Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 150



108 V 150

33. Urteil vom 18. August 1982 i.S. LAGAP SA gegen Bundesamt für
Sozialversicherung und Eidgenössisches Departement des Innern Regeste

    Art. 12 Abs. 6 KUVG, Art. 4 Abs. 3 Vo VIII und Art. 6 Abs. 2 lit. c
Vf 10: Wirtschaftlichkeit von Arzneimitteln (Nachahmerpräparat).

    - Bestätigung der Verwaltungspraxis, wonach ein sog. Nachahmerpräparat
nur als wirtschaftlich gilt, wenn es gegenüber dem vergleichbaren
Originalpräparat um 25% billiger ist. Dieser Ansatz stellt einen
empirischen Durchschnittswert dar, der strikte anzuwenden ist, solange
nicht konkrete Umstände klar nachgewiesen sind, welche sachlich ein
Abweichen davon aufdrängen. (Erw. 3a).

    - Der Preisvorteil eines Originalpräparats ist nicht mehr
gerechtfertigt, wenn ausser Zweifel steht, dass seine Entwicklungs-
und Einführungskosten amortisiert sind (Erw. 3b); der ein
Originalpräparat während seiner Lebensdauer begleitende fachärztliche
bzw. fachwissenschaftliche Service fällt nicht unter die Entwicklungs- und
Einführungskosten im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Vo VIII und Art. 6 Abs. 2
lit. c Vf 10 (Erw. 3b); bei einem seit rund 20 Jahren auf dem Markt
befindlichen Originalpräparat kann noch keine Amortisation angenommen
werden, während bei einem Produkt, das seit rund 60 Jahren verkauft wird,
die fraglichen Kosten mit Sicherheit als abgegolten betrachtet werden
müssen (Erw. 3c).

    - Hat das Originalpräparat nach Ablauf des Preisvorteils seinen Preis
zu senken oder kann für das Nachahmerpräparat ein Preis verlangt werden,
der dem bisherigen des Originalpräparats entspricht (Erw. 4)?

Sachverhalt

    A.- Die Firma LAGAP SA ersuchte im Dezember 1978 um Aufnahme des
Präparates LAGALGIN Compr. in die Spezialitätenliste. Das Präparat ist als
Analgetikum und Antipyretikum indiziert und wurde im September 1969 bei der
IKS registriert. Als Publikumspreise nannte die Firma Fr. 2.10 (Packung
zu 10 Tabletten) und Fr. 4.05 (Packung zu 20 Tabletten), doch setzte sie
den Preis für die grössere Packung im April 1979 auf Fr. 3.70 herab.

    Mit Verfügung vom 22. November 1979 lehnte das Bundesamt für
Sozialversicherung das Aufnahmegesuch ab, da das Nachahmerpräparat
LAGALGIN im Vergleich zum Originalpräparat N. Compr. zu teuer und damit
unwirtschaftlich sei.

    B.- Gegen diese Verfügung reichte die Firma Beschwerde ein mit dem
Antrag, es sei ihr Präparat in die Spezialitätenliste aufzunehmen. Nach
Einholen einer gutachtlichen Meinungsäusserung der Eidgenössischen
Arzneimittelkommission (EAK) durch das Bundesamt für Sozialversicherung
sowie Schriftenwechsel wies das Eidgenössische Departement des Innern
(EDI) die Beschwerde mit Entscheid vom 21. November 1980 ab.

    C.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die Firma
beantragen, es sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und LAGALGIN
Compr. in die Spezialitätenliste aufzunehmen. Auf die Begründung wird,
soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.

    Das EDI hält daran fest, dass LAGALGIN Compr. unwirtschaftlich sei ...

Auszug aus den Erwägungen:

       Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, Kognition:
vgl. BGE 108 V 132 Erw. 1.)

