Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IV 99



108 IV 99

25. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. November 1982 i.S. M.
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Bern (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 113 StGB; Totschlag. Entschuldbarkeit der heftigen Gemütsbewegung.

Sachverhalt

    A.- Am 20. Oktober 1980 musste der fünf Monate alte Enkel von M. wegen
schwerer Schädel- und anderen Verletzungen in die Kinderklinik des
Inselspitals Bern eingeliefert und sofort operiert werden. Ursache der
Verletzungen waren Misshandlungen durch den Vater des Kindes R., der
noch am gleichen Tag festgenommen wurde und bis zum 18. November 1980 in
Untersuchungshaft blieb.

    M. war über das Verhalten seines Schwiegersohnes, der die Tochter
(seine Ehefrau) geschlagen und das Kleinkind brutal misshandelt hatte,
sehr erbost. In der Familie wurde zunächst eine Scheidung der Ehe
R.-M. erwogen. Nach der Haftentlassung von R. kam es zu verschiedenen
Aussprachen zwischen den Beteiligten; die Situation beruhigte sich etwas,
und die Tochter entschloss sich, zu ihrem Ehemann zurückzukehren.

    Am Montag, den 1. Dezember 1980, wollte M. einmal unter vier Augen
mit seinem Schwiegersohn über das Vorgefallene, die Gründe seines
Verhaltens und über die Zukunft sprechen. Er begab sich zu diesem Zweck
nach Langenthal, weil er wusste, dass R. sich jeweils am Montag auf dem
dortigen Polizeiposten zu melden hatte. Für diese Fahrt nach Langenthal
steckte M. seine geladene Pistole in den Hosenbund. Angeblich kam ihm
die Waffe beim Hervornehmen frischer Unterwäsche in die Hände; er habe
sie dann zu seiner Verteidigung mitgenommen, weil er den Schwiegersohn
als Irren (un pazzo) betrachtete.

    In Langenthal traf er um ca. 16.45 Uhr seine beiden Schwiegersöhne
R. und S. Sie fuhren im Wagen von R. zunächst nach Lotzwil in die Wohnung
von R. und wieder nach Langenthal, wo sich S. bei seinen Eltern absetzen
liess. Darauf waren R. und M. allein im Fahrzeug. Auf der Fahrt von
Langenthal gegen Herzogenbuchsee begann M. die beabsichtigte grundsätzliche
Aussprache. Auf die Fragen nach den Gründen seines Verhaltens reagierte
R. unwillig und gereizt. Nach der Schilderung von M., die von der
Vorinstanz als zutreffend angenommen wird, hat R. ihm erwidert, die
ganze Angelegenheit gehe ihn - den Schwiegervater - nichts an, das sei
eine Sache zwischen seiner Ehefrau und ihm, diese Fragerei gehe ihm auf
die Nerven ("tu mi rompi i coglioni"). R. soll M. auch vorgehalten
haben, er interessiere sich für den Enkel nur, weil er selber dessen
leiblicher Vater sei. Während dieser offenbar immer heftiger werdenden
Auseinandersetzung hielt R. auf einem Ausstellplatz ca. 5 km ausserhalb
von Langenthal an und forderte M. mit einem Stoss in die linke Seite auf,
den Wagen zu verlassen. In diesem Moment griff M. zur Pistole, entsicherte
sie und gab aus nächster Nähe auf seinen Schwiegersohn zwei Schüsse ab,
die den Tod zur Folge hatten.

