Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 158



108 V 158

34. Urteil vom 21. Oktober 1982 i.S. Joulié gegen Schweizerische
Unfallversicherungsanstalt und Versicherungsgericht des Kantons Bern
Regeste

    Art. 68 Abs. 1 KUVG, Art. 1 Verordnung über Berufskrankheiten. Haftung
der SUVA für die vorwiegend durch einen Listenstoff bewirkte
Verschlimmerung einer vorbestandenen Krankheit bejaht (Änderung der
Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- Lorette Joulié litt seit 1966 an asthmoider Bronchitis, die von
1967 hinweg ärztlich behandelt wurde. Am 10. Januar 1972 nahm sie eine
Stelle beim Schweizerischen Serum- und Impfinstitut an, wo sie vorwiegend
mit dem Verpacken und Etikettieren von phenolhaltigen Präparaten
beschäftigt war. In dieser Zeit verschlechterte sich ihr Zustand
zunehmend, indem immer häufiger Asthmaanfälle auftraten, die sich auch
an Intensität verstärkten. Eine im Februar 1976 im Institut für klinische
Immunologie und Allergie der Poliklinik Bern erfolgte Untersuchung führte
zu folgender Feststellung: "In diesem Falle scheinen Medikamentenstaub,
Vaczinen-Aerosol die Hauptrolle zu spielen." Nachdem Lorette Joulié im
Jahre 1977 wegen schwerer Asthmaanfälle hatte hospitalisiert werden müssen,
gab sie Ende August 1977 ihre Stelle beim Serum- und Impfinstitut auf.

    Am 15. September 1977 erfolgte die Unfallanzeige bei der
Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA). Diese holte bei PD
Dr. med. W. ein Gutachten ein. Der Experte verneinte, dass eine allergische
Bronchitis habe nachgewiesen werden können; wahrscheinlich bestehe ein
obstruktiver Bronchialenumbau bei vermehrter Infektanfälligkeit; die
Veränderungen seien wahrscheinlich nicht berufsbedingt. Gestützt darauf
verneinte die SUVA mit Verfügung vom 18. Mai 1978 ihre Leistungspflicht,
weil die Erstickungsanfälle nicht durch die Arbeit im Serum- und
Impfinstitut hervorgerufen worden seien und daher keine Berufskrankheit
vorliege.

    B.- Mit der gegen diese Verfügung erhobenen Beschwerde liess Lorette
Joulié beantragen, die SUVA sei zu verpflichten, ihr rückwirkend auf den
1. September 1977 die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

    Das Versicherungsgericht des Kantons Bern holte bei
Prof. Dr. med. D. ein neues Gutachten ein, auf das, soweit erforderlich,
in den rechtlichen Erwägungen zurückzukommen sein wird.

    Das kantonale Versicherungsgericht ging in seinem Entscheid davon aus,
dass die Versicherte bei ihrer Arbeit im Seruminstitut zwar mit Phenol,
einem in Art. 1 der Verordnung über Berufskrankheiten aufgeführten
Stoff, in Berührung gekommen sei, doch bestehe zwischen dem Phenol und
ihrer Krankheit kein adäquater Kausalzusammenhang, weil die asthmoide
Bronchitis der Versicherten endogener Natur sei. Wohl sei das Asthma
durch das Einatmen phenolhaltiger Stoffe verschlimmert worden, doch
hafte die SUVA nicht, wenn sich eine vorbestandene Krankheit durch einen
Listenstoff bloss verschlimmert habe. Am 9. Dezember 1980 wies das
kantonale Versicherungsgericht die Beschwerde ab.

    C.- Lorette Joulié lässt mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde ihr
vorinstanzlich gestelltes Begehren erneuern.

    Die SUVA trägt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an,
dies im wesentlichen mit der Begründung, welche schon den kantonalen
Richter zur Abweisung der vorinstanzlichen Beschwerde veranlasst hatte.

