Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IV 165



108 IV 165

41. Urteil des Kassationshofes vom 22. November 1982 i.S. M. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 181 StGB, Nötigung.

    Die Behinderung anderer durch einen sog. "Menschenteppich", der in
der Weise gebildet wird, dass sich Menschen dichtgedrängt auf den Boden
legen, kann den Tatbestand der Nötigung erfüllen.

Sachverhalt

    A.- Am 2. Juli 1981 nahm X. an der sog. "Gewaltfreien Aktion
Menschenteppich" an der Wartstrasse in Winterthur vor der "Eulachhalle"
teil. Zum Zwecke des Protests gegen die auf dem Gelände der "Eulachhalle"
stattfindende Ausstellung "W 81" legten sich die Teilnehmer der Aktion,
unter ihnen X., vor dem Ausstellungseingang auf dem Trottoir und zum
Teil auf dem markierten Parkfeld der Wartstrasse auf den Boden, so dass
die Personen, die in die Ausstellung gelangen oder dieselbe verlassen
wollten, über die Körper der Demonstranten hinwegsteigen mussten. Der
"Menschenteppich" wurde in der Weise gebildet, dass sich die Teilnehmer
der Aktion reihenweise, jeweils den Kopf auf den Schultern der beiden
Gegenüberliegenden ("Reisverschluss"), rücklings auf den Boden legten. Auf
verschiedenen von den Demonstranten aufgestellten Transparenten stand in
mehreren Sprachen geschrieben: "Wer über uns geht, geht auch über Leichen".

    Als um 11.15 Uhr ein von Z. gelenkter VW-Bus mit drei weiteren Insassen
das Ausstellungsgelände verlassen wollte, verunmöglichte X. dessen
Wegfahrt, indem er mit andern Teilnehmern der Aktion Menschenteppich
auf dem Boden liegen blieb. Der Weg sollte dem VW-Bus nur unter der
Bedingung freigegeben werden, dass die Insassen (exkl. Chauffeur) das
Fahrzeug verliessen und über den Menschenteppich stiegen. Die Insassen des
VW-Busses waren dazu indessen nicht bereit. Die durch den Geschäftsleiter
der Bezirksanwaltschaft und zwei Beamte der Stadtpolizei Winterthur an
die Demonstranten gerichtete Aufforderung, dem VW-Bus samt Insassen
die Wegfahrt freizugeben, blieb erfolglos. Nachdem etwa fünf Minuten
verstrichen waren, griff ein Polizeidetachement ein. 24 Personen, welche
vor dem Ausgang auf dem Boden lagen, wurden festgenommen. Anschliessend
konnte der VW-Bus, nach insgesamt etwa 15 Minuten Wartezeit, mit den
Insassen das Ausstellungsgelände verlassen.

    B.- Der Einzelrichter in Strafsachen des Bezirkes Winterthur
sprach X. am 16. November 1981 von der Anschuldigung der Nötigung
frei, verurteilte ihn wegen Übertretung von Art. 4 der allgemeinen
Polizeiverordnung der Stadt Winterthur zu einer Busse von Fr. 20.--
und auferlegte ihm die Verfahrenskosten. Gegen dieses Urteil reichten
sowohl die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich als auch X. Berufung
ein. Die I. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Zürich sprach X. am
7. Juni 1982 der Nötigung schuldig und verurteilte ihn zu einer Busse von
Fr. 100.--, bedingt vorzeitig löschbar bei einer Probezeit von zwei Jahren.

    C.- Der Verurteilte führt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, das Urteil des Zürcher Obergerichts sei aufzuheben und die
Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen, unter Kosten-
und Entschädigungsfolge.

    D.- Eine von X. gegen den Entscheid des Zürcher Obergerichts
eingereichte kantonale Nichtigkeitsbeschwerde wurde vom Kassationsgericht
des Kantons Zürich am 22. Oktober 1982 abgewiesen, soweit darauf
eingetreten werden konnte.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gegenstand des kantonalen Verfahrens bildete einzig die Behinderung
des VW-Busses mit vier Insassen an der Wegfahrt vom Ausstellungsgelände
der "W 81". Die durch die sog. "Gewaltfreie Aktion Menschenteppich"
verursachten weiteren Behinderungen sind hier nicht zu beurteilen.