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 12 Abs. 6 KUVG bezeichnet der Bundesrat nach Anhören der
von ihm bestellten EAK die Arzneimittel, die nicht als Pflichtleistung
gelten, deren Übernahme jedoch den Krankenkassen empfohlen wird. Die
Empfehlung erfolgt in Form einer vom Bundesamt für Sozialversicherung
herausgegebenen Spezialitätenliste (Art. 3 Vo VIII). Nach Art. 4 Abs. 1 Vo
VIII sind für die Aufnahme eines Arzneimittels massgebend das medizinische
Bedürfnis (lit. a), die Zweckmässigkeit und Zuverlässigkeit in bezug
auf Wirkung und Zusammensetzung (lit. b) sowie die Wirtschaftlichkeit
(lit. c). Dabei sind die im Preise eines Originalpräparates enthaltenen
Kosten für Forschungsarbeiten, klinische Prüfung und Ersteinführung auf dem
Inlandmarkt im Rahmen der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit angemessen zu
berücksichtigen (Abs. 3). Ferner bestimmt Abs. 6 des genannten Artikels,
dass das EDI nach Anhören der EAK das Nähere über die Aufnahmebedingungen
ordnet. Dies ist durch Verfügung 10 des EDI über die Krankenversicherung
betreffend die Aufnahme von Arzneimitteln in die Spezialitätenliste vom
19. November 1968 geschehen.

    Art. 6 Abs. 1 der Departementsverfügung umschreibt den Begriff der
Wirtschaftlichkeit dahin, ein Arzneimittel gelte als wirtschaftlich, wenn
es die indizierte Heilwirkung mit möglichst geringem finanziellem Aufwand
gewährleiste. Nach Abs. 2 der Bestimmung fallen für die Beurteilung der
Wirtschaftlichkeit eines Arzneimittels in Betracht:

    a) dessen Wirksamkeit im Verhältnis zu andern Arzneimitteln gleicher
Indikation oder ähnlicher Wirkungsweise;

    b) die Kosten pro Tag oder Kur im Verhältnis zu den Kosten von
Arzneimitteln gleicher Indikation oder ähnlicher Wirkungsweise;

    c) die Kosten für Forschungsarbeiten, klinische Prüfung und
Ersteinführung auf dem Inlandmarkt bei einem Originalpräparat;
   d) die Preisgestaltung im In- und Ausland.

    Das Eidg. Versicherungsgericht hat diese Bestimmungen in ständiger
Rechtsprechung als gesetzeskonform betrachtet und angewendet (BGE 105
V 189 Erw. 2 mit Hinweisen; nicht veröffentlichtes Urteil A. AG vom
21. Juni 1982).

Erwägung 3

    3.- Zu prüfen ist vorliegend nur die Wirtschaftlichkeit von LAGALGIN
in der Tablettenform. Unbestrittenermassen handelt es sich dabei um ein
sogenanntes Nachahmerpräparat. Auch wird von der Beschwerdeführerin
grundsätzlich anerkannt, dass bei Originalpräparaten die in Art. 4
Abs. 3 Vo VIII und Art. 6 Abs. 2 lit. c Verfügung 10 erwähnten Kosten
abzugelten sind, weshalb zwischen Original- und Nachahmerpräparaten ein
Preisunterschied bestehen muss und letztere nur dann als wirtschaftlich
betrachtet werden können, wenn sie billiger sind als die vergleichbaren
Originalpräparate.

    Dagegen ist streitig, ob das Bundesamt für Sozialversicherung und die
Vorinstanz die Wirtschaftlichkeit von LAGALGIN Compr. zu Recht verneinten,
weil es in der 10er-Packung bei einem Preis von Fr. 2.10 gegenüber dem
Fr. 2.25 (ebenfalls 10er-Packung; eine 20er-Packung ist nicht im Handel)
bloss um 6,7% oder - wenn der seit 15. September 1980 gültige Preis von
N. (Fr. 2.40) in Betracht gezogen wird - um 12,5% billiger sei.

