Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 108 II 419



108 II 419

81. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 14. Dezember 1982
i.S. A. gegen B. (Berufung) Regeste

    Vertragsanfechtung und Schadenersatzanspruch wegen absichtlicher
Täuschung, Haftung für Täuschungshandlungen eines Abschlussgehilfens.

    Die getäuschte Partei kann ihre Schadenersatzforderung sowohl aus
unerlaubter Handlung wie aus culpa in contrahendo ableiten. Bei der culpa
in contrahendo richtet sich die Haftung für Hilfspersonen nach Art. 101 OR.

Sachverhalt

    A.- Frau A. vermietete B. mit Vertrag vom 5. Oktober 1977 Räume zum
Betrieb eines Restaurants für die Zeit bis 30. Juni 1983. Anlässlich der
Vertragsverhandlungen, die Frau C. im Auftrag von Frau A. geführt hatte,
war B. der durchschnittliche Jahresumsatz mit bisher Fr. 400'000.--
angegeben und das Restaurant als "Goldgrube" bezeichnet worden. Nachdem
sich herausgestellt hatte, dass dieser Umsatz nicht zu erzielen war,
und Verhandlungen über eine Änderung des Mietvertrages zu keinem Ergebnis
geführt hatten, gab B. der Vermieterin am 2. August 1978 bekannt, dass er
den Vertrag wegen absichtlicher Täuschung als unverbindlich betrachte. Frau
A. hielt an der Verbindlichkeit des Mietvertrages fest und lehnte den
Vorschlag des Mieters, das Restaurant bis Ende März 1979 weiterzuführen,
ab. B. gab das Mietobjekt Ende März 1979 zurück.

    Im August 1979 klagte B. beim Bezirksgericht St. Gallen gegen Frau
A. auf Zahlung von Fr. 180'000.-- nebst Zins. Er behauptete, wegen der
absichtlichen Täuschung einen Schaden in dieser Höhe erlitten zu haben. Das
Bezirksgericht hiess die Klage am 7. Mai 1981 gut.

    Gegen dieses Urteil appellierte die Beklagte beim Kantonsgericht
St. Gallen. Das Kantonsgericht erliess am 28. Mai 1982 einen
Beweisbeschluss, welchen die Beklagte mit Berufung anfocht. Das
Bundesgericht heisst die Berufung teilweise gut, hebt den angefochtenen
Entscheid auf und weist die Sache zu neuer Entscheidung im Sinne der
Erwägungen an das Kantonsgericht zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

                      Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- (Feststellung, dass B. anlässlich der Vertragsverhandlungen von
Frau C. absichtlich getäuscht worden ist und den Vertrag nicht nachträglich
genehmigt hat. E. 4: Ablehnung der Auffassung des Kantonsgerichts, die
Parteien hätten sich nach der Vertragsanfechtung am 2. August 1978 darauf
geeinigt, der Kläger führe das Restaurant bis Ende März 1979 weiter und
erhalte von der Beklagten den ihm bis zu diesem Zeitpunkt entstandenen
Schaden ersetzt.)

Erwägung 3

    3.- (Dasselbe)

Erwägung 5

    5.- Das Kantonsgericht bejaht für die Zeit bis 2. August 1978 eine
Haftung der Beklagten aufgrund von Art. 55 OR. Die Beklagte vertritt
demgegenüber die Meinung, dass sie gegenüber Frau C. nicht die Stellung
einer Geschäftsherrin im Sinne dieser Bestimmung eingenommen habe und
es ihr zudem gelungen sei, den Entlastungsbeweis zu erbringen. Auch der
Kläger spricht sich in der Berufungsantwort gegen die Anwendbarkeit des
Art. 55 OR aus.

    Die Vorinstanz geht zu Recht und unwidersprochen davon aus,
dass Frau C. nicht als Dritte im Sinne des Art. 28 Abs. 2 OR,
sondern als Abschlussgehilfin der Beklagten zu betrachten ist, und
ihre Täuschungshandlungen darum der Beklagten als eigenes Verhalten
anzurechnen sind (BGE 81 II 217 E. 2a, 63 II 78 E. 2 mit Hinweisen). Die
Auffassung der Vorinstanz, der Schadenersatzanspruch des Getäuschten
müsse ausschliesslich nach den Regeln über die ausservertragliche
Haftung beurteilt werden und es sei insbesondere Art. 55 OR anzuwenden,
ist dagegen in der Lehre umstritten. Zwar besteht insoweit Einigkeit,
als angenommen wird, eine absichtliche Täuschung stelle grundsätzlich
immer auch eine unerlaubte Handlung dar (GUHL/MERZ/KUMMER, 7. Aufl.,
S. 130; OSER/SCHÖNENBERGER, N. 31 zu Art. 31 OR; BUCHER OR Allg. Teil,
S. 196). Verschiedene Autoren weisen indessen darauf hin, dass der
Täuschende zugleich die Sorgfaltspflicht verletzt, die ihm mit der Aufnahme
der Vertragsverhandlungen erwächst. Engel vertritt darum die Ansicht, die
getäuschte Partei könne ihren Anspruch wahlweise auf culpa in contrahendo
oder ausservertragliche Haftung abstützen, ausser wenn die Täuschung
nicht von der Gegenpartei, sondern von einem Dritten ausgegangen sei
(Traité des obligations, S. 245). Nach VON TUHR/PETER beruht die Haftung
im Fall, dass die Partei oder ihr Abschlussgehilfe getäuscht haben, auf dem
"quasikontraktlichen Rechtsverhältnis, das durch die Vertragsverhandlungen
begründet wird" (S. 339). Auch Bucher erklärt hinsichtlich Art. 31 Abs. 3
OR die Grundsätze der culpa in contrahendo oder der ausservertraglichen
Haftung für anwendbar (aaO, S. 195).

    Ebenfalls umstritten ist, ob für die culpa in contrahendo
die Bestimmungen über die Deliktshaftung oder diejenigen über die
Vertragshaftung entsprechend anzuwenden sind. Das Bundesgericht hat in BGE
90 II 458 eine vertragsähnliche Haftung angenommen, später dann aber die
Frage offen gelassen und sich darauf beschränkt, die Anspruchsverjährung
nach Art. 60 OR zu beurteilen (BGE 101 II 269 E. 4c, 104 II 94). Zur
Regelung der Haftung für Hilfspersonen hatte es bis heute noch nicht
Stellung zu nehmen. Die Lehre spricht sich diesbezüglich überwiegend
für die Anwendung von Art. 101 OR aus (VON TUHR/PETER, S. 193 und 318;
SCHÖNENBERGER/JÄGGI, N. 594 zu Art. 1 OR; ENGEL, aaO, S. 506; BUCHER,
aaO, S. 255). Dem ist für den vorliegenden Fall beizustimmen. Es wäre
widersprüchlich und mit sachlichen Gründen kaum zu rechtfertigen, der
Beklagten einerseits die Täuschungshandlungen ihrer Abschlussgehilfin wie
eigene anzurechnen, ihr aber andererseits zu gestatten, sich der darauf
beruhenden Haftung durch den Entlastungsbeweis gemäss Art. 55 Abs. 1 OR
zu entziehen.

    Die Beklagte ist somit grundsätzlich zum Ersatz des Schadens
verpflichtet, der dem Kläger daraus entstanden ist, dass er durch
die absichtliche Täuschung zum Abschluss des Mietvertrages veranlasst
worden ist.