    Nach der Schussabgabe stieg M. aus, marschierte Richtung Bützberg
und suchte eine sofortige Fahrgelegenheit nach Langenthal. Dort begab
er sich zum Pfarrer der Missione Cattolica Italiana, gestand die Tat und
veranlasste die Meldung an die Polizei.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Im Urteil des Geschwornengerichts wird mit einlässlicher Begründung
festgestellt, dass M. die Pistole nicht in der Absicht mitführte,
seinen Schwiegersohn zu töten, und dass er nicht aus Angst vor seinem
Gesprächspartner zur Waffe griff, sondern als Folge eines eigentlichen
Wutausbruches ausser sich geriet und ohne vernünftiges Abwägen von Für
und Wider in einer heftigen Gemütsbewegung die beiden verhängnisvollen
Schüsse abgab. Die Wut als Reaktion auf die Äusserungen und das Verhalten
seines Gesprächspartners führten zur plötzlichen Entladung gestauter
Affekte und zu einer nur aus der ganzen Situation heraus erklärbaren,
persönlichkeitsfremden Tötungshandlung. Von diesen überzeugenden und
im übrigen in diesem Verfahren nicht zu überprüfenden tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz ist auszugehen: Die zu beurteilende
Tötungshandlung war die unmittelbare Folge einer überaus heftigen
Gemütsbewegung.

Erwägung 3

    3.- Nach der Auffassung des Geschwornengerichts war die für das
Delikt kausale heftige Gemütsbewegung aber nach den Umständen nicht
entschuldbar. Aus diesem Grunde hat die Vorinstanz die Bestrafung nicht
gemäss Art. 113 StGB sondern gemäss Art. 111 vorgenommen. Zu prüfen bleibt
somit ausschliesslich die Frage der Entschuldbarkeit.

    a) Vorweg ist dabei festzuhalten, dass sich die Voraussetzung der
Entschuldbarkeit nicht auf die Tat als solche bezieht, sondern auf die
sie auslösende heftige Gemütsbewegung (BGE 81 IV 150, WALDER, in ZStR 1965
S. 36; vgl. auch BGE 107 IV 106). Totschlag ist nicht eine entschuldbare,
sondern eine wegen der gesamten Umstände milder zu bestrafende Tat,
wobei das Strafmaximum von 10 Jahren Zuchthaus deutlich zeigt, dass
auch Handlungen mit erheblichem Schuldgehalt unter diese privilegierende
Strafnorm fallen können, sofern nur die kausale heftige Gemütsbewegung
nach objektiven Massstäben entschuldbar ist. Einzelne Ausführungen im
angefochtenen Urteil lassen vermuten, dass die Vorinstanz das Element
der Entschuldbarkeit unrichtigerweise auch auf die Tötung selber bezog,
so etwa wenn gesagt wird, es sei zu prüfen, ob die Tötung aus einer
Konfliktsituation heraus erfolgte, die auch einen rechtsgetreu Gesinnten
zu einer gewaltsamen Lösung gedrängt hätte, oder wenn es heisst, es
erscheine fraglich, ob die Umstände (Äusserungen des Opfers) eine Tötung
als situationsadäquat erscheinen liessen.

    b) Die Entschuldbarkeit des Affekts als privilegierendes
Tatbestandsmerkmal ist nach allgemein ethischen Gesichtspunkten zu
beurteilen. Entschuldbarkeit setzt voraus, dass die heftige Gemütsbewegung
nicht nur psychologisch erklärbar, sondern bei objektiver Bewertung
nach den sie auslösenden Umständen gerechtfertigt ist; die Tötung muss
dadurch bei ethischer Beurteilung in einem milderen Licht erscheinen
(BGE 107 IV 106, 100 IV 151, 82 IV 88, WALDER, aaO, S. 37 f.). Abnorme
Elemente in der Persönlichkeit des Täters (wie besondere Erregbarkeit,
krankhafte Eifersucht) vermögen die Entschuldbarkeit der Gemütsbewegung
nicht zu begründen, sondern sind allenfalls bei der Bemessung der konkreten
Tatschuld zu berücksichtigen. Eine heftige Gemütsbewegung ist im Sinne
von Art. 113 StGB entschuldbar, wenn sie in Anbetracht der gesamten
äussern Umstände als menschlich verständlich erscheint, d.h. es muss
angenommen werden können, auch ein anderer, an sich anständig Gesinnter,
wäre in der betreffenden Situation leicht in einen solchen Affekt geraten
(BGE 107 IV 106, WALDER, aaO).

