Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 V 1



108 V 1

1. Auszug aus dem Urteil vom 29. Januar 1982 i.S. Jina gegen
Ausgleichskasse des Kantons Zürich und AHV-Rekurskommission des Kantons
Zürich Regeste

    Art. 22ter, 25 Abs. 2 und 26 Abs. 2 AHVG.

    - Die in BGE 106 V 198 begründete Rechtsprechung, wonach der Anspruch
auf die Waisenrente mit der Heirat der Waisen nicht erlischt, gilt auch
für das in Ausbildung stehende Kind, das sich verheiratet (E. 1).

    - Vom 1. Januar 1981 an besteht dieser Anspruch für verheiratete
Waisen und Kinder grundsätzlich unter den gleichen Voraussetzungen wie
für ledige. Für die Zeit vor dem 1. Januar 1981 besteht - im Rahmen der
Art. 46 Abs. 1 AHVG bzw. Art. 48 Abs. 2 IVG - ein Leistungsanspruch
in den vor diesem Zeitpunkt eingetretenen, bei einer Beschwerdeinstanz
anhängigen und noch nicht rechtskräftig beurteilten Rentenfällen (E. 2a).

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Versicherte, denen eine Altersrente zusteht, haben gemäss
Art. 22ter Abs. 1 AHVG für jedes Kind, das im Fall ihres Todes eine
Waisenrente beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente. Dieser
Anspruch besteht - in sinngemässer Anwendung des Art. 25 Abs. 2 AHVG -
für Kinder, die in Ausbildung begriffen sind, auch nach Vollendung des
18. Altersjahres, und zwar bis zum Abschluss ihrer Ausbildung, längstens
jedoch bis zum vollendeten 25. Altersjahr.

    Nach der früheren Rechtsprechung hörte der Anspruch auf Kinder-
oder Waisenrente mit Ablauf des Monats auf, in welchem das Kind bzw. die
Waise sich verheiratete, selbst wenn die Ausbildung nach der Verheiratung
fortgesetzt wurde (EVGE 1965 S. 22, ZAK 1975 S. 523). Dieser zunächst
auf den Waisenrentenanspruch einer in Ausbildung stehenden Tochter
angewandte Grundsatz wurde in BGE 97 V 178 auch auf männliche Bezüger
einer Waisenrente anwendbar erklärt.

    Im Urteil Pella vom 23. Dezember 1980 (BGE 106 V 198) hat das Eidg.
Versicherungsgericht diese Praxis in dem Sinne geändert, dass im Hinblick
auf den Anspruch auf Waisenrente die Verheiratung keinen Erlöschensgrund
mehr darstellt. Das Gericht ging dabei von der Feststellung aus, dass heute
Eheschliessungen unter Studenten, insbesondere auch von Studierenden aus
wenig bemittelten Kreisen, keine Seltenheit mehr sind. Für diese Personen
kann die Führung eines gemeinsamen Haushaltes eine beachtliche Einsparung
bedeuten. Dieser Entwicklung hat der Gesetzgeber in dem seit 1. Januar
1978 geltenden Art. 277 Abs. 2 ZGB Rechnung getragen, indem er die Eltern
verpflichtete, für den Unterhalt des Kindes auch nach der Erreichung der
Mündigkeit aufzukommen, wenn das Kind sich noch in Ausbildung befindet. Da
der eigentliche Grund des Anspruchs auf Leistungen für Kinder in der
elterlichen Unterhaltspflicht besteht, wäre es schwer verständlich,
weshalb die Waisen- und Kinderrenten bei der Verehelichung der Kinder
dahinfallen sollten. Dazu kommt, dass die bisherige Rechtsprechung jene
Waisen begünstigte, die auf eine Eheschliessung verzichteten und in freier
Gemeinschaft mit einem Partner zusammenlebten. Weil nach der gesetzlichen
Ordnung der Anspruch auf Kinderrente gleich geregelt ist wie der Anspruch
des Kindes auf Waisenrente (vgl. Art. 22ter Abs. 1 AHVG), ist die für in
Ausbildung begriffene, verheiratete Waisen geänderte Praxis auch anzuwenden
auf Kinderrenten. Demnach besteht für verheiratete oder geschiedene Waisen
und Kinder grundsätzlich unter den gleichen Voraussetzungen wie für ledige
Anspruch auf Waisen- oder Kinderrenten.

Erwägung 2

    2.- ... a) Aufgrund der Änderung der Rechtsprechung in BGE 106 V
198 hat das Bundesamt für Sozialversicherung am 19. Februar 1981 das
Kreisschreiben betreffend "Anspruch auf Waisen- bzw. Kinderrenten für
verheiratete Waisen und Kinder" erlassen. In den Übergangsbestimmungen
dieses Kreisschreibens wird u.a. festgelegt, dass die Waisen- und
Kinderrenten vom 1. Januar 1981 an ausgerichtet werden können, wenn die
Renten "vor dem 1. Januar 1981 infolge Heirat erloschen" sind "bzw. nicht
entstehen konnten, weil zwar alle übrigen Anspruchsvoraussetzungen
erfüllt waren, die Waise oder das Kind jedoch im massgebenden Zeitpunkt
verheiratet war".

    Es stellt sich indessen die Frage, ob die Renten nicht auch für die
Zeit vor dem 1. Januar 1981 auszurichten sind, wenn ein Leistungsbegehren
- wie im vorliegenden Fall - zur Zeit der Praxisänderung bei einer
Beschwerdeinstanz hängig und noch nicht rechtskräftig erledigt ist. Wie das
Bundesamt in seiner ergänzenden Stellungnahme mit Recht darlegt, ist das
Kreisschreiben vom 19. Februar 1981 in diesen Fällen nicht anwendbar. Das
Gesamtgericht hat beschlossen, dass die neue Rechtsprechung auch für die
bereits vor dem Zeitpunkt der Praxisänderung eingetretenen, noch nicht
rechtskräftig beurteilten Rentenfälle gilt. In diesen Fällen steht es der
zuständigen Beschwerdeinstanz frei, die Renten nicht erst ab 1. Januar
1981, sondern - im Rahmen der Art. 46 Abs. 1 AHVG bzw. Art. 48 Abs. 2 IVG -
auch rückwirkend über den 1. Januar 1981 hinaus zu gewähren. Dies steht
mit der bisherigen Rechtsprechung in Einklang, wonach eine neue Praxis
grundsätzlich auf die im Zeitpunkt der Änderung noch nicht erledigten
sowie auf künftige Fälle anwendbar ist (BGE 100 V 25, EVGE 1969 S. 92 mit
Hinweisen; vgl. auch IMBODEN/RHINOW, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung,
1976, S. 274 und 479).