Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 170



108 V 170

37. Auszug aus dem Urteil vom 23. August 1982 i.S. Prerost gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich Regeste

    Art. 137 lit. b OG. Neue erhebliche Tatsachen und entscheidende
Beweismittel.

Sachverhalt

    A.- Mit Verfügung vom 14. Juni 1979 wies die Ausgleichskasse
des Kantons Zürich ein Gesuch des 1947 geborenen Rudolf Prerost um
Kostengutsprache für medizinische Massnahmen der Invalidenversicherung
sowie um Gewährung eines Einerzimmers in der Klinik Z. ab, weil die
medizinischen Vorkehren auf die Behandlung des Leidens an sich und nicht
auf die berufliche Eingliederung gerichtet seien. Im übrigen stehe die
Benützung eines Einzelzimmers vorwiegend im Zusammenhang mit der ärztlichen
Behandlung und nicht mit der Fortsetzung der beruflichen Ausbildung.

    B.- Die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich hiess am 17. Oktober
1980 die vom Versicherten erhobene Beschwerde teilweise gut, hob die
angefochtene Verfügung vom 14. Juni 1979 auf und wies die Ausgleichskasse
an, die Kosten der ab 12. Juni 1978 durchgeführten medizinischen Massnahmen
zu übernehmen. Bezüglich der Gewährung eines Einerzimmers wies sie die
Beschwerde ab.

    C.- Gegen diesen Entscheid führten Rudolf Prerost und das Bundesamt
für Sozialversicherung Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

    Mit Urteil vom 6. Mai 1981 wies das Eidg. Versicherungsgericht die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Rudolf Prerost ab, hob in Gutheissung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für Sozialversicherung
den Entscheid der AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich insoweit auf,
als damit medizinische Massnahmen zugesprochen wurden, und wies das Gesuch
des Rudolf Prerost um unentgeltliche Verbeiständung ab. Das Gericht stützte
sich auf einen Bericht der Neurologischen Klinik X (PD Dr. med. H.) vom
23. Juni 1978, wonach sich die postoperativen Lähmungen der oberen und
unteren Extremitäten langsam zurückbildeten; die Prognose sei indessen
"trotz anfänglicher Fortschritte ungewiss" und liesse sich "noch nicht
deutlicher abschätzen".

    D.- Am 7. Dezember 1981 liess Rudolf Prerost ein
Revisionsgesuch einreichen mit dem Antrag, es sei das Urteil des
Eidg. Versicherungsgerichts vom 6. Mai 1981 insoweit aufzuheben,
als das Gericht die Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für
Sozialversicherung gegen den Entscheid der AHV-Rekurskommission des
Kantons Zürich vom 17. Oktober 1980 gutgeheissen hat, und demgemäss sei
die Ausgleichskasse des Kantons Zürich zu verpflichten, die Kosten der
ab 12. Juni 1978 durchgeführten medizinischen Massnahmen zu übernehmen.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 137 lit. b in Verbindung mit Art. 135 OG ist die
Revision eines Urteils des Eidg. Versicherungsgerichts u.a. zulässig,
wenn der Gesuchsteller nachträglich neue erhebliche Tatsachen erfährt
oder entscheidende Beweismittel auffindet, die er im früheren Verfahren
nicht beibringen konnte.

    Als "neu" gelten Tatsachen, welche sich bis zum Zeitpunkt, da im
Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren,
verwirklicht haben, jedoch dem Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender
Sorgfalt nicht bekannt waren. Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich
sein, d.h. sie müssen geeignet sein, die tatbeständliche Grundlage des
angefochtenen Urteils zu verändern und bei zutreffender rechtlicher
Würdigung zu einer andern Entscheidung zu führen. Beweismittel haben
entweder dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen
Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren
Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des Gesuchstellers unbewiesen
geblieben sind. Sollen bereits vorgebrachte Tatsachen mit den neuen Mitteln
bewiesen werden, so hat der Gesuchsteller auch darzutun, dass er die
Beweismittel im früheren Verfahren nicht beibringen konnte. Entscheidend
ist ein Beweismittel, wenn angenommen werden muss, es hätte zu einem
andern Urteil geführt, falls der Richter im Hauptverfahren hievon Kenntnis
gehabt hätte. Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der
Tatbestandswürdigung, sondern der Tatbestandsermittlung dient. Es genügt
daher beispielsweise nicht, dass ein neues Gutachten den Sachverhalt anders
bewertet; vielmehr bedarf es neuer Elemente tatsächlicher Natur, welche
die Entscheidungsgrundlagen als objektiv mangelhaft erscheinen lassen. Für
die Revision eines Entscheides genügt es nicht, dass der Gutachter aus
den im Zeitpunkt des Haupturteils bekannten Tatsachen nachträglich andere
Schlussfolgerungen zieht als das Gericht. Auch ist ein Revisionsgrund
nicht schon gegeben, wenn das Gericht bereits im Hauptverfahren bekannte
Tatsachen möglicherweise unrichtig gewürdigt hat. Notwendig ist vielmehr,
dass die unrichtige Würdigung erfolgte, weil für den Entscheid wesentliche
Tatsachen nicht bekannt waren oder unbewiesen blieben ...

