Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 IV 107



108 IV 107

27. Urteil des Kassationshofes vom 17. Februar 1982 i.S. M. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich (Nichtigkeitsbeschwerde) Regeste

    Art. 55 Abs. 1 SVG, Art. 2 Abs. 2 VRV. Bedeutung des
gesetzlichen Kriteriums "Blutalkoholkonzentration" beim Nachweis der
Angetrunkenheit. Rechtmässigkeit der getroffenen Regelung.

    Indem Art. 2 Abs. 2 VRV für den Nachweis der Angetrunkenheit genügen
lässt, dass die einen bestimmten Grenzwert überschreitende Alkoholmenge,
die nach der Blutalkoholkonzentration bemessen wird, im Zeitpunkt der
Fahrt konsumiert, also im Körper vorhanden, aber möglicherweise noch nicht
ins Blut gelangt war, wurde der Beweis der Angetrunkenheit in dem durch
Art. 55 Abs. 1 SVG vorgezeichneten Sinne geordnet und die Delegationsnorm
nicht überschritten.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- In tatsächlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass M.
am 22. April 1980, etwa um 00.50 Uhr, in Volketswil nach Alkoholgenuss
seinen Personenwagen führte. Er wurde von der Polizei kontrolliert. Um
01.25 Uhr erfolgte im Bezirksspital Uster eine Blutentnahme. Die Analyse
ergab einen Blutalkoholgehalt von 0,96-1,06 Gewichtspromille. In der Folge
erhob der Beschwerdeführer den Einwand der Nachresorption: Er habe vor
der Wegfahrt vom Restaurant "Molino" - zwischen 24.00 Uhr und 00.40 Uhr -
noch Whisky getrunken, der im Zeitpunkt der Fahrt nicht resorbiert gewesen
sei, der Blutalkoholgehalt zur Zeit des Führens seines Motorfahrzeuges
sei daher geringer gewesen.

    Zur Abklärung dieses Einwandes wurde im kantonalen Verfahren
vom gerichtlich-medizinischen Institut der Universität Zürich ein
Ergänzungsgutachten mit zwei Nachträgen eingeholt. Das Kassationsgericht
stellt fest, dass der zweite Nachtrag zum Ergänzungsgutachten aufgrund der
Angaben über den Alkoholkonsum kurz vor der Wegfahrt unter Berücksichtigung
der Nachresorption zu einer Blutalkoholkonzentration zwischen 0,49
und 0,76 Gewichtspromille komme (je nach der Menge des konsumierten
Alkohols) und dass damit die Berechnungen in den vorangehenden Gutachten
in einer Weise erschüttert seien, welche eine zweifelsfreie Annahme einer
Blutalkoholkonzentration von 0,8 oder mehr Gewichtspromille im Zeitpunkt
der Tat nicht mehr zulasse. Hingegen stehe fest, dass der Beschwerdeführer
während seiner Fahrt eine Alkoholmenge im Körper gehabt habe, welche zu
einer Blutalkoholkonzentration von mehr als 0,8 Gewichtspromille führe und
gemäss Art. 2 Abs. 2 VRV ebenfalls den Tatbestand der Angetrunkenheit
erfülle. Die Einwände gegen die Rechtmässigkeit der Regel, wonach
nicht nur die Blutalkoholkonzentration im Zeitpunkt der Tat den Schluss
auf Angetrunkenheit zulässt, sondern auch das Vorhandensein einer noch
nicht resorbierten entsprechenden Alkoholmenge im Körper Angetrunkenheit
darstellt, wurden vom Kassationsgericht des Kantons Zürich als unbegründet
abgelehnt.

