Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IV 185



108 IV 185

47. Urteil des Kassationshofes vom 17. September 1982 i.S. Zbinden gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 293 StGB; Auslegung des Begriffs "geheim"; Verhältnis zu Art. 22
GRN (SR 171.13).

    1. Der Begriff "geheim" ist gleichbedeutend mit gesetzlich
oder behördlich erklärtem Ausschluss der Öffentlichkeit. Ein als
"vertraulich" bezeichneter Bericht des EMD an die Mitglieder der
Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates ist solange "geheim",
als er nicht für die Öffentlichkeit bestimmt ist (E. 1a).

    2. Die gesetzliche oder behördliche Erklärung bestimmt Dauer und
Umfang der Geheimhaltung sowie den Kreis der dem Geheimhaltungsgebot
unterstehenden Personen (E. 1b).

    3. Dem in Art. 22 GRN statuierten "Sitzungsgeheimnis" sind nicht
nur die Verhandlungen, sondern auch deren Gegenstand bildende Unterlagen
unterstellt, sofern sie nicht zum vornherein allgemein zugänglich sind
(E. 1c und d).

Sachverhalt

    A.- Am 2. Juni 1980, ca. 17 Uhr, erhielten die Mitglieder der
Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Nationalrates im Anschluss an
eine kurze Sitzung einen Bericht der Sektion EMD über ihre Abklärungen
zur Angelegenheit Bachmann/Schilling mit Beilage (Antworten des EMD auf
16 Fragen der GPK). Der Bericht sollte am darauffolgenden Tage in einer
Sitzung der GPK beraten werden und war als "vertraulich" gekennzeichnet.

    Am späteren Nachmittag des 2. Juni 1980 erkundigte sich der
Bundeshausredaktor der Tageszeitung "Blick", Jürg Zbinden, beim
damaligen Mitglied der GPK, Nationalrat Georg Nef, nach Neuigkeiten
im Fall Bachmann/Schilling, worauf dieser bemerkte, er sei im Besitz
des diesbezüglichen Berichtes. Das Begehren Zbindens, ihm den Bericht
auszuhändigen, lehnte Nef mit der Begründung ab, dass er diesen zuerst
selber lesen müsse. Ungefähr zehn Minuten später traf Zbinden erneut auf
Nationalrat Nef, der ihn dahin informierte, dass nichts Relevantes im
Bericht stehe. Auf Anfrage Zbindens, ob er den Bericht zum Fotokopieren
haben dürfe, um am darauffolgenden Tag in der Zeitung "Blick" einen Artikel
darüber schreiben zu können, händigte Nationalrat Nef ihm Bericht und
Beilage aus. Zbinden kopierte beide und gab sie kurz darauf an Nef zurück.

    Unter dem Titel "Oberst Bachmann sollte neuen Geheimdienst aufziehen"
veröffentlichte Zbinden in der Nummer 126 des "Blick" vom 3. Juni 1980
Auszüge und teils auch wörtliche Passagen aus beiden Dokumenten.

    B.- Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte Zbinden am 8. April
1982 in Bestätigung eines Urteils des Einzelrichters in Strafsachen
des Bezirksgerichtes Zürich vom 2. Juli 1981 wegen der Veröffentlichung
amtlicher geheimer Verhandlungen (Art. 293 Abs. 1 StGB) zu einer bedingt
vorzeitig löschbaren Busse von Fr. 750.--.

    C.- Zbinden führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil
des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache sei zu neuer Entscheidung
an die Vorinstanz zurückzuweisen. Gleichzeitig hat er staatsrechtliche
Beschwerde erhoben (BGE 108 Ia ...).

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer macht geltend, Art. 293 StGB verlange als
Voraussetzung für die Strafbarkeit, dass die Unterlagen geheim gewesen
seien. Diese Bestimmung spreche nämlich nur von "geheim", nicht auch von
"vertraulich". Die beiden Ausdrücke bedeuteten nicht dasselbe, und BGE
77 IV 182 verwende ebenfalls den Begriff "geheim". Wenn sich die Praxis
in Auslegung von Art. 293 StGB schon auf den formellen Geheimnisbegriff
stütze, was erwiesenermassen zu unbefriedigenden Ergebnissen führe,
so dürfe sie nicht zusätzlich noch "Geheimheit und Vertraulichkeit"
gleichsetzen. Das aber habe die Vorinstanz getan, indem sie nicht genügend
zur Kenntnis genommen habe, dass die vom Beschwerdeführer teilweise
veröffentlichten Dokumente zum Teil mit der Aufschrift "vertraulich bis
nach Behandlung in der Kommission" versehen gewesen seien. Von "geheim"
habe darauf nichts gestanden. Die Vorinstanz habe die beiden Begriffe
vermischt, und gleicherweise sei dies auch durch das Büro des Nationalrates
in einem Papier vom 8. Januar 1980 geschehen. Das sei aber die Folge
der unklaren Formulierung von Art. 22 GRN (SR 171.13), der die Ausdrücke
"geheim" und "vertraulich" verwende. Im übrigen habe niemand behauptet,
dass die fraglichen Dokumente Amtsgeheimnisse enthalten hätten. Ob die
Kommission den Bericht genehmigt habe oder nicht, spiele keine Rolle;
der Hinweis "vertraulich bis nach Behandlung in der Kommission" besage
lediglich, dass er tel quel nach Behandlung durch die Kommission habe
veröffentlicht werden dürfen. Im übrigen zeigten jene Unklarheiten,
dass der Beschwerdeführer zu Unrecht mit einer strafrechtlichen Sanktion
bedacht worden sei.

