Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 II 550



108 II 550

102. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. Oktober 1982 i.S.
Basler Lebens-Versicherungs-Gesellschaft gegen N. (Berufung) Regeste

    Art. 6 VVG. Rücktritt vom Versicherungsvertrag wegen
Anzeigepflichtverletzung.

    Erteilt die Versicherung dem Arzt den Auftrag, den Fragebogen
auszufüllen, so kommt ihm die gleiche Stellung zu wie einem
von der Versicherung beauftragten Vermittlungsagenten. Dass der
Antragsteller den Arzt selber wählen konnte, ändert daran nichts. Die
Versicherungsgesellschaft muss sich daher allfällige Fehler des Arztes
anrechnen lassen.

    Ist der Antragsteller der deutschen Sprache nicht mächtig, so kann
die Versicherung aus dem Umstand, dass der Antragsteller den Fragebogen
unterschrieben hat, nicht ableiten, er bestätige, dass die vom Arzt in
das Formular eingesetzten Antworten richtig seien.

Sachverhalt

    A.- V. N., ein in Zürich wohnhafter italienischer Staatsangehöriger,
stellte am 9. März 1977 bei der Basler Lebens-Versicherungs-Gesellschaft
einen Antrag auf Abschluss einer Rentenversicherung. Danach sollte er
im Falle der Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf eine jährliche Rente von
Fr. 12'000.-- haben, und zwar nach einer Wartefrist von 90 Tagen. Unter
den gleichen Voraussetzungen sollte er auch von der Bezahlung der
Prämien befreit sein. Die Versicherung sollte am 15. März 1977 beginnen
und eine Dauer von 20 Jahren haben. Zur Prüfung des Antrages verlangte
die Versicherungsgesellschaft eine ärztliche Untersuchung. Sie liess
dem Antragsteller zu diesem Zweck ein in deutscher Sprache abgefasstes
Formular mit dem Titel "Bericht des Vertrauensarztes" zukommen und stellte
ihm die Wahl des Arztes frei. N. begab sich damit zu seinem Hausarzt,
Dr. med. V. Dieser übersetzte ihm die im Formular unter der Rubrik
"Erklärungen der zu versichernden Person" aufgeführten Fragen in die
italienische Sprache und setzte die Antworten auf deutsch ein. Dieser
Teil des Fragebogens wurde von beiden unterzeichnet, währenddem
der Arzt die Antworten auf die unter der Überschrift "Ärztliche
Untersuchung" enthaltenen Fragen allein unterzeichnete. Nach Erhalt
des Arztberichtes stellte die Versicherungsgesellschaft am 7. April 1977
die Versicherungspolice Nr. 330 557 aus, die in allen Teilen dem von N.
gestellten Antrag entsprach.

    Am 26. August 1977 meldete N. der Versicherungsgesellschaft einen
Unfall an, den er am 12. April 1977 erlitten habe. Für die dadurch
bedingte Arbeitsunfähigkeit erhielt er einen Betrag von Fr. 1'712.90
ausbezahlt. Ein am 18. Oktober 1977 angemeldeter Anspruch auf
Versicherungsleistungen wegen erneuter Arbeitsunfähigkeit veranlasste die
Versicherungsgesellschaft zu Nachforschungen betreffend eine allfällige
Verletzung der Anzeigepflicht. Mit Schreiben vom 10. April 1978 teilte sie
N. mit, dass dieser schon vor dem Abschluss des Versicherungsvertrages in
ärztlicher Behandlung gestanden sei, wovon sie bisher keine Kenntnis gehabt
habe; unter diesen Umständen habe sie das Risiko beim Vertragsschluss
nicht richtig abschätzen können. Sie sehe sich deshalb veranlasst,
jegliche Leistungen zu verweigern und gestützt auf Art. 6 VVG vom
Vertrag zurückzutreten; der von ihr bereits früher ausbezahlte Betrag
von Fr. 1'712.90 sei ihr zurückzuerstatten.

    B.- Am 24. Januar 1979 reichte V. N. beim Bezirksgericht Zürich
gegen die Basler Lebens-Versicherungs-Gesellschaft Klage ein, mit der
er vorerst das Begehren um Zusprechung einer Forderung stellte. Im
Laufe des Verfahrens wandelte er das ursprüngliche Begehren in eine
Feststellungsklage um. Er verlangte nunmehr, es sei festzustellen, dass
er gegenüber der Beklagten auf Grund des Rentenversicherungsvertrages
anspruchsberechtigt sei. Das Bezirksgericht schrieb hierauf die
ursprüngliche Klage als durch Rückzug erledigt ab. Die Feststellungsklage
hiess es mit Urteil vom 11. Dezember 1980 gut.