    c) Die Anwendung dieser Kriterien auf den hier zu beurteilenden
Sachverhalt führt zum Schluss, dass die heftige Gemütsbewegung, welche
die Tötungshandlung auslöste, nach allgemein ethischen Gesichtspunkten
entschuldbar war: Den Hintergrund der Tat bildet die schwerwiegende
Konfliktsituation, welche R. durch die lebensbedrohende Misshandlung des
Kindes und durch Tätlichkeiten gegenüber seiner Frau verursacht hatte. Dass
in der Zwischenzeit äusserlich eine gewisse Beruhigung eingetreten war
und der Beschwerdeführer selber sich bemühte, die durch die Vorfälle
gefährdete Ehe seiner Tochter zu retten, ist ihm nicht zur Last zu
legen und spricht nicht gegen die Entschuldbarkeit seines Affektes. Der
Wunsch des Beschwerdeführers, einmal mit dem Schwiegersohn R. unter vier
Augen zu sprechen, ist verständlich und kann ihm nicht als schuldhaftes
Herbeiführen einer akuten Konfliktsituation vorgeworfen werden. Es ging dem
Beschwerdeführer nach den Feststellungen der Vorinstanz um die Bereinigung
der von R. geschaffenen, auch nach der relativen Beruhigung immer noch
problembelasteten Lage. Damit nahm er wohl das Risiko einer unangenehmen
Auseinandersetzung in Kauf, aber er musste nicht mit der taktlosen, ihn
aufs schwerste kränkenden und provozierenden Reaktion rechnen, die dann
nach den von der Vorinstanz als glaubhaft erachteten Aussagen von M.
effektiv von Seiten seines Schwiegersohnes erfolgte.

    Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass R. für den Beschwerdeführer
der schuldige Verursacher einer schweren Krise in der Familie seiner
Tochter war und das geliebte Enkelkind in brutaler Weise lebensbedrohend
misshandelt hatte, lässt sich nicht bezweifeln, dass auch ein anderer
rechtsgetreu gesinnter Mann von Wut und heftiger Erregung gepackt worden
wäre, wenn der fehlbare Schwiegersohn jedes Zeichen von Einsicht, Reue
oder auch nur Bereitschaft zu vernünftiger Aussprache unterlassen und
überdies den Schwiegervater auf offener Strecke zum Aussteigen aufgefordert
hätte. Die eigentliche Entladung des verhängnisvollen Affektes, der sich
in den vorangehenden Wochen aufgestaut hatte, löste schliesslich der
zutiefst verletzende Vorwurf aus, der Beschwerdeführer sei selber der
leibliche Vater des misshandelten Kindes. Hält man sich die Kette der von
der Vorinstanz als erwiesen betrachteten Umstände - von der Entdeckung
der Kindsmisshandlung bis zum Vorwurf blutschänderischer Vaterschaft - vor
Augen, dann erscheint die der Tat zugrundeliegende heftige Gemütsbewegung
im Sinne von Art. 113 StGB als entschuldbar. Indem die Vorinstanz annahm,
weil der Beschwerdeführer selber die Initiative zur Aussprache im Auto
ergriffen habe, sei die Entschuldbarkeit zu verneinen, hat sie das
Strafgesetzbuch nicht sinngemäss ausgelegt.

    Auch das Mitführen einer Schusswaffe, das dem Beschwerdeführer
als Schuldfaktor zur Last zu legen ist, hebt nach den tatsächlichen
Feststellungen die Entschuldbarkeit der für die Tat letztlich
kausalen heftigen Gemütsbewegung nicht auf. M. hat offenbar bereits
vorher wiederholt die Waffe mitgenommen, um seine Selbstsicherheit
zu stärken. Dass das Mitführen der Pistole nicht als Beweis für einen
von vornherein gefassten Tötungsvorsatz zu betrachten ist, hielt das
Geschwornengericht klar fest. Indem er eine geladene Waffe auf sich trug,
hat der Beschwerdeführer zwar eine wesentliche objektive Voraussetzung
für den verhängnisvollen Ablauf des Geschehens geschaffen, aber dieser
Tatanteil tangiert die Frage der Entschuldbarkeit des Affektes nicht,
sondern ist bei der Strafzumessung zu berücksichtigen.