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht vertritt die Auffassung, dass X. den "straflosen
Bereich der Beschränkung der Handlungsfreiheit anderer) ... überschritten"
habe. Zur Begründung führt es aus, den Insassen des Busses sei durch
den Menschenteppich das Verlassen des Ausstellungsgeländes im Auto
(wie sie es wollten) unbestrittenermassen verunmöglicht worden. Zwar
hätten sie das Gelände zu Fuss verlassen können, indem sie über den
Menschenteppich stiegen; dies sei ihnen jedoch angesichts der Propaganda
der Demonstranten - "Wer über uns geht, geht auch über Leichen" -
nicht zumutbar gewesen, da sie damit öffentlich ihre Bereitschaft,
über Leichen zu gehen, bekannt und sich gewissermassen selber an den
Pranger gestellt hätten. Zudem sei das erzwungene Hinwegbalancieren
über den Menschenteppich auch deshalb nicht ganz unbedenklich gewesen,
weil für das Absetzen der Füsse nur wenig Platz zur Verfügung stand und
nicht vorauszusehen war, wie die Demonstranten - insbesondere allenfalls
neu hinzugekommene, die noch nicht genügend instruiert waren - reagiert
hätten, wenn einzelne Personen beim Überschreiten des Menschenteppichs
den auf dem Boden liegenden Demonstranten beispielsweise ungewollt ins
Gesicht oder in eine andere empfindliche Körpergegend getreten wären. Das
Verhalten des Beschwerdeführers erfüllte daher nach Auffassung der
Vorinstanz den Tatbestand von Art. 181 StGB; es war auch rechtswidrig,
da X. nicht berechtigt war, auf öffentlichem Grund ein Hindernis für
Fahrzeuge zu errichten und weil der damit verfolgte Zweck zudem gegen
die guten Sitten verstiess, da das Recht, für Frieden und gegen Waffen
und Gewalt zu demonstrieren, dort eine Grenze finde, "wo Andersdenkende
durch Beschränkung ihrer Handlungsfreiheit und grobe Beeinflussung in
eine vom Angeklagten beabsichtigte Rolle gezwungen werden sollen, die
sie freiwillig nicht übernehmen wollen".

    X. legt in seiner Nichtigkeitsbeschwerde ausführlich die Ziele der
"Gewaltfreien Aktion Menschenteppich" dar und macht geltend, dass die
Veranstaltung "W 81", die seines Erachtens möglicherweise gegen die
Bestimmungen des Kriegsmaterialgesetzes verstiess, von verschiedenen
Seiten heftig kritisiert wurde. Er weist darauf hin, dass die Aktion
Menschenteppich nach Ansicht verschiedener Behördenvertreter und
selbst nach Auffassung der Vorinstanz in geradezu exemplarischer Weise
gewaltfrei und von den Behörden während mehreren Tagen geduldet worden
war und vertritt unter Berufung auf BGE 107 IV 113 ff. die Auffassung,
dass die Verhinderung der Ausfahrt des VW-Busses für kurze Zeit nicht in
wesentlichem Umfang über das üblicherweise geduldete Mass an Beeinflussung
hinausgehe. Die Einwände des Beschwerdeführers gehen jedoch zum Teil an
der Sache vorbei und sind im übrigen unbegründet.

