Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IV 191



108 IV 191

48. Urteil des Kassationshofes vom 9. Dezember 1982 i.S. B. gegen
Statthalteramt des Bezirkes Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 36 Abs. 3 SVG; Art. 14 Abs. 1 VRV; Art. 75 Abs. 1 SSV;
Wartepflicht bei Haltelinien.

    Sind vor einer Lichtsignalanlage zwei Haltelinien markiert - die
eine vor, die andere nach einer jener Anlage vorgelagerten Verzweigung
-, so hat der Längsverkehr schon vor der ersten Haltelinie zu warten,
bis das Signal die Durchfahrt erlaubt.

Sachverhalt

    A.- Am Nachmittag des 1. Mai 1980 lenkte B. (1) seinen Personenwagen
in Weiningen auf der Zürcherstrasse gegen deren Einmündung in die
Regensdorferstrasse. Er fuhr in diese Strasse ein in der Absicht, sie kurz
danach links zu queren, um in die Bachstrasse zu gelangen. Bevor er dieses
Vorhaben ausführen konnte, stiess er noch auf der Regensdorferstrasse
mit dem von M. (2) gesteuerten Personenwagen zusammen, der auf der
letztgenannten Strasse aus der Gegenrichtung gekommen war, um die Fahrt
geradeaus fortzusetzen. M. war dabei rechts an einer Fahrzeugkolonne
(3) vorbeigefahren, die bei einem vor der rechtsseitigen Einmündung der
Bachstrasse angebrachten Haltebalken (4) nahe der Mittellinie angehalten
hatte, weil Lichtsignale (5) jenseits der Verzweigung, vor denen ein
zweiter Haltebalken (6) markiert ist, auf Rot standen.

    B.- Am 10. Dezember 1981 büsste der Einzelrichter in Strafsachen des
Bezirkes Zürich B. wegen Übertretung von Art. 36 Abs. 3 SVG und Art. 14
Abs. 1 VRV mit Fr. 70.--. Er legte diesem zur Last, beim Linksabbiegen
das Vortrittsrecht von M. missachtet zu haben.

    Das Obergericht des Kantons Zürich wies am 9. September 1982 eine
von B. gegen das erstinstanzliche Urteil eingereichte Beschwerde ab.

    C.- B. führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, der Beschluss des
Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zu seiner Freisprechung an
die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer anerkennt, dass gemäss Art. 36 Abs.  3 SVG
der Linksabbieger verpflichtet ist, dem Gegenverkehr den Vortritt zu
lassen, und dass dieses Gebot auch dort besteht, wo sich der Gegenverkehr
in zwei oder mehreren Fahrspuren bewegt, so dass den Benützern jeder
dieser Spuren der Vortritt zu gewähren ist, selbst wenn der Verkehr
auf der einen Spur aus irgendeinem Grund anhält, der nicht auch für
die Benützer der anderen Spur(en) gilt. Er stellt sich jedoch auf den
Standpunkt, wer links abbiege, müsse nicht damit rechnen, dass sich
auf einer Strassenhälfte, die offensichtlich nur für ein zweispuriges
Fahrzeug berechnet sei, ein zweites derartiges Fahrzeug sich nach vorne
schiebe, um geradeaus weiterzufahren und erst nach der Verzweigung in eine
signalisierte Abbiegespur zu gelangen. Neben den Vortrittsregeln gebe es
auch noch Anstandsregeln, und es sei nicht richtig, in einem Fall wie dem
vorliegenden, den an und für sich Wartepflichtigen dafür zu bestrafen,
dass er nicht mit dem "Unanstand" anderer Lenker gerechnet habe.

    Dieser Argumentation kann bei dem von der Vorinstanz verbindlich
festgestellten Sachverhalt nicht beigepflichtet werden. Nach
dem angefochtenen Entscheid weist die rechte Fahrbahnhälfte der
Regensdorferstrasse eine Breite von 3,95 m auf und sie gestattet es
deshalb, dass zwei Personenwagen nebeneinander fahren. Tatsächlich
hat sich M. denn auch nicht an den linksseitig wartenden Fahrzeugen
"vorbeigedrängt". Berücksichtigt man überdies, dass nach den tatsächlichen
Annahmen des Obergerichtes nur 10 m weiter vorne bei den Lichtsignalen der
Verkehr durch entsprechende Markierungen (Pfeile) in zwei Verkehrsflüsse
aufgeteilt wird, dann entsprach es durchaus der gesetzlichen Ordnung
(Art. 13 Abs. 1 VRV), wenn M., der die Absicht hatte, nach der Verzweigung
der Bachstrasse rechts in Richtung Geroldswil weiterzufahren, schon
vor dem ersten Haltebalken rechts fuhr, nachdem die übrigen Fahrzeuge
ihrerseits vorsortiert und nach links nahe an die Mittellinie der Strasse
herangefahren waren. Insoweit ist denn auch der Beschluss des Obergerichts
entgegen der Meinung des Beschwerdeführers nicht zu beanstanden; dies
um so weniger als nach Art. 13 Abs. 1 VRV soweit möglich sogar auf
schmalen Strassen frühzeitig einzuspuren ist. Die Verletzung blosser
Anstandsregeln aber stellt nicht notwendig eine Rechtsverletzung dar,
wie sich umgekehrt der Wartepflichtige nicht einfach darauf verlassen
darf, dass andere Fahrzeuglenker auf ihnen an sich zustehende Rechte
anstandshalber verzichten. Die die Verkehrssicherheit gewährleistende
Rechtsnorm muss im Zweifel immer vorgehen, zumal die Meinungen darüber,
was der Anstand im Strassenverkehr gebietet, nach der täglichen Erfahrung
oft auseinandergehen.