    a) Wie zuvor erwähnt, werden bei der Beurteilung der Wirtschaftlichkeit
von Originalpräparaten u.a. die Kosten für Forschungsarbeiten, klinische
Prüfung und Ersteinführung auf dem Inlandmarkt berücksichtigt (Art. 4
Abs. 3 Vo VIII und Art. 6 Abs. 2 lit. c Verfügung 10). Aus diesem Grund
verlangt das Bundesamt für Sozialversicherung - wie im vorinstanzlichen
Entscheid dargelegt - seit jeher einen Preisunterschied zwischen
Original- und Nachahmerpräparaten, damit die Wirtschaftlichkeit von
Nachahmerpräparaten, bei welchen solche Kosten grundsätzlich nicht
anfallen, bejaht werden kann. Dieser Unterschied wurde an der Sitzung
des Ausschusses der EAK für Grundsatzfragen vom 9. Februar 1978 auf "in
der Regel 25% mit Abweichungen in Ausnahmefällen" festgelegt. Anlässlich
der Sitzung vom 22. Februar 1979 bestätigte das nämliche Gremium diesen
Ansatz, beschloss darüber hinaus aber im Sinne einer Verschärfung
der Verwaltungspraxis, die 25%-Regel künftig strikt anzuwenden und
Ausnahmen davon bloss noch vereinzelt und beim Vorliegen ganz besonderer
Umstände zuzulassen. Der Ansatz von 25% stellt dabei einen empirischen
Durchschnittswert dar, da sich die tatsächlichen Entwicklungs- und
Einführungskosten eines bestimmten Originalpräparates - wenn überhaupt -
nur durch langwierige und kostspielige Untersuchungen ermitteln liessen,
was nicht bloss unverhältnismässig, sondern auch unpraktikabel wäre. Wie
das Eidg. Versicherungsgericht im bereits erwähnten Urteil A. AG vom
21. Juni 1982 entschieden hat, kann nicht beanstandet werden, dass die
Verwaltung sich in der Praxis an diese Regel hält und sie strikt anwendet,
solange nicht konkrete Umstände klar nachgewiesen sind, welche sachlich
ein Abweichen davon aufdrängen.

    b) Gegen die Anwendung der 25%-Regel wendet die Beschwerdeführerin
im wesentlichen ein, bei einem seit 1921 auf dem Markt befindlichen
Originalpräparat wie N. dürften keine Forschungs- und Einführungskosten
mehr berücksichtigt werden, da diese längst amortisiert seien.

    In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass die Entwicklung
und Einführung von Originalpräparaten im allgemeinen sehr hohe Kosten
verursacht und dass diesem Umstand unter dem Gesichtspunkt der Art. 4
Abs. 3 Vo VIII und Art. 6 Abs. 2 lit. c Verfügung 10 während langer Zeit
Rechnung zu tragen ist. Dies kann indessen nicht ohne jede zeitliche
Begrenzung geschehen. Steht ausser Zweifel, dass diese Kosten amortisiert
sind, so ist die Anwendung der 25%-Regel bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung
eines Nachahmerpräparates nicht mehr gerechtfertigt. Andernfalls
würde dem Hersteller des Originalpräparates ein sachlich nicht mehr
begründeter Preisvorteil zugestanden, worin mit Bezug auf den Hersteller
des Nachahmerpräparates eine nicht zulässige rechtsungleiche Behandlung
zu erblicken wäre (Urteil A. AG vom 21. Juni 1982).

    Allerdings führt die Vorinstanz in ihrem Entscheid aus, anlässlich
eines am 22. Februar 1979 von der EAK mit Vertretern der chemischen
Industrie durchgeführten Hearings sei namentlich festgestellt worden,
"dass die Forschungs- und übrigen Arbeiten mit der Herausgabe eines
Originalproduktes nicht enden. Ein spezifischer fachärztlicher
bzw. fachwissenschaftlicher "Service" bleibt grundsätzlich für die
gesamte Lebensdauer eines Originalpräparates bestehen, und zwar über
den Ablauf des Patentschutzes hinaus." Ein solcher Service fällt
jedoch zweifellos nicht unter die Entwicklungs- und Einführungskosten,
betrifft er doch die Zeit nach Entwicklung und Ersteinführung eines
Präparates und geht mithin über die Gesichtspunkte hinaus, welche für die
Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von Originalpräparaten im Sinne von
Art. 4 Abs. 3 Vo VIII und Art. 6 Abs. 2 lit. c Verfügung 10 zu beachten
sind. Der ein Originalpräparat begleitende Service bietet deshalb nicht
Anlass dazu, diesem Produkt einen zeitlich unbegrenzten Preisvorteil
zuzugestehen. Im übrigen können die im Rahmen eines solchen Service
anfallenden (Weiter-)Entwicklungskosten, die gegebenenfalls zu neuen
Wirkstoffen bzw. Wirkstoffkombinationen und zu neuen Originalpräparaten
führen, bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung dieser neuen Produkte
als Forschungskosten berücksichtigt werden. Dass die Forschungs- und
Entwicklungskosten eines Originalpräparateherstellers nicht einzelnen
Produkten zugeordnet werden können, sondern zu den Gemeinkosten gehören,
welche vom Erlös sämtlicher Präparate zu tragen sind, ist ebenfalls kein
Umstand, der einen zeitlich unbegrenzten Preisvorteil eines einzelnen
Originalpräparates rechtfertigt. Auch im Rahmen einer solchen Mischrechnung
muss die Bevorzugung eines Originalpräparates einmal ihr Ende finden.