    Das Obergericht des Kantons Zürich wies am 9. Februar 1982 eine von
der Beklagten gegen dieses Urteil eingereichte Berufung ab und stellte
fest, dass der Kläger gegenüber der Beklagten aus dem in der Police
Nr. 330 557 verurkundeten Rentenversicherungsvertrag vom März/April 1977
anspruchsberechtigt sei.

    C.- Gegen das obergerichtliche Urteil hat die Beklagte Berufung an
das Bundesgericht erhoben, mit dem Antrag, die Klage sei vollumfänglich
abzuweisen.

    Der Kläger beantragt die Abweisung der Berufung und die Bestätigung
des angefochtenen Entscheids.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- In der Berufung wird in erster Linie gerügt, dass die Vorinstanz
das Recht der Beklagten verneinte, gestützt auf Art. 6 VVG vom
Versicherungsvertrag zurückzutreten.

    a) Im angefochtenen Urteil wird festgestellt, dass verschiedene, im
Formular "Bericht des Vertrauensarztes" enthaltene Fragen, die an den
Kläger als zu versichernde Person gerichtet waren, falsch beantwortet
wurden. So fehlte nicht nur eine Angabe über die ärztliche Behandlung
des Klägers wegen Lumboischialgie, sondern es wurde die Frage nach einem
allfälligen Spitalaufenthalt des Klägers zu Unrecht verneint. Der Kläger
war seit Februar 1974 wegen Rückenbeschwerden in der Orthopädischen
Universitätsklinik Balgrist in Behandlung gestanden; es war ihm dort
eine physikalische Therapie verordnet worden, und vom 18. Mai bis
5. Juni 1976 war er sogar dort hospitalisiert gewesen. Im Zeitpunkt der
Fragenbeantwortung lag dieser Klinikaufenthalt weniger als ein Jahr
zurück, so dass der Kläger und sein Arzt sich damals zweifellos noch
daran erinnerten oder erinnern mussten.

    Was die Ausfüllung des Formulars "Bericht des Vertrauensarztes"
anbetrifft, wird im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass der Arzt
dem Kläger die im Fragebogen auf deutsch formulierten Fragen in dessen
italienischer Muttersprache wiedergegeben habe, wobei nicht sicher sei,
ob dies auch hinsichtlich der unrichtig beantworteten Fragen geschehen
sei. Die Glaubwürdigkeit des Arztes sei mehr als fragwürdig. Dieser
hätte bei der Ausfüllung des Fragebogens die Krankengeschichte des
Klägers konsultieren müssen, habe dies aber zugegebenermassen nicht
getan. Ein Arzt, der derart unsorgfältig vorgehe, sei im höchsten Grad
unglaubwürdig, besonders wenn seine Aussagen wie im vorliegenden Fall
unsicher und teilweise widersprüchlich seien. Auf Grund der lückenhaften
und unglaubwürdigen Aussagen des Arztes könne nicht mehr festgestellt
werden, ob der Kläger die Erkrankung und Hospitalisierung verschwiegen
oder ob er den Arzt darauf hingewiesen habe. Was die Sprachkenntnisse
des Klägers anbelange, sei auf Grund von Zeugenaussagen davon auszugehen,
dass der Kläger nicht Deutsch verstehe.

    Über die Rechtsbeziehungen zwischen dem Arzt und den beiden Parteien
wird im angefochtenen Urteil folgendes ausgeführt: Obwohl der Arzt vom
Kläger ausgewählt worden sei, habe er mit der Übergabe des Formulars
"Bericht des Vertrauensarztes" die Stellung eines unabhängigen Gutachters
erhalten, der eine selbständige Aufgabe zu erfüllen gehabt habe. Die
Beantwortung der von der Beklagten gestellten Fragen sei zu deren Handen
und mindestens vorwiegend auch in deren Interesse erfolgt. Sei aber der
Arzt nicht Hilfsperson des Klägers, sondern ein unabhängiger Dritter
gewesen, so müsse sich der Kläger dessen Fehlleistungen nicht anrechnen
lassen. Dies sei um so mehr gerechtfertigt, als es nicht angehe, dass die
Versicherungsgesellschaft es dem Versicherungsnehmer freistelle, einen von
ihm gewählten Arzt beizuziehen, und auf diese Weise die Verantwortung auf
den Versicherungsnehmer abschiebe; die Versicherungsgesellschaft müsse
sich vielmehr den Titel des Formulars entgegenhalten lassen.