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 68 Abs. 1 KUVG wird eine Erkrankung einem Betriebsunfall
gleichgestellt und ist als Berufskrankheit Gegenstand der Versicherung,
wenn sie in einem die Versicherung bedingenden Betrieb ausschliesslich oder
vorwiegend infolge Einwirkung eines Stoffes entstanden ist, welcher in dem
in Art. 1 der Verordnung über Berufskrankheiten aufgestellten Verzeichnis
von Giftstoffen figuriert. In diesem Verzeichnis wird u.a. Phenol als
Stoff bezeichnet, dessen Verwendung bestimmte gefährliche Krankheiten
verursachen kann.

    Die Einwirkung eines Listenstoffes muss insofern qualifiziert sein,
als sie eine Ursache darzustellen hat, die alle übrigen Ursachen an
Intensität übertrifft. Dies trifft dann zu, wenn die Bedeutung des
Listenstoffes im Ursachenspektrum einer bestimmten Krankheit vorherrscht,
indem sie mehr als alle andern Mitursachen die Krankheit herbeigeführt
hat. Umgekehrt muss diese besondere ursächliche Wirkung des Listenstoffes
verneint werden, wenn dieser im Vergleich zu andern Mitursachen nur zur
Hälfte oder zu einem noch geringeren Teil die Krankheit bewirkt (MAURER,
Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung,
2. Aufl., S. 129). Beweismässig muss mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
dargetan sein, dass die Krankheit überwiegend durch den Listenstoff
verursacht worden ist. Wenn der Zusammenhang von Gesundheitsschädigung
und vorwiegender Einwirkung eines solchen Stoffes bloss möglich ist,
so ist er eben nicht erwiesen, und es erwächst der SUVA alsdann keine
Leistungspflicht (BGE 103 V 176).

    In EVGE 1943 S. 15 hat das Eidg. Versicherungsgericht entschieden,
dass die blosse Verschlimmerung eines vorbestandenen Leidens durch einen
in Art. 1 der Verordnung über Berufskrankheiten aufgeführten Stoff nicht
genügt, um die Voraussetzungen von Art. 68 KUVG als erfüllt betrachten
zu können, weil das Gesetz ausdrücklich eine Verursachung der Krankheit
verlange. Im nicht publizierten Urteil Wilhelm vom 6. September 1944
hat dann das Gericht die Frage aufgeworfen, aber nicht beantwortet, "ob
überhaupt eine Haftbarkeit der SUVA für die blosse Verschlimmerung einer
nicht versicherten Krankheit durch gewerbliche Gifte besteht". Gerade
der vorliegende Fall zeigt, dass die Rechtsprechung, wonach die blosse
Verschlimmerung eines vorbestandenen Leidens durch einen Listenstoff die
Haftung der SUVA nicht auszulösen vermag, zu unbilligen Ergebnissen
führen kann. Insbesondere darf nicht übersehen werden, dass die
Unfallversicherung wesentlich den Zweck hat, die Arbeitnehmer vor
den wirtschaftlichen Folgen unfall- bzw. berufskrankheitsbedingter
Beeinträchtigungen ihrer Erwerbsfähigkeit zu schützen. Unter diesem
Gesichtspunkt ist es unerheblich, ob eine bestimmte Verminderung der
Erwerbsfähigkeit bei einem bisher Gesunden eintritt oder auf einer
Verschlimmerung eines vorbestandenen Leidens beruht. Die sich daraus
ergebenden wirtschaftlichen Folgen sind für die Betroffenen in beiden
Fällen grundsätzlich die gleichen. Das Gericht gelangt daher zum Schluss,
dass es nicht zu rechtfertigen ist, die ausschliesslich oder vorwiegend
durch die Einwirkung eines Listenstoffes verursachte Verschlimmerung
einer bereits bestehenden Krankheit rechtlich anders zu behandeln als
eine Krankheit, die als solche ausschliesslich oder vorwiegend durch
einen Listenstoff verursacht worden ist.