    c) Im Urteil A. AG vom 21. Juni 1982 hat das Eidg. Versicherungsgericht
entschieden, dass bei einem seit rund 20 Jahren auf dem Markt befindlichen
Originalpräparat weiterhin ein Preisvorteil für Entwicklungs- und
Einführungskosten anzuerkennen und die 25%-Regel auf Nachahmerpräparate
anzuwenden ist. Im vorliegenden Fall verhält es sich insofern wesentlich
anders, als das Originalpräparat N. nach der unbestritten gebliebenen
Darstellung der Beschwerdeführerin bereits seit rund 60 Jahren
verkauft wird. Nach allgemeiner Erfahrung müssen die Entwicklungs-
und Einführungskosten dieses Präparates jedenfalls nach einer derart
langen Zeit mit Sicherheit als abgegolten betrachtet werden, weshalb
dem Originalpräparat kein Preisvorteil mehr einzuräumen ist und die
25%-Regel somit bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung des Produktes der
Beschwerdeführerin nicht berücksichtigt werden darf. LAGALGIN Compr. ist
daher zum Preis von Fr. 2.10 (10er-Packung) bzw. Fr. 3.70 (20er-Packung)
in die Spezialitätenliste aufzunehmen.

Erwägung 4

    4.- Ferner führt die Beschwerdeführerin in ihrer
Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus, dass eigentlich bei N. eine
Preisanpassung nach unten zu erfolgen hätte, nachdem die Forschungskosten
längst amortisiert seien. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist
jedoch allein die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit von LAGALGIN Compr.,
weshalb das Eidg. Versicherungsgericht über die Preisgestaltung beim
Präparat N. nicht zu befinden hat. Immerhin mag in diesem Zusammenhang aber
grundsätzlich festgehalten werden, dass es sich angesichts der vorherigen
Darlegungen mit dem Gleichbehandlungsgebot nicht vereinbaren liesse,
wenn ein Originalpräparat, das den Preisvorteil nicht mehr für sich
beanspruchen kann, weiterhin zum bisherigen, wesentlich höheren Preis in
der Spezialitätenliste verbliebe. Anderseits wäre es im Hinblick auf das
Wirtschaftlichkeitsgebot nicht gerechtfertigt, einem Nachahmerpräparat, auf
welches nach den Ausführungen in Erwägung 3b hiervor die 25%-Regel nicht
(mehr) anzuwenden ist, einen Preis zuzubilligen, der dem bisherigen des
Originalpräparates entspricht, würde damit doch der dem Originalpräparat
seinerzeit eingeräumte Preisvorteil auf das Nachahmerpräparat übertragen,
obwohl bei diesem keine Kosten im Sinne von Art. 4 Abs. 3 Vo VIII und
Art. 6 Abs. 2 lit. c Verfügung 10 zu berücksichtigen sind.

Entscheid:

        Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

    In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden
der Entscheid des EDI vom 21. November 1980 und die bundesamtliche
Verfügung vom 22. November 1979 aufgehoben, und es wird das Bundesamt für
Sozialversicherung verpflichtet, LAGALGIN Compr. im Sinne der Erwägung
3c in die Spezialitätenliste aufzunehmen.