Erwägung 2

    2.- Zur Begründung des Revisionsgesuches wird im wesentlichen
geltend gemacht, mit dem Bericht vom "23. Juni 1978" habe sich das Eidg.
Versicherungsgericht nicht auf das Schreiben, welches PD Dr. med. H. unter
diesem Datum an den damaligen Vertreter des Revisionsgesuchstellers
(Dr. I.) gerichtet hat, sondern auf die vom gleichen Verfasser stammende,
nicht datierte "Zusammenfassung der Krankengeschichte von Herrn Prerost"
bezogen. Aus der Datierung des an Dr. I. gerichteten Schreibens und
dem fehlenden Datum der "Zusammenfassung der Krankengeschichte" habe
das Eidg. Versicherungsgericht abgeleitet, diese sei im gleichen
Zeitpunkt geschrieben worden und gebe den Beurteilungszustand vom
Juni 1978 wieder. Gleicher Meinung seien der Versicherte und sein
damaliger Rechtsvertreter gewesen. Am 11. September 1981 habe sich der
Gesuchsteller zu Dr. H. - heute Professor an der Neurologischen Klinik X -
begeben und bei dieser Gelegenheit zur Kenntnis nehmen müssen, dass die
"Zusammenfassung" zufolge der von Prof. H. versehentlich unterlassenen
Datierung von allen Verfahrensbeteiligten in einen völlig falschen
zeitlichen Zusammenhang gebracht worden sei. Der Revisionsgesuchsteller
legt im heutigen Verfahren eine Stellungnahme des Prof. H. vom 17. Oktober
1981 auf, worin u.a. folgendes ausgeführt wird:

    "Das Zeugnis - eine Zusammenfassung der Krankengeschichte des

    Patienten -, auf das sich das Eidg. Versicherungsgericht in seinem

    Urteil vom 6. Mai 1981 im wesentlichen stützt, wurde von mir
versehentlich
   nicht datiert. Es wurde nicht, wie im erwähnten Urteil angegeben, am

    23. Juni 1978, - wie aus dem Zeugnis selbst hervorgeht - unmittelbar
   nach der Bestrahlungen (März 1978) ausgestellt, als der neurologische
   des Patienten tatsächlich noch instabil war. Während seines Aufenthaltes
   in der Klinik B. (Januar bis November 1978) ich Herrn P. regelmässig
   neurologisch untersucht. Ein neurologisch stabiler Zustand war im

    Frühjahr 1978 erreicht. Ein genaues Datum wurde in früheren Zeugnissen
   nicht angegeben, weil diese nicht angesprochen wurde. Ausserdem ist es
   in solchen Fällen schwierig, sich prospektiv festzulegen. Rückblickend
   kann nach regelmässigen eigenen neurologischen Kontrolluntersuchungen
   festgehalten werden, dass seit Frühjahr 1978 keine Änderung im
   neurologischen Zustand mehr eingetreten ist ..."

    Aus der Stellungnahme des Prof. H. folgert der Gesuchsteller, die
"Zusammenfassung der Krankengeschichte" sei nicht im Juni, sondern
im März 1978 verfasst worden, weshalb sie den Beurteilungszustand vom
März 1978 und nicht vom Juni 1978 wiedergebe. Die in der Stellungnahme
vertretene Auffassung, wonach ein neurologisch stabiler Zustand im
Frühjahr 1978 erreicht gewesen sei, hätte der Gutachter bereits im Juni
1978 und im Laufe des Beschwerdeverfahrens geäussert, wenn er damals
befragt worden wäre. Diese Befragung sei nur deshalb unterblieben,
weil Prof. H. die Antwort vermeintlich schon erteilt hatte. Aus der
Stellungnahme vom 17. Oktober 1981 müsse jedoch zwingend geschlossen
werden, dass sich der Gutachter bereits damals im soeben erwähnten Sinne
geäussert hätte, weshalb der Argumentation des Eidg. Versicherungsgerichts
insoweit der Boden entzogen gewesen wäre, als sie zur Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde des Bundesamtes für Sozialversicherung
geführt habe. Damit seien die Revisionsvoraussetzungen des Art. 137 lit. b
OG gegeben.