Erwägung 3

    3.- Schutzobjekt von Art. 181 StGB ist die Handlungsfreiheit,
die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung des Einzelnen.
Unrechtmässig ist eine Nötigung, wenn das Mittel oder der Zweck unerlaubt
ist oder wenn das Mittel zum erstrebten Zweck nicht im richtigen Verhältnis
steht oder wenn die Verknüpfung zwischen einem an sich zulässigen Mittel
und einem erlaubten Zweck rechtsmissbräuchlich oder sittenwidrig ist (BGE
106 IV 129 E. 3a, 105 IV 123 mit Verweisungen). Ob die Beschränkung der
Handlungsfreiheit anderer eine rechtswidrige Nötigung sei, hängt somit
vom Mass der Beeinträchtigung, von den dazu verwendeten Mitteln bzw. den
damit verfolgten Zwecken ab.

    a) Die Vorinstanz hat nicht übersehen, dass der Zugang zur "W 81"
und das Verlassen des Ausstellungsgeländes mit verwerflicheren Mitteln als
durch Bildung eines Menschenteppichs hätten behindert werden können. Dem
Obergericht ist auch nicht entgangen, dass die "W 81", gegen die der
Beschwerdeführer protestierte, von verschiedenen Seiten kritisiert
wurde. Auch mag die "Gewaltfreie Aktion Menschenteppich" bei Teilen der
Bevölkerung auf weniger Unverständnis gestossen sein als manch andere
Demonstration.

    b) Die von X. mit andern Personen durchgeführte Aktion war darauf
angelegt, den Zugang zur Ausstellung "W 81" und das Verlassen des
Ausstellungsgeländes zu behindern. Diese Behinderung war mithin nicht
die mehr oder weniger unvermeidliche Folge einer Demonstration. Die
Demonstranten hielten den VW-Bus auch nicht etwa auf, um den Insassen
Flugblätter in die Hände zu drücken, ihnen in einigen Sätzen die Ziele
ihrer Aktion mitzuteilen oder sie zu einer Diskussion einzuladen. Sie
stellten die Insassen des Busses vielmehr vor die Alternative, zu Fuss
über den Menschenteppich zu steigen oder auf unbestimmte Zeit auf dem
Ausstellungsgelände zu verharren. Die Demonstranten diktierten ihre
Bedingungen und verkündeten auf den mitgebrachten Transparenten ihre -
übrigens anmassende und selbstgerechte - Ansicht: "Wer über uns geht,
geht auch über Leichen." Damit brachten sie deutlich zum Ausdruck,
dass sie an einem Gespräch mit den Insassen des VW-Busses und an deren
Argumenten überhaupt nicht interessiert waren. Der Beschwerdeführer wäre
bei dieser Sachlage selbst dann der Nötigung schuldig zu sprechen, wenn
man annehmen wollte, es liege unter Umständen noch keine rechtswidrige
Beschränkung der Handlungsfreiheit darin, dass jemand einen anderen
gegen dessen Willen während einigen Minuten aufhält, um ihn über irgend
etwas zu informieren oder von irgend etwas zu überzeugen. Aus dem
Verhalten der Aktionsteilnehmer geht klar hervor, dass sie, entgegen
den mehrfach wiederholten Behauptungen in der Nichtigkeitsbeschwerde,
nicht dies anstrebten, sondern dass es ihnen vorwiegend darum ging,
ihr Spektakel durchzuführen und den Insassen des VW-Busses eine
bestimmte Rolle zuzuweisen, sie mithin als Marionetten für ihre
Schau zu missbrauchen. Fügten sich die Insassen des VW-Busses nicht,
dann hatten sie nach dem Willen der Demonstranten auf unbestimmte
Zeit im Ausstellungsgelände zu verharren, mochten sie noch so oft
und unmissverständlich ihre Weigerung, über den Menschenteppich zu
schreiten, zum Ausdruck bringen. Wenn die Vorinstanz ausführt, dass sich
die Insassen des VW-Busses "anscheinend weigerten ..., hier mitzuspielen
und die ihnen zugedachte Rolle zu übernehmen", stellte sie nicht bloss
eine Hypothese auf, sondern zog in Würdigung des Umstandes, dass der
Bus während mehreren Minuten vor dem Menschenteppich stehen blieb, den
Schluss, dass die Insassen zumindest fürs erste entschlossen waren, den
Forderungen der Demonstranten nicht nachzugeben. Wie die VW-Bus-Insassen
sich im weiteren Verlauf der Ereignisse verhalten hätten, wenn die Polizei
nicht eingeschritten wäre, ob sie also zu einem späteren Zeitpunkt
aus diesem oder jenem Grund den Menschenteppich zu Fuss überschritten
hätten, ist unerheblich; denn eine nicht nur kurzfristige Verhinderung
der Weiterfahrt ist bei Fehlen gesetzlicher Rechtfertigungsgründe
stets eine rechtswidrige Nötigung. Dass die Insassen des VW-Busses das
Ausstellungsgelände jederzeit verlassen konnten, indem sie entsprechend
dem Begehren der Demonstranten zu Fuss über den Menschenteppich schritten,
ist belanglos. Art. 181 StGB schützt die Freiheit der Willensbildung und
Willensbetätigung und ist auch dann anwendbar, wenn das Opfer sein Ziel
auf einem andern als dem von ihm gewollten Wege hätte erreichen können. Ob
das von den Demonstranten geforderte Überschreiten des Menschenteppichs
für sich allein aus den von der Vorinstanz angegebenen oder aus anderen
Gründen eine rechtlich erhebliche Behinderung wäre, braucht hier nicht
entschieden zu werden. Unerheblich ist schliesslich auch die Tatsache,
dass einige andere Fahrzeuglenker die Durchfahrt erzwangen, indem sie
langsam und beharrlich weiterfuhren. Der Aktion Menschenteppich lag gerade
die berechtigte Erwartung zugrunde, dass ein Autofahrer nur ausnahmsweise
die Durchfahrt erzwingen werde, und der Lenker des VW-Busses hat aus
verständlichen Gründen auf ein solches Manöver verzichtet.

