfüllen, was anderseits dazu geführt habe,
dass er u.a. die Beitragsforderungen der Ausgleichskasse nicht habe
begleichen können. Damit stellt sich die Frage, ob besondere Umstände
den Beschwerdeführer zu solchem Verhalten berechtigt haben oder es zu
entschuldigen vermögen.

    Der Beschwerdeführer hat seinen Betrieb seit 1954 aus kleinen Anfängen
zu einem Unternehmen aufgebaut, das im Jahre 1970 rund 60 Mitarbeiter
beschäftigte. Im Zusammenhang mit dem rezessionsbedingten Rückgang des
Auftragsvolumens und dem durch die Entstehung technischer Überkapazitäten
bewirkten Preiszerfall im graphischen Gewerbe wurde erstmals im Jahre
1973 ein Verlust von gegen Fr. 95'000.-- ausgewiesen. Zu jenem Zeitpunkt
war die Firma B. AG offensichtlich noch nicht überschuldet. Als im Jahre
1974 neuerdings Verluste auftraten, bemühte sich der Beschwerdeführer mit
Hilfe einer Treuhand-Firma erfolglos um den Verkauf seiner Firma. In der
zweiten Hälfte 1975 und im ersten Quartal des Jahres 1976 schöpfte er
Hoffnung und nahm u.a. Kontakte zur Beschaffung neuer Kredite auf. Als
sich später weitere Schwierigkeiten einstellten, bemühte er sich erneut
um den Verkauf seiner Firma.

    Ferner ging er zu deren Gunsten eine persönliche Solidarbürgschaft
in der Höhe von Fr. 150'000.-- ein, für die er nach dem Konkurs bis zum
Betrag von Fr. 140'000.-- durch die Bank X belangt worden ist.

    Demnach hat der Beschwerdeführer in einer für die ganze graphische
Branche schwierigen Phase das getan, was vernünftigerweise von einem
Unternehmer erwartet werden kann. Darüber hinaus hat er sogar sein
nicht in der Firma investiertes privates Vermögen durch Eingehung einer
Solidarbürgschaft für die Rettung des Geschäftes eingesetzt, wozu er
rechtlich nicht verpflichtet war. Im Bestreben, sein Unternehmen zu
erhalten, hat er allerdings zuerst die für dessen Überleben wesentlichen
Forderungen der Arbeitnehmer und Lieferanten befriedigt, nicht aber
gewisse Beitragsforderungen der Sozialversicherung. Er durfte dabei aber
unter den gegebenen Umständen damit rechnen, dass er die Forderung der
Ausgleichskasse in dem damals nicht unwahrscheinlichen Fall einer Rettung
seiner Firma innert nützlicher Frist würde befriedigen können.

    Er konnte sich insbesondere darauf stützen, dass die Firma B. AG
im Zeitpunkt der Konkurseröffnung buchmässig nicht überschuldet war,
und zwar ohne Manipulation oder offensichtliche Fehlbewertung einzelner
Positionen. Dass die Erwartungen des Beschwerdeführers sich in der Folge
nicht verwirklichten, vermag daran nichts zu ändern. Die Verluste der
Zweitklassgläubiger, zu denen auch die Ausgleichskasse gehört, sollen nach
den Vorbringen des Beschwerdeführers denn auch darauf zurückzuführen sein,
dass eine Liegenschaft, welche ein wichtiges Aktivum bildete, im Zuge der
konkursamtlichen Liquidation nur zu einem erheblich unter dem Verkehrswert
liegenden Preis habe verkauft werden können. Diese Behauptung ist nicht
nur unbestritten, sie entspricht auch der allgemeinen Erfahrung, wonach
auch realistische Schätzungen des Verkehrswertes bei Zwangsverkäufen
häufig nicht erreicht werden, weil die Käufer eben wissen, dass die
Zwangsverwertung innerhalb gewisser Fristen durchgeführt werden muss,
und sie sich damit in einer wesentlich bessern Lage befinden als bei
einem freihändigen Verkauf. Dazu kommt im vorliegenden Fall, dass die
betreffende Liegenschaft im Schatzungsbericht des Baumeisters R. vom
5. September 1973 mit Fr. 1'600'000.-- bewertet worden war, dagegen in
der Bilanz vom 18. Mai 1977 nur mit Fr. 1'440'000.-- figurierte.

    Daraus ergibt sich folgendes: Wohl stand es nicht im Einklang mit
der AHV-Ordnung, dass der Beschwerdeführer absichtlich die fraglichen
paritätischen Sozialversicherungsbeiträge der Ausgleichskasse nicht
ablieferte. Doch lassen der Beweggrund und die übrigen Umstände, nämlich
die nicht zum vorneherein aussichtslose Rettung des Betriebes durch
Befriedigung lebenswichtiger Forderungen in der begründeten Meinung, die
geschuldeten Beiträge innert nützlicher Frist später ebenfalls bezahlen zu
können, das fehlerhafte Verhalten des Beschwerdeführers als entschuldbar
erscheinen. Demzufolge ist die Schadenersatzpflicht zu verneinen.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichtes des Kantons Basel-Landschaft vom 21. August
1980 und die Kassenverfügung vom 4. Juli 1979 aufgehoben.