Erwägung 3

    3.- Aufgrund der Ausführungen im Revisionsgesuch und gestützt auf
die damit aufgelegte Stellungnahme des Prof. H. vom 17. Oktober 1981 darf
angenommen werden, dass die "Zusammenfassung der Krankengeschichte", auf
die das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil vom 6. Mai 1981 abgestellt
hat, im März 1978 und nicht am 23. Juni 1978 verfasst wurde. Es fragt
sich, ob diese Tatsache, die im Sinne der Rechtsprechung "neu" ist,
auch als erheblich gelten kann und ob die Ausführungen des Prof. H. ein
entscheidendes Beweismittel darstellen.

    Streitpunkt bildete im Hauptverfahren die Frage, ob der
heutige Gesuchsteller ab 12. Juni 1978 medizinische Massnahmen der
Invalidenversicherung für die stationäre Physiotherapie beanspruchen
konnte, die wegen der Lähmungen notwendig wurde, welche im Anschluss an
die Operation eines Glioblastoms und einer Syringomyelie des Rückenmarks
aufgetreten waren. Im Rahmen des Art. 12 IVG war demnach zunächst die
Frage zu klären, ob das Leiden des Versicherten überhaupt medizinischen
Massnahmen der Invalidenversicherung zugänglich ist, was sich danach
beurteilte, ob im massgebenden Zeitpunkt (12. Juni 1978) die Behandlung des
ursächlichen Gesundheitsschadens als abgeschlossen galt oder untergeordnete
Bedeutung erlangt hatte (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 IVV). Aufgrund der von
PD Dr. H. verfassten, als schlüssig erachteten "Zusammenfassung der
Krankengeschichte", wonach die Prognose trotz anfänglicher Fortschritte
ungewiss sei und sich noch nicht deutlicher abschätzen liesse, stellte das
Eidg. Versicherungsgericht fest, es liege labiles pathologisches Geschehen
vor, weshalb die medizinischen Vorkehren invalidenversicherungsrechtlich
eine Behandlung des Leidens an sich darstellten.

    Die Tatsache, dass die "Zusammenfassung der Krankengeschichte"
bereits vom März 1978 datiert und sich auf diesen Zeitpunkt bezieht,
ist daher wohl erheblich in dem Sinne, dass in dieser Beziehung die
tatbeständliche Grundlage des Urteils vom 6. Mai 1981 unrichtig war. Sie
ist indessen nicht erheblich in dem Sinne, dass sie - in Verbindung mit
der Stellungnahme des Prof. H. vom 17. Oktober 1981 - geeignet ist,
zu einer andern Entscheidung zu führen.

    Prof. H. hält in dieser vom Gesuchsteller als Beweismittel aufgelegten
Stellungnahme fest, dass der neurologische Zustand des Versicherten
im März 1978 tatsächlich noch instabil, im Frühjahr 1978 dagegen ein
neurologisch stabiler Zustand erreicht war und dass - rückblickend -
seither keine Änderung in diesem Zustand mehr eingetreten ist. Es
mag sein, dass Prof. H. damit in zulässiger Weise aufgrund neuer
Elemente tatsächlicher Natur den neurologischen Sachverhalt anders
bewertet. Daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, dass entgegen
der vom Eidg. Versicherungsgericht im Urteil vom 6. Mai 1981 vertretenen
Auffassung im fraglichen Zeitpunkt im Gesundheitszustand des Versicherten
stabile Verhältnisse im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 12 IVG vorgelegen
haben. Einmal erscheint es entgegen der Meinung des Gesuchstellers als
fraglich, ob Prof. H. die in der Stellungnahme vom 17. Oktober 1981
vertretene Ansicht bereits im Juni 1978 auf entsprechende Befragung hin
geäussert hätte, denn laut seinen Ausführungen ist es in Krankheitsfällen
wie dem vorliegenden schwierig, sich prospektiv festzulegen. Zum andern
geht aus den Akten hervor, dass Prof. H. noch am 11. Juni 1981 auf die
Frage der Invalidenversicherungs-Kommission, ab wann das Grundleiden
als ausgeheilt betrachtet werden könne, erklärte, es werde leider nicht
möglich sein, zu einer Ausheilung des Grundleidens zu kommen. Daraus muss
zwingend geschlossen werden, dass im fraglichen Zeitpunkt das Leiden des
Versicherten medizinischen Massnahmen der Invalidenversicherung nicht
zugänglich war. Mit Bezug auf diesen massgeblichen Punkt stellt somit
die Stellungnahme des Prof. H. vom 17. Oktober 1981 kein entscheidendes
Beweismittel dar.

    Die Revisionsvoraussetzungen des Art. 137 lit. b OG sind nicht
gegeben ...

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    Das Revisionsgesuch wird abgewiesen.