    Die Verhinderung der Durchfahrt des VW-Busses samt Insassen diente
demnach einzig als Druckmittel, durch das die Insassen ohne Rücksicht
auf ihre Argumente und Einwände zur Übernahme der ihnen zugedachten
Rolle gezwungen werden sollten. Unter diesen Umständen war die hier zu
beurteilende Behinderung zufolge des von den Demonstranten gebildeten
Menschenteppichs (als "andere Beschränkung der Handlungsfreiheit" im
Sinne von Art. 181 StGB) selbst dann rechtswidrig, wenn man die Auffassung
des Beschwerdeführers über die Veranstaltung "W 81", gegen die sich die
Demonstration richtete, teilen wollte.

    c) Aus welchen Beweggründen der Beschwerdeführer an der Demonstration
gegen die "W 81" teilnahm (Friedenssehnsucht, Pazifismus, etc.), ist
lediglich im Rahmen der Strafzumessung gemäss Art. 63 StGB von Bedeutung.

    d) Dass die Polizei den Menschenteppich an den Vortagen geduldet und
der Kommandant der Winterthurer Stadtpolizei die Meinung geäussert hatte,
der Tatbestand der Nötigung sei nicht erfüllt, ist unerheblich. Es ist
unbestritten, dass die Demonstranten, unter ihnen der Beschwerdeführer,
vor dem Polizeieinsatz vom 2. Juli 1981 mehrmals aufgefordert worden
waren, dem VW-Bus samt Insassen die Durchfahrt freizugeben, und dass
die Demonstranten dabei von Behördenvertretern auf die Möglichkeit
einer Strafverfolgung wegen Nötigung hingewiesen wurden. Unter diesen
Umständen kann keine Rede davon sein, der Beschwerdeführer habe irrtümlich
angenommen, er tue überhaupt nichts Unrechtes, wenn er auf dem Boden
liegen bleibe. Die Voraussetzungen für die Annahme von Rechtsirrtum,
auf den er sich andeutungsweise beruft, sind nicht erfüllt.

    Die Nichtigkeitsbeschwerde ist somit unbegründet und daher
abzuweisen. Dem Beschwerdeführer sind die Kosten des bundesgerichtlichen
Verfahrens aufzuerlegen.