    Die Vorinstanz gelangte zum Schluss, es sei nicht sicher, ob der Kläger
sich über den Sinn und die Bedeutung der Fragestellung überhaupt im klaren
gewesen sei. Habe er aber die Tragweite seiner Erklärungen nicht verstanden
oder lasse sich wenigstens nicht nachweisen, dass er sie verstanden habe,
so könne von einer wissentlichen Verletzung der Deklarationspflicht nicht
die Rede sein.

    b) Das Rücktrittsrecht des Versicherers setzt nach Art. 6 VVG voraus,
dass der Anzeigepflichtige eine erhebliche Gefahrstatsache, die er kannte
oder kennen musste und die Gegenstand einer schriftlichen Frage des
Versicherers im Sinne von Art. 4 VVG bildete, unrichtig mitgeteilt oder
verschwiegen hat. Soweit in der Berufung ausgeführt wird, der Kläger
wäre verpflichtet gewesen, dem Arzt gegenüber die "Erklärungen der zu
versichernden Person" richtig zu beantworten, und es stehe fest, dass
er dies nicht getan habe, handelt es sich um eine unzulässige Kritik
an dem für das Bundesgericht verbindlich festgestellten Sachverhalt
(Art. 63 Abs. 2 und Art. 55 Abs. 1 lit. c OG). Die Vorinstanz ist in
Würdigung der Aussagen des Zeugen Dr. V. zum Schluss gelangt, es lasse
sich nicht mehr feststellen, ob der Kläger den Arzt auf die Erkrankung
und Hospitalisierung hingewiesen habe. Sie hat somit den Beweis dafür,
dass der Kläger dem Arzt falsche Angaben gemacht oder etwas verschwiegen
habe, als nicht geleistet betrachtet. Diese Beweiswürdigung könnte in
einer Berufung an das Bundesgericht selbst dann nicht in Frage gestellt
werden, wenn sie geradezu willkürlich wäre. Für einen solchen Fall bleibt
ausschliesslich die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von
Art. 4 BV vorbehalten. Auf die Ausführungen der Beklagten zur Würdigung der
Aussagen des Zeugen Dr. V. ist daher nicht näher einzugehen. Unbeachtlich
ist auch der Einwand, der Kläger habe nie behauptet, den Arzt auf
die Erkrankung und Hospitalisierung hingewiesen zu haben. Es ist eine
Frage des kantonalen Prozessrechts, inwieweit der Richter auf Umstände
abstellen darf, die von keiner Partei behauptet worden sind. Eine
ungerechtfertigte Anwendung der Offizialmaxime könnte höchstens auf dem
Wege einer staatsrechtlichen Beschwerde wegen willkürlicher Anwendung des
kantonalen Prozessrechts gerügt werden. Und was schliesslich die Beweislast
für die Verletzung der Anzeigepflicht anbetrifft, geht die Beklagte fehl,
wenn sie ausführt, diese habe den Kläger getroffen. Da die Beklagte aus
der von ihr geltend gemachten Anzeigepflichtverletzung Rechte ableitet,
obliegt ihr der Beweis dafür, dass der Kläger die Deklarationspflicht
verletzte (ROELLI-KELLER, Kommentar zum VVG, Bd. I, S. 125F f.).

    c) Ist es aber nach der im vorliegenden Verfahren nicht überprüfbaren
Auffassung des kantonalen Richters möglich, dass die Falschbeantwortung
der im "Bericht des Vertrauensarztes" enthaltenen Fragen auf ein Versehen
des Arztes, der den Fragebogen ausfüllte, zurückzuführen war, so ist zu
prüfen, ob ein allfälliges Fehlverhalten des Arztes dem Kläger anzurechnen
sei. Dies wird in der Berufung im Gegensatz zum angefochtenen Urteil
bejaht. Es wird geltend gemacht, der Arzt habe als Beauftragter des
Klägers bzw. als dessen Hilfsperson gehandelt.