Erwägung 2

    2.- Es ist zu prüfen, ob zwischen dem im Verzeichnis der Giftstoffe
aufgeführten Phenol, dem die Beschwerdeführerin bei ihrer Tätigkeit
im Seruminstitut ausgesetzt war, und ihrer schweren gesundheitlichen
Beeinträchtigung ein qualifizierter Kausalzusammenhang gegeben ist.

    a) Die Beschwerdeführerin hatte unbestrittenermassen schon mehrere
Jahre vor dem beruflichen Kontakt mit phenolhaltigen Präparaten im
Seruminstitut an asthmoiden Störungen gelitten, die vom Jahre 1967 hinweg
regelmässiger Behandlung, vorwiegend mit Steroiden, bedurften. Von 1974
hinweg verlief das Leiden stark progredient. Als die Beschwerdeführerin
im Sommer 1977 das Seruminstitut verliess, bestanden ein schweres
Emphysem und ein Cor pulmonale, wodurch sie weitgehend invalidisiert
wurde. Ferner steht aufgrund der vorinstanzlichen Zeugenaussagen des
früheren Abteilungsleiters im Seruminstitut fest, dass 3/5 der von
der Beschwerdeführerin konfektionierten Seren und Impfstoffe Phenol
enthielten, das durch Glasbruch des Abfüllgutes entweichen konnte. Solche
Defekte traten jede Woche auf. Der Zeuge vertrat die Ansicht, dass die
während der Arbeit aufgetretenen Atemnotanfälle der Beschwerdeführerin im
Zusammenhang mit defektem Abfüllmaterial aufgetreten seien. Prof. D. führt
in seinem Gerichtsgutachten dazu aus: Es stehe fest, dass die pulmonare
Lage während der Arbeitsperiode im Seruminstitut eine rasche und
wesentliche Verschlechterung erfahren habe, "die auch eindeutig mit
Inhalationen von Substanzen am Arbeitsplatz koinzidierte". Es beständen
aufgrund der Tatsache, dass sich die asthmoide Bronchitis während der
arbeitsfreien Tage besserte und die Asthmaanfälle besonders nach der
Handhabung von zerbrochenem Abfüllgut auftraten, wenig Zweifel, dass
die Beschwerdeführerin während ihrer Arbeit im Seruminstitut Noxen
exponiert gewesen sei, die bei der Aufrechterhaltung und Verursachung
ihrer Bronchialobstruktion eine wesentliche Rolle gespielt hätten Obschon
die Inhalation solcher Substanzen das Grundleiden, nämlich die asthmoide
Bronchitis, die endogener Natur sei, nicht verursacht habe, hätte er,
Prof. D., "wenig Zweifel, dass die 1972 bis 1975 ausgeführte Arbeit einen
wesentlichen Beitrag zur raschen Verschlechterung der Situation geleistet
hat". Die berufliche Exposition habe einen "wesentlichen Schuldanteil an
der heutigen weitgehenden Lungeninvalidität der Patientin". Es sei aufgrund
der Anamnese und der klinischen Entwicklung überwiegend wahrscheinlich,
dass die wiederholten Inhalationen beruflicher Substanzen, eingeschlossen
phenolhaltige Düfte, die bestehende Invalidität wesentlich verursacht
hätten. Bestimmt sei von 1973 bis 1977 die Exponierung gegenüber Noxen
verantwortlich für den Hauptanteil der Beschwerden und für die wiederholte
Auslösung von Asthmaanfällen.

    b) Durch dieses Gutachten ist mit hinreichender Wahrscheinlichkeit
erstellt, dass vorwiegend der jahrelange Kontakt mit Phenol die
schwere Bronchialobstruktion, das Emphysem und das Cor pulmonale der
Beschwerdeführerin beträchtlich verschlimmert hat. Demzufolge hat die
SUVA nach den Darlegungen in Erwägung 1 die gesetzlichen Leistungen
für die durch die Arbeit im Seruminstitut bewirkte Verschlimmerung des
Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin zu gewähren.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Bern vom 9. Dezember 1980 sowie
die SUVA-Verfügung vom 18. Mai 1978 aufgehoben, und es wird die SUVA
verpflichtet, der Beschwerdeführerin im Sinne von Erwägung 2b die
gesetzlichen Leistungen zu erbringen.