Erwägung 2

    2.- Hält demnach der angefochtene Beschluss gegenüber den Einwänden
des Beschwerdeführers stand, so verletzt er doch aus anderen rechtlichen
Überlegungen das Bundesrecht. Die Frage nämlich, ob der Beschwerdeführer
in casu das Vortrittsrecht von M. missachtet habe oder nicht, hängt
entscheidend davon ab, ob dieser gleich den Führern der links neben
ihm vorsortierten Fahrzeuge vor dem ersten Haltebalken hätte halten
müssen oder nicht. Das Obergericht hat die Frage verneint, weil die von
M. benützte Einspurstrecke bis zum Lichtsignal frei gewesen sei; nur wenn
er seinen Wagen nicht bis zum Lichtsignal hätte vorziehen können und so
bei Rotlicht die Einmündung der Bachstrasse blockiert hätte, hätte er
den ersten Haltebalken beachten müssen.

    a) Damit verkennt jedoch die Vorinstanz die Bedeutung der
Haltelinie. Die weisse, ununterbrochene und quer zur Fahrbahn aufgetragene
Linie (6.10) zeigt nach Art. 75 Abs. 1 SSV an, wo die Fahrzeuge beim
"Stop" und gegebenenfalls bei Lichtsignalen usw. halten müssen. Nach
dem klaren Wortlaut und Sinn dieser Bestimmung hat der Führer in
jedem Fall vor der Linie zu halten, wenn ein Lichtsignal die Durchfahrt
verbietet. Dabei macht es keinen Unterschied aus, ob - wie hier - vor der
Lichtsignalanlage wegen einer vorgelagerten Einmündung zwei Haltelinien
markiert sind, die eine vor, die andere nach der Verzweigung. Wo das
zutrifft, soll dem sonst wartepflichtigen Verkehr die Möglichkeit gegeben
werden, bei Aufleuchten des Rotlichts in die vortrittsberechtigte Strasse
einzufahren, sei es, um auf dieser vor der zweiten Haltelinie anzuhalten,
sei es um die vortrittsberechtigte Strasse zwischen den beiden Linien
ungehindert zu queren und in eine andere Seitenstrasse einzubiegen. Das
aber würde auf verkehrsreichen Strassen häufig verhindert, könnten die
auf der vortrittsberechtigten Bahn verkehrenden Führer während der roten
Signalphase über die erste Haltelinie hinausfahren, bis die Einspurstrecke
vor dem unmittelbar beim Signal angebrachten Haltebalken "gefüllt"
wäre. Zudem würde bei einer solchen Auslegung des Verkehrszeichens
dieses nicht nur in seiner Bedeutung geschwächt, sondern es würde damit
in den Strassenverkehr auch ein Unsicherheitsmoment hineingetragen, was
vom Gesetzgeber nicht gewollt sein kann. Das vom Obergericht mit Recht
erwähnte Interesse des Strassenverkehrs an klaren und einfachen Regeln
(s. BGE 100 IV 84 E. 1, 94 IV 75 E. 1) gebietet es deshalb, dort, wo vor
einer Lichtsignalanlage wegen einer dieser vorgelagerten Verzweigung die
Strasse mit zwei Haltelinien markiert ist, schon der ersten die Bedeutung
eines strikten Haltegebots beizumessen und den Verkehr auf der mit dieser
Linie versehenen Bahn zu verpflichten, so lange vor dem Haltebalken zu
warten, als das Signal die Durchfahrt verbietet.

    b) Bei dieser Rechtslage aber durfte der Beschwerdeführer darauf
vertrauen, dass der Gegenverkehr auf der Regensdorferstrasse während
der Rotlichtphase vor der ersten Haltelinie stehenbleiben werde und er
selber ungehindert die Strasse queren dürfe. Dass sich diese Erwartung
nicht erfüllte, ist nicht einem Fehlverhalten seinerseits, sondern der
Missachtung der Haltelinie durch M. zuzuschreiben. Der Beschwerdeführer
wurde deshalb von der Vorinstanz zu Unrecht wegen Widerhandlung gegen
Art. 36 Abs. 3 SVG und Art. 14 Abs. 1 VRV gebüsst.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    In Gutheissung der Beschwerde wird der angefochtene Beschluss
aufgehoben, und die Sache wird zur Freisprechung des Beschwerdeführers
an die Vorinstanz zurückgewiesen.