    a) Nach Art. 293 Abs. 1 StGB macht sich der Veröffentlichung
amtlicher geheimer Verhandlungen schuldig, wer, ohne dazu berechtigt
zu sein, aus Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen einer Behörde,
die durch Gesetz oder durch Beschluss der Behörde im Rahmen ihrer
Befugnis als geheim erklärt worden sind, etwas an die Öffentlichkeit
bringt. Wie das Bundesgericht entschieden hat, liegt diesem Tatbestand der
formelle Geheimnisbegriff zugrunde. Es kommt also nicht darauf an, ob die
ausgespähte oder offenbarte Tatsache wirklich geheim ist. Entscheidend
ist einzig die durch Gesetz oder durch Verfügung der Behörde abgegebene
Erklärung, die Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen seien geheim (das
zur Veröffentlichung bestimmte Urteil i.S. M. K. vom 27.11.1981; ebenso
STRATENWERTH, 2. Aufl. II S. 303). Da überdies nicht der Wortlaut der
gesetzlichen oder behördlichen Erklärung, sondern deren Sinn massgebend ist
(BGE 77 IV 182 und Urteil i.S. M. K.), macht es auch keinen wesentlichen
Unterschied aus, ob in concreto Akten, Verhandlungen oder Untersuchungen
als "geheim" oder als "vertraulich" und dgl. bezeichnet werden; es muss
nur klar sein, dass damit die Öffentlichkeit hat ausgeschlossen werden
wollen. Der in Art. 293 StGB verwendete Begriff "geheim" kennt denn auch
keine graduellen Abstufungen im Sinne von "streng geheim", "geheim",
"vertraulich" usw., sondern umfasst alle Klassifizierungen, denen zufolge
die Kenntnis auf einen durch Gesetz bzw. durch Beschluss der zuständigen
Behörde bestimmten Personenkreis beschränkt bleiben soll. Geheim im Sinne
von Art. 293 StGB ist somit gleichbedeutend mit gesetzlich oder behördlich
erklärtem Ausschluss der Öffentlichkeit (s. die bei STRATENWERTH, aaO
zitierten Beispiele). Damit unterscheidet sich dieser Begriff von dem
engeren, den Art. 162, 267, 320 und 321 StGB zugrunde liegenden materiellen
Geheimnisbegriff, und er lässt - wie sich im folgenden ergeben wird -
eine sachlich, zeitlich und personell differenzierte Geheimhaltung
zu, die in der Praxis und insbesondere im Parlamentsbetrieb häufig
mit dem Ausdruck der Vertraulichkeit bezeichnet wird, ohne aber einen
begriffsmässigen Unterschied zum Ausdruck "geheim" im Sinne von Art. 293
StGB zu markieren (s. C. BURKHARD, Die parlamentarischen Kommissionen der
schweiz. Bundesversammlung, Diss. Zürich 1952, S. 3 Ziff. II und S. 191,
Zirkular des Büros des Nationalrats vom 8.1.1980).

    b) Hängt nach dem Gesagten das Geheimhaltungsgebot von einer
gesetzlichen oder behördlichen Erklärung ab, so kann diese - immer unter
Vorbehalt des Amtsgeheimnisses und der militärischen Geheimhaltung
- bestimmen, während welcher Dauer und in welchem Umfang Akten,
Verhandlungen und Untersuchungen geheimzuhalten sind. Darüber hinaus
folgt aus der formellen Natur des Geheimnisbegriffs des Art. 293 StGB,
dass durch die genannte Erklärung auch der Kreis derjenigen Personen
umschrieben werden kann, die Kenntnis von den fraglichen Akten,
Verhandlungen und Untersuchungen haben dürfen. Dass zu diesem Kreis,
soweit behördliche Verhandlungen in Frage stehen, die Sitzungsteilnehmer
zählen, versteht sich von selbst. Es können aber in begrenztem Masse auch
bestimmte nichtbeteiligte Dritte einbezogen werden. Dadurch verlieren
die Verhandlungen nicht ihren geheimen Charakter, sofern diese Dritten
ihrerseits zur Geheimhaltung verpflichtet werden (s. BGE 64 II 171 E. 7,
wo das sogar für den materiellen Geheimnisbegriff angenommen wurde).

    c) Bezieht man in das Gesagte die Regelung des Art. 22 GRN ein,
so ergibt sich als erstes, dass diese Bestimmung hinsichtlich der
Kommissionsverhandlungen, die allein ausdrücklich erwähnt werden,
ein sog. Sitzungsgeheimnis anordnet, mit der Bedeutung, dass über solche
Verhandlungen die Kommissionsmitglieder und die anderen Sitzungsteilnehmer
so lange nicht öffentlich berichten dürfen, bis Presse, Radio und Fernsehen
durch das von der Kommission bezeichnete Mitglied orientiert worden sind
(BGE 107 IV 185). Auch danach unterliegen sie noch in dem Masse jenem
Geheimhaltungsgebot, als sie nicht bekanntmachen dürfen, wie andere
Teilnehmer Stellung bezogen haben (Abs. 2).