Erwägung 2

    2.- Mit der eidgenössischen Nichtigkeitsbeschwerde wird ausschliesslich
geltend gemacht, der eben erwähnte zweite Teilsatz von Art. 2 Abs. 2 VRV
sei durch Art. 55 Abs. 1 SVG nicht gedeckt, sondern stelle faktisch
die Schaffung eines neuen, durch das Gesetz nicht vorgesehenen
Straftatbestandes dar.

    a) Die Normen von Verordnungen des Bundesrates sind vom Strafrichter
vorfrageweise auf ihre Rechtmässigkeit zu überprüfen (BGE 105 IV 254
E. 2a, 103 IV 193 f.). Auf das Begehren um akzessorische Normenkontrolle
ist nach konstanter Praxis einzutreten.

    b) Gemäss Art. 31 Abs. 2 SVG darf kein Fahrzeug führen, "wer
angetrunken, übermüdet oder sonst nicht fahrfähig ist". Unter dem marginale
"Angetrunkenheit" bestimmt Art. 55 Abs. 1 SVG, dass der Bundesrat festlegt,
"bei welcher Blutalkoholkonzentration unabhängig von weiteren Beweisen und
individueller Alkoholverträglichkeit Angetrunkenheit) ... angenommen wird".

    Diesen Auftrag des Gesetzgebers hat der Bundesrat in Abs. 2 von Art. 2
VRV durch folgende Vorschrift erfüllt:

    "Fahrunfähigkeit wegen Alkoholeinwirkung (Angetrunkenheit) gilt in
   jedem Fall als erwiesen, wenn der Fahrzeugführer eine

    Blutalkohol-Konzentration von 0,8 oder mehr Gewichtspromillen
aufweist oder
   eine Alkoholmenge im Körper hat, die zu einer solchen

    Blutalkohol-Konzentration führt."

    c) In der Beschwerdeschrift wird die Auffassung vertreten,
Art. 55 Abs. 1 SVG ermächtige zwar den Bundesrat, einen Grenzwert
festzulegen, doch gehe es dabei ausschliesslich um die Limite für
die Blutalkoholkonzentration im Zeitpunkt der Tat (d.h. zur Zeit des
Führens eines Motorfahrzeuges); die gesetzliche Delegationsnorm sei
durch den zweiten Teilsatz ("oder eine Alkoholmenge im Körper hat
...") überschritten.

    Die ratio legis von Art. 55 Abs. 1 SVG liegt darin, dass von Gesetzes
wegen erklärt wird, bei Überschreiten eines vom Bundesrat zu bestimmenden
Grenzwertes begründe die festgestellte Blutalkoholkonzentration die
Annahme der Angetrunkenheit, ohne dass es weiterer konkreter Indizien
für die Beeinträchtigung der Fahrfähigkeit bedürfe und unter Ausschluss
von irgendwelchen Gegenbeweisen aufgrund individueller Eigenschaften
(wie Alkoholverträglichkeit) oder konkreter Beobachtungen. Massgebend
ist in der Regel der Wert, der sich aus der Analyse der entnommenen
Blutprobe unter Rückrechnung auf den Zeitpunkt des Fahrens ergibt. Durch
die angefochtene Verordnungsvorschrift wird dem Fall, in welchem
nach Analysenresultat und Rückrechnung die Blutalkoholkonzentration
im Zeitpunkt der Tat den Grenzwert erreicht oder überschritten hat,
jener Fall gleichgestellt, in welchem die Blutalkoholkonzentration im
Tatzeitpunkt die Limite möglicherweise noch nicht überschritten hatte,
aber sicher bereits eine entsprechende, wenn auch vielleicht noch nicht
(ganz) resorbierte Alkoholmenge im Körper vorhanden war. Damit wird
die Tragweite des gesetzlichen Kriteriums "Blutalkoholkonzentration"
in einer bestimmten Richtung genauer umschrieben. Art. 2 Abs. 2 VRV
begründet für die Betroffenen keine neue, über das Gesetz hinausgehende
Verpflichtung, sondern stellt lediglich fest, dass Angetrunkenheit im
Sinne von Art. 31 Abs. 2 und 55 Abs. 1 SVG schon dann vorliegt, wenn
die einen bestimmten Grenzwert überschreitende Alkoholmenge, die nach
der Blutalkoholkonzentration bemessen wird, im massgebenden Zeitpunkt
konsumiert, also im Körper vorhanden, aber möglicherweise noch nicht ins
Blut gelangt war.