    Der in diesem Zusammenhang erfolgte Hinweis der Beklagten auf BGE
52 II 297 f. ist nicht stichhaltig. Im dort beurteilten Fall hatte
der Arzt die im Fragebogen des Versicherers enthaltenen Fragen im
Einverständnis des Antragstellers diesem vorgelesen und die Antworten
niedergeschrieben. Wenn das Bundesgericht den Arzt diesbezüglich als
Beauftragten des Antragstellers bezeichnete, so deshalb, weil der Arzt
eine Aufgabe übernommen hatte, die normalerweise dem Antragsteller
oblag. Im vorliegenden Fall verhielt es sich jedoch anders. Aus dem
Formular, das die Beklagte dem Kläger zuhanden des Arztes zukommen liess,
geht hervor, dass nicht nur die Antworten auf die Fragen im Zusammenhang
mit der ärztlichen Untersuchung, sondern auch jene, die unter dem Titel
"Erklärungen der zu versichernden Person" einzusetzen waren, vom Arzt
niederzuschreiben waren. Es war somit der Wille der Beklagten, dass der
Arzt den Fragebogen ausfülle. Wenn Dr. V. dieser Aufforderung nachkam,
handelte er diesbezüglich im Auftrag der Beklagten. Dass die Beklagte
die Auswahl des Arztes dem Kläger überlassen hatte, vermag daran nichts
zu ändern. Dr. V. ist trotzdem als Vertrauensarzt der Beklagten tätig
geworden. Die Vorinstanz hat deshalb die Ausführungen in BGE 72 II 130
f. E. 4 über die Rechtsstellung des Vertrauensarztes des Versicherers zu
Recht auch im vorliegenden Fall als massgebend betrachtet. Dem Arzt kam
somit in bezug auf die Ausfüllung des Formulars die gleiche Rechtsstellung
zu wie einem vom Versicherer beauftragten Vermittlungsagenten (vgl. auch
ROELLI-KELLER, aaO, S. 95 oben). Dies führt dazu, dass sich die Beklagte
allfällige Fehler des Arztes grundsätzlich anrechnen lassen muss.

    d) Nun hat der Kläger den vom Arzt ausgefüllten Fragebogen allerdings
mitunterzeichnet, und zwar unterhalb folgender Erklärung, die auf dem
Formular enthalten war:

    "Ich erkläre hiermit, dass ich die vorstehenden Fragen in Gegenwart
   des Arztes wahrheitsgetreu beantwortet und nichts verschwiegen
   habe. ..."

    Nach der Rechtsprechung hat sich der Befragte über die richtige
Ausfüllung des Fragebogens durch den Arzt zu vergewissern und darf
die Augen vor einer unrichtigen Angabe nicht verschliessen (BGE 72
II 132). Diese Pflicht setzt jedoch voraus, dass dem Befragten eine
solche Nachkontrolle überhaupt möglich ist, d.h. dass er die Fragen
und die vom Arzt eingesetzten Antworten lesen und verstehen kann (vgl.
KIENTSCH, Die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Arztes gegenüber
dem privaten Versicherer, Diss. Bern 1967, S. 76). Im vorliegenden Fall
ist auf Grund der für das Bundesgericht verbindlichen Feststellung der
Vorinstanz davon auszugehen, dass der Kläger der deutschen Sprache nicht
mächtig war. Unter diesen Umständen war es ihm aber nicht möglich, eine
Nachprüfung vorzunehmen und die falsche Beantwortung einzelner Fragen
zu erkennen. Die Beklagte kann deshalb aus dem Umstand, dass der Kläger
den Fragebogen unterschrieb, nichts zu ihren Gunsten ableiten. In einem
solchen Fall trifft den Vertrauensarzt oder Agenten des Versicherers die
alleinige Verantwortung für die richtige Ausfüllung des Fragebogens. Eine
Verletzung der Anzeigepflicht läge nur vor, wenn nachgewiesen wäre, dass
der Antragsteller die ihm vom Arzt oder Agenten gestellten Fragen diesem
gegenüber falsch beantwortet hätte. Das ist hier nicht der Fall. Mit
der von ihm unterzeichneten Erklärung bescheinigte der Kläger nur, die
im Fragebogen enthaltenen Fragen in Gegenwart des Arztes wahrheitsgetreu
beantwortet und nichts verschwiegen zu haben. Den Nachweis, dass der Kläger
die ihm vom Arzt gestellten Fragen nicht wahrheitsgemäss beantwortet habe,
konnte die Beklagte nicht erbringen. Aus seiner Unterschrift konnte sie
unter den gegebenen Umständen nicht ableiten, dass der Kläger die vom Arzt
eingesetzten Antworten als richtig bestätige. Die vorgedruckte Erklärung
enthielt übrigens auch keine dahingehende Aussage.

    Fehlt es aus den dargelegten Gründen am Nachweis einer Verletzung
der Anzeigepflicht durch den Kläger, hat die Vorinstanz Art. 6 VVG nicht
verletzt, wenn sie feststellte, dass die Beklagte nicht berechtigt war,
von dem mit dem Kläger abgeschlossenen Versicherungsvertrag zurückzutreten.