    Soll dieser für die Verhandlungen geltende Ausschluss der
Öffentlichkeit seinen Zweck erfüllen, so muss es der Kommission aber
auch anheimgestellt sein, Unterlagen, die Gegenstand ihrer Verhandlungen
bilden und nicht a priori allgemein zugänglich sind (wie z.B. Vorlagen
mit der Botschaft des Bundesrates, die schon vor der Behandlung durch
parlamentarische Kommissionen gedruckt herausgegeben werden), dem
Sitzungsgeheimnis zu unterstellen. Das folgt ohne weiteres aus dem
Sinn jener Ordnung und erhellt auch aus dem öffentlichen Interesse
an einer möglichst freien und durch keinerlei unzeitige Beeinflussung
beeinträchtigten Meinungsbildung in einer parlamentarischen Kommission
(BGE 107 IV 188 E. 2a und Urteil des Kassationshofes zur staatsrechtlichen
Beschwerde Zbindens, Nr. P. 1280/82 vom 17.9.1982, E. 1c).

    d) Der Umstand, dass nach Art. 22 Abs. 3 GRN die Kommissionsmitglieder
dem Sitzungsgeheimnis unterstellte Tatsachen den Mitgliedern und
Funktionären ihrer Fraktion bekanntgeben dürfen, ändert an dem
formell geheimen Charakter solcher Mitteilungen nichts, weil diese
Personen in derselben Bestimmung ausdrücklich verpflichtet werden,
solche Mitteilungen nicht bekanntzumachen (s. oben lit. b). Zu einem
anderen Ergebnis führt auch nicht, dass Art. 22 Abs. 3 GRN nicht von
geheimen, sondern von vertraulichen Mitteilungen spricht. Gerade die
Tatsache, dass das Reglement den genannten Personen verbietet, die ihnen
gemachten vertraulichen Mitteilungen weiterzugeben, kennzeichnet diese
als geheim im Sinne des Art. 293 StGB, wird doch dadurch klar der Wille
kundgemacht, die Öffentlichkeit auszuschliessen (s. oben E. 1a). Zudem
können sich diese Mitteilungen nach dem Zusammenhang, in welchem sie
in Art. 22 Abs. 3 GRN erwähnt werden, ihrem Gehalt nach ja nur auf die
Kommissionsverhandlungen, die - wie dargetan - grundsätzlich geheim sind,
oder auf Verhandlungsunterlagen beziehen, für welche die Kommission
den Ausschluss der Öffentlichkeit durch einen entsprechenden Vermerk
angeordnet hat.

    e) Nach dem Gesagten ist nicht ersichtlich, inwiefern bei diesen sich
ohne weiteres aus dem genannten Reglement ergebenden Schlüssen Art. 22
GRN der gebotenen Klarheit ermangeln sollte. Soweit die Beschwerde das
behauptet, erweist sie sich als unbegründet.

Erwägung 2

    2.- Im vorliegenden Fall ist verbindlich festgestellt, dass der
von Nationalrat Nef dem Beschwerdeführer am 2. Juni 1980 ausgehändigte
Bericht der Sektion EMD, der anderntags Gegenstand der Beratungen
der GPK des Nationalrats bilden sollte, den Hinweis "vertraulich bis
nach Behandlung in der Kommission" trug. Darin lag eine Erklärung der
zuständigen Instanz, dass das genannte Papier jedenfalls bis nach der
Beratung durch die Kommission im Sinne von Art. 293 Abs. 1 StGB geheim zu
bleiben hatte. Diese Erklärung hatte selbstverständlich auch Gültigkeit für
die beigelegten Antworten des EMD auf die von der GPK gestellten Fragen,
bildeten jene doch integrierenden Bestandteil des sich auf sie stützenden
Berichts. Indem Zbinden in der Ausgabe der Zeitung "Blick" vom 3. Juni
1980 Bericht und Antwortbogen auszugsweise veröffentlichte, brachte
er, ohne dazu berechtigt gewesen zu sein, etwas an die Öffentlichkeit,
was dieser nach Massgabe von Art. 22 GRN nicht oder noch nicht hätte
zugänglich gemacht werden dürfen und damit im Sinne von Art. 293 Abs. 1
StGB hätte geheim bleiben sollen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.