    Mit seiner Argumentation macht der Beschwerdeführer im Grunde
geltend, Art. 55 Abs. 1 SVG sichere dem Motorfahrzeugführer zu,
er dürfe vor der Fahrt eine Alkoholmenge konsumieren, die eine den
Grenzwert übersteigende Blutalkoholkonzentration zur Folge haben
werde, und er könne dann sein Fahrzeug noch straflos führen, solange
nicht nachgewiesenermassen die Resorption bereits eine den Grenzwert
überschreitende Blutalkoholkonzentration bewirkt habe. Diese positive
Formulierung des angeblich durch die VRV beseitigten "Rechts" zeigt, wie
abwegig es wäre, dem Art. 55 Abs. 1 SVG eine Auslegung zu geben, welche
den angefochtenen Teilsatz in Art. 2 Abs. 2 VRV unzulässig machen würde.

Erwägung 3

    3.- Für die Vorschrift, Angetrunkenheit sei auch anzunehmen, wenn der
Alkohol im Körper vorhanden, aber noch nicht resorbiert sei, lassen sich
im übrigen vor allem folgende Gründe anführen:

    a) Allgemein ist anerkannt, dass die Wirkung des Alkohols in der
Anflutungsphase, d.h. beim Einsetzen der Resorption stärker ist als bei
gleich hoher Blutalkoholkonzentration in der Ausscheidungsphase (BGE 103
IV 112 ff. mit Angaben über die Ursache dieser Erscheinung). Der Anstieg
des Blutalkohols verläuft überdies nicht linear, sondern ist zu Beginn
steiler als am Ende der Resorption (vgl. HENTSCHEL/BORN, Trunkenheit im
Strassenverkehr, Düsseldorf 1977, S. 26); eine rein lineare Rückrechnung
entspricht somit für den Beginn der Resorptionszeit der Wirklichkeit nicht.

    b) Der Motorfahrzeugführer, der vor Antritt einer Fahrt eine im
Ergebnis zu mindestens 0,8 Gewichtspromille führende Alkoholmenge
konsumiert hat, bildet für den Verkehr infolge der potentiellen
Beeinträchtigung seiner Fahrfähigkeit jene Gefahrenquelle, welche das
Gesetz als Angetrunkenheit umschreibt. In welchem Zeitpunkt der genossene
Alkohol sich auf Reaktionsfähigkeit und Fahrweise konkret auswirkt,
lässt sich wegen der Besonderheiten der Anflutungsphase, den nicht
erfassbaren individuellen Unterschieden des Resorptionsvorganges sowie
wegen der notorischen Unsicherheit der Angaben über Alkoholmenge und
Trinkverlauf durch ein nachträgliches Gutachten nicht in befriedigender
Weise feststellen. Sicher ist aber bei allen unter die hier angefochtene
Norm fallenden Sachverhalten, dass der Fahrzeuglenker vor seiner Fahrt
eine Alkoholmenge zu sich nahm, welche zu einem Blutalkoholgehalt von
0,8 oder mehr Gewichtspromille führen muss. Er hat also damit jene durch
ihn nicht mehr beeinflussbare Gefahr einer Herabsetzung der Fahrfähigkeit
geschaffen, welche Art. 91 SVG als Angetrunkenheit unter Strafe stellt.

    c) Die Regel des angefochtenen zweiten Teilsatzes von Art. 2 Abs. 2
VRV schliesst - für den Fall eines zur Überschreitung des Grenzwertes
führenden Alkoholkonsums - den Einwand aus, wegen des zeitlichen
Ablaufs des Trinkens und des Fahrens sei die kritische Grenze der
Blutalkoholkonzentration im massgebenden Zeitpunkt noch nicht erreicht
gewesen, obschon die entsprechende Alkoholmenge im Körper vorhanden
war. Durch diese Vorschrift wird im Rahmen von Sinn und Zweck des Art. 55
Abs. 1 SVG durch den Verordnungsgeber eine Verteidigungsthese eliminiert,
die erfahrungsgemäss häufig auf eine reine Schutzbehauptung hinausläuft
und sich nicht überprüfen lässt, weil die Angaben über den Alkoholkonsum
meistens völlig unzuverlässig sind.

    Die Regelung negiert die theoretische Möglichkeit, dass der kurz
vorher genossene Alkohol sich während des zwischen Trinken und Resorption
liegenden Führens eines Motorfahrzeuges noch nicht ausgewirkt haben
könnte. Art. 55 Abs. 1 SVG gibt dem Bundesrat jedoch die Befugnis,
für die Annahme der Angetrunkenheit Vorschriften zu erlassen, welche
theoretisch vertretbare Einwände - wie Fehlen konkreter Anzeichen
einer Alkoholwirkung - ausschliessen und aus praktischen Gründen der
Blutalkoholkonzentration (bei Überschreitung des fixierten Grenzwertes) die
Funktion des massgebenden, nicht widerlegbaren Kriteriums verleihen. Indem
der Bundesrat durch die hier angefochtene Bestimmung ex lege den Einwand
der Nachresorption ausschliesst und bei Überschreitung des Grenzwertes
den Nachweis genügen lässt, dass die entsprechende Alkoholmenge im
Zeitpunkt der Fahrt schon im Körper vorhanden war, hat er den Beweis der
Angetrunkenheit in dem durch Art. 55 Abs. 1 SVG vorgezeichneten Sinne
geordnet und die Delegationsnorm nicht überschritten. Dem Betroffenen
wird zwar damit eine theoretisch vertretbare Verteidigungsmöglichkeit
aus praktischen Überlegungen abgeschnitten, aber es wird ihm nicht eine
über das Gesetz hinausgehende zusätzliche Verpflichtung auferlegt. Die
eigentliche Grundlage des Schuldvorwurfs - der unzulässige Alkoholkonsum
vor der Fahrt - steht so oder so fest; nicht zugelassen wird lediglich
der Einwand, die Alkoholmenge habe sich objektiv im massgebenden
Zeitpunkt noch nicht als den Grenzwert übersteigende Erhöhung der
Blutalkoholkonzentration auszuwirken vermögen. In welchem Zeitpunkt die
Auswirkungen der Alkoholisierung eintreten, kann im konkreten Fall weder
der Täter selber von vornherein genau wissen, noch lässt sich dies - wie
oben dargelegt wurde - gutachtlich in befriedigender Weise feststellen
(Menge und zeitlicher Ablauf des Trinkens ungewiss, individuelle
Unterschiede der Resorption usw.).

    Angetrunkenheit gestützt auf die zur Zeit des Führens sicher im
Körper bereits vorhandene (vielleicht noch nicht ganz resorbierte)
Alkoholmenge anzunehmen, wenn diese Menge zu einer den Grenzwert
übersteigenden Blutalkoholkonzentration führt, ist angesichts der erhöhten
Wirkung während der Anflutungsphase, angesichts der Verschuldenslage
und im Hinblick auf die unlösbaren Schwierigkeiten einer exakten
Beurteilung des Resorptionsvorganges rechtsstaatlich zu verantworten
(vgl. die analoge Regelung in der Bundesrepublik Deutschland: § 24a des
Strassenverkehrsgesetzes; dazu JAGUSCH, Strassenverkehrsrecht, Becksche
Kurz-Kommentare Bd. 5, 26. Aufl., S. 199 ff. insbes. S. 202). Art. 2
Abs. 2 VRV überschreitet Art. 55 Abs. 1